V ittoria Russo ist völlig geschockt. Anders kann ich sie nicht beschreiben. Sie ist hübsch, sogar so verängstigt. Sie besitzt immer noch diese großen blauen Augen, an die ich mich so lebhaft erinnere, und trägt ein teures Kleid, teure Schuhe und eine teure Tasche. Alles Designerware. Geld. Sie hat viel davon. Von Daddys kleiner Prinzessin würde ich nichts anderes erwarten.
Sie versucht sofort, den SUV auf der anderen Seite wieder zu verlassen, aber mein Bruder, der ihn gerade von außen geöffnet hat, setzt sich neben sie. Er wirft ihr ein böses Grinsen zu und sie rutscht von ihm weg, was nur dazu führt, dass sie ihren Oberschenkel gegen meinen drückt. Ich lege eine Hand auf ihr Bein.
„Entspann dich. Du wirst nirgendwo hingehen.“
Sie ist wie erstarrt zwischen uns und umklammert irgendwie immer noch ihre Tasche. Ich nehme sie ihr ab und werfe sie auf den Vordersitz, als wir uns auf den Weg zum Friedhof machen, auf dem Geno Russo verrotten wird. Die Fahrt dorthin dauert etwa zwanzig Minuten am Stadtrand entlang.
Ich schiebe ein neues Magazin in meine Glock und stecke sie in ihr Schulterholster. Es war sehr befriedigend, meine Waffe in Geno Russos Körper zu entleeren. Nicht halb so befriedigend, wie es gewesen wäre, hätte er noch geatmet, aber es war immerhin etwas.
Niemand spricht, und als wir ankommen, sträubt sich das Mädchen, als ich sie auffordere, aus dem Fahrzeug zu steigen, also nehme ich ihren Arm und ziehe sie über den Ledersitz. Sie klammert sich an die Kopfstütze des vorderen Sitzes, aber es ist nicht schwer, sie herauszuholen, und als ich es geschafft habe, lasse ich sie auf ihren Hintern auf den Boden fallen.
Die Männer in den anderen SUVs kommen an und die Sargträger bringen den Sarg bereits in Richtung des ausgehobenen Lochs.
„Willst du nicht sehen, wie Daddy beerdigt wird? Bist du nicht deshalb den ganzen Weg hierher gekommen?“, frage ich sie.
Wir starren einander an. Ich kann ihr Gesicht hinter dem Netz des Hutes nicht ganz erkennen, also greife ich nach unten und ziehe ihn weg.
Sie schreit auf, als die Haarnadeln herausgerissen werden. Ich werfe den Hut zur Seite. Sie reibt sich über den Kopf und begegnet meinem Blick mit diesen blauen Augen, die sich vor so vielen Jahren in mein Gedächtnis eingebrannt haben. Es ist seltsam, sie persönlich zu sehen. In den letzten Jahren habe ich sie meistens online oder in Zeitschriften gesehen. Russo versuchte, zum seriösen Geschäftsmann zu werden, sich von seinen Verbindungen zur Mafia zu lösen, und seine schöne Tochter war ein Teil des Plans. Aber er schaffte es nie ganz, den Schmutz unter seinen Fingernägeln loszuwerden. Er war ein Verbrecher durch und durch. Er und sein Sohn. So etwas kann man nicht einfach wegwaschen.
„Steh auf“, sage ich zu ihr, aber sie bewegt sich nicht, also beuge ich mich über sie und ziehe sie auf die Beine.
Sie hat Glück, dass es hier schon lange nicht mehr geregnet hat, sonst wäre das teure Kleid jetzt voller Schlamm. Sobald sie aufgestanden ist, schlüpft sie wieder in ihren Schuh. Er muss ihr runtergerutscht sein, als ich sie fallen ließ.
