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VITTORIA

A m nächsten Morgen werde ich von zwei Männern die Treppe hinunter begleitet. Sie führen mich gerade zur Haustür, als sich die Küchentür öffnet und eine Frau, die von gestern, leise summend herausspaziert kommt. Als sie mich sieht, bleibt sie stehen und schnappt nach Luft, als wäre sie erschrocken. Ich kenne sie nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie noch nie zuvor gesehen habe.

„Weitergehen“, befiehlt der Wachmann so leise, dass sie ihn nicht hören kann.

„Bist du Hannahs Freundin?“, fragt die Frau und macht einen zaghaften Schritt auf mich zu, hält aber inne, während sie zu den Männern auf beiden Seiten von mir aufschaut. Hat sie Angst vor ihnen?

„Ich bin Vittoria“, sage ich mit einem so warmen Lächeln, wie ich es nur kann. Es ist offensichtlich, dass mit ihr etwas nicht stimmt.

„Du bist das Mädchen, das Pusteblumen mag.“ Wieder Löwenzahn. Sie lächelt, aber es ist ein seltsames, zögerliches Lächeln, als wäre sie sich unsicher. „Ich weiß, wo sie wachsen.“

„Ich dachte früher, es wären Osterglocken“, sage ich und erinnere mich an meine Mutter, die jeden Strauß Löwenzahn, den ich pflückte, in eine hübsche Vase stellte.

„Sie sind beide gelb. Hast du schon gefrühstückt?“

Die Hand des Wächters drückt meinen Arm fester und ich schaue zu ihm auf. Er hat eindeutig die Anweisung, diese Frau nicht aufzuregen. „Ich habe noch nicht gefrühstückt und ich bin ziemlich hungrig“, sage ich. Das bin ich nicht, aber ich bin neugierig.

„Dann komm und frühstücke mit mir. Francesca wird auch bald hier sein. Sie hat verschlafen.“

„Das würde mich freuen“, antworte ich.

Der Wachmann räuspert sich und lässt mich nicht los, als ich einen Schritt auf die Frau zumache, aber gerade als ich das tue, öffnet sich eine weitere Tür und Bastian betritt den Korridor. Er hält kurz inne, als er die Szene vor sich wahrnimmt, und tritt schnell an die Seite seiner Mutter.

Mit einem strahlenden Lächeln wendet sie sich ihm zu. „Du hast auch verschlafen“, sagt sie zu ihm und umarmt ihn. „Hast du Hunger? Wir können alle zusammen frühstücken. Wäre das nicht schön? Und wenn Hannah aufwacht –“

„Hannah ist nicht hier, Mom, erinnerst du dich?“, sagt er abrupt und sieht mich mit hartem Blick an. Er neigt den Kopf zur Haustür, und der Soldat zieht mich dorthin. Bastian dreht seine Mutter zurück zur Küche und lächelt sie an, bevor er mich mit einem mörderischen Blick anschaut, bevor ich zur Haustür und dem wartenden SUV geführt werde.

Ich vermute, dass ihre Mutter an einer Art Demenz leidet. Sie scheint nicht viel älter als sechzig zu sein. Das ist zu jung für die Krankheit. Sie glaubt, Hannah sei noch am Leben. Und sie erinnert sich an den Löwenzahn. Ich glaube, sie war an diesem Tag auch in der Küche. Aber ich erinnere mich nicht an sie.

Meine Aufmerksamkeit wird jedoch dadurch abgelenkt, dass ich, ähnlich wie an dem Tag, an dem sie mich in dieses Haus brachten, zu einem großen, eingezäunten Herrenhaus mit Blick auf das Meer im Stadtteil Chiaia in Neapel gefahren werde. Viele dieser alten Paläste wurden in Apartmenthäuser umgewandelt, aber dieses hier ist ein richtiges Wohnhaus. Ich betrachte die schönen Steinmauern und den üppigen grünen Garten. Es kommt mir bekannt