„Wo ist Pater Paolo?“, fragt sie und sieht sich um. Ihre ersten Worte überhaupt an mich. Ich erinnere mich noch daran, wie sie an diesem Tag vor so langer Zeit sprach. Sie hielt einen Strauß Löwenzahn hoch, den sie in unserem Garten gepflückt hatte. Unkraut, das sie für Osterglocken gehalten hatte.
„Pater Paolo wird leider nicht anwesend sein“, sage ich zu ihr und führe sie in Richtung des Lochs.
„Was habt ihr mit ihm gemacht? Wir brauchen einen Priester. Die Zeremonie –
„Genau dieser Priester hat sich eine Stunde vor der Beerdigung von seiner Geliebten einen blasen lassen. Aber mach dir keine Sorgen, wir werden ein paar Worte sagen.“ Ich bleibe am Fuß des Grabes stehen.
„Verdammt, ist der Scheiß schwer“, beschwert sich mein Bruder, während er und ein anderer Mann den zerstörten Deckel des Sarges komplett öffnen. Bastian greift in den Sarg und einen Moment später wirft er mir Russos Ring mit den Insignien zu, an die ich mich so gut erinnere.
Ich fange ihn mit einer Hand auf, werfe einen kurzen Blick darauf und stecke ihn dann in meine Tasche.
„Oh Gott“, stößt Vittoria Russo hervor und drückt sich eine Hand vor den Mund.
„Wenn dir schon schlecht wird, dann nicht auf meine Schuhe“, sage ich.
Sie antwortet nicht, und ihr wird auch nicht schlecht, als mein Bruder Bastian mich ansieht und ich ihm zunicke.
„Verrotte in der Hölle, du Wichser“, sagt Bastian.
„Wie versprochen, sagen wir ein paar Worte“, sage ich zu ihr, als Bastian und zwei andere den Sarg kippen, der von Kugeln zerfetzte Körper ihres Vaters herausfällt und mit einem dumpfen Schlag mit dem Gesicht nach unten auf der Erde landet.
Das Mädchen schreit auf. Es ist eine Mischung aus einem „Nein“ und einem erstickten Schluchzen.
Ich lege meine Hand auf ihren Rücken, um ihr einen kleinen Schubs zu geben, und sie wirbelt herum, um mich wegzustoßen.
„Was ist das Problem? Willst du nicht zu deinem geliebten, toten Daddy?“
„Was zum Teufel stimmt nicht mit euch? Ich weiß nicht einmal, wer ihr seid!“
Ich lehne mich zu ihr, wobei ich sie überrage. Mit ihren knapp eins siebzig und den hohen Absätzen reicht sie mir fast bis zum Kinn. „Bist du dir da sicher, Pusteblume?“
Sie blinzelt und sieht mich durch dichte, tränennasse Wimpern an.
Ich drehe mich von ihr weg zum Grab und verabschiede mich persönlich von Russo, indem ich ihm eine Ewigkeit in der Hölle wünsche für das, was er unserer Familie angetan hat. Dann blicke ich zu dem Mann, der die Kamera hält. Es ist einer unserer Jungs – ich schätze, seine sind etwas zu zart besaitet. Und jetzt wende ich mich an Lucien Russo, Genos Sohn. Der Mann, der das alles vor fünfzehn Jahren in Gang setzte.
„Du bist als Nächster dran, du Bastard“, sage ich. Dann wird die Kamera ausgeschaltet und ich wende mich dem Mädchen zu. Sie starrt immer noch mit großen Augen und tränenüberströmtem Gesicht auf das Grab ihres entweihten Vaters, während meine Männer damit beginnen, Erde aufzufüllen. „Wir sind hier fertig.“ Ich lege einen Arm um ihre Mitte und führe sie zum wartenden SUV. Als sie sich wehrt, hebe ich sie einfach hoch, drücke sie mit dem Rücken an meine Seite und trage sie. Sie ist leicht. Leichter als ich erwartet habe. Aber sie ist eine Kämpferin.
„Halt still“, befehle ich und halte inne, um sie fester an mich zu drücken, als sie mir gegen das Schienbein tritt. „Zwing mich nicht, dich zu bestrafen. Ich verspreche dir, das wird dir nicht gefallen.“
Sie rammt mir ihren Ellbogen in den Bauch und spuckt, trifft mich aber nicht.
Ich schüttle den Kopf, trage sie den Rest des Weges zum Auto und stoße sie gegen das Metall. Mit einer Hand in ihren Haaren ziehe ich ihren Kopf nach hinten. Sie verzieht das Gesicht, starrt mich aber mit tödlichen Blicken an.
„Ich werde mich noch daran erinnern, wenn wir uns das nächste Mal treffen.“
„Lass mich los.“
Ich mustere ihr Gesicht und beobachte, wie eine Träne aus ihrem Augenwinkel entkommt. Ihr Mund ist offen, die Lippen sind dunkelrot. „Oder was?“
Ihre Hand gleitet über meine Brust und schlüpft unter meine Jacke. Ich grinse und fange ihr Handgelenk ab, gerade als sie die Finger um den Griff meiner Glock legt.
„Oder was?“, frage ich erneut mit ruhiger Stimme, drücke ihre Hand von der Pistole weg und halte die kleine Faust, die sie zwischen uns formt, fest und drücke sie zusammen.
„Du brichst mir die Finger“, stößt sie hervor. Ihr Ton verrät ihre Panik, auch wenn sie versucht, wütend zu klingen.
„Lieber deine Finger als dein Hals.“
Sie schluckt schwer, als ich ihren Kopf noch weiter nach hinten ziehe. Ich tue ihr weh. Ich sehe es.
„Lass mich los.“
„Sag bitte.“
„Bitte!“, schreit sie. Es ist das erste Mal von vielen, dass sie betteln wird.
Ich lächle und lockere meinen Griff um ihre Haare und ihre Hand. Dann lasse ich sie los, bleibe aber nahe bei ihr und öffne die Tür des SUVs. „Steig ein.“
Sie wirft einen Blick auf das Fahrzeug, auf die in der Nähe stehenden Soldaten und dann wieder auf mich.
„Steig in das verdammte Auto.“
Sie wirft einen Blick über meine Schulter auf das Grab, sieht dann wieder zu mir und in ihren Augen flackert kurz die Panik auf, bevor sie sie verbergen kann. „Wo bringst du mich hin?“
„Sei froh, dass ich dich nicht hier lasse, denn sonst wärst du schon unter der Erde.“ Ich deute auf den Rücksitz des SUVs.
Sie runzelt die Stirn, studiert mein Gesicht und dreht sich dann um, um in den Wagen zu steigen.
Gut. Sie wird lernen zu gehorchen. Sie ist es gewohnt, Befehle zu erteilen, anstatt sie auszuführen, aber das werde ich ihr austreiben. Ich trete zur Seite und gebe zwei Soldaten ein Zeichen, sich für die Fahrt zur Villa in Ravello hinten neben sie zu setzen. Ich schließe die Tür, gerade als mein Bruder auf mich zukommt und einen Arm um meine Schultern legt. Wir sehen zu, wie das Auto verschwindet, aber die Scheiben sind zu dunkel, um das Mädchen zu sehen.
„Wir hätten sie mit ihm dort reinwerfen sollen“, sagt Bastian.
„Noch nicht. Du weißt, was wir tun müssen.“
Er sieht nicht überzeugt aus.
„Geduld, Bruder.“ Ich sehe Bastian an. Er ist fünf Jahre jünger als ich, und obwohl seine Wut meiner gleicht, ist er unbesonnen. Wenn es nach ihm ginge, läge sie wahrscheinlich auch in diesem Grab, aber für die hübsche Vittoria Russo ist es noch zu früh zum Sterben. „Wenn wir mit ihr fertig sind, wird sie ihrem Vater folgen. Aber sie hat noch einen Zweck zu erfüllen.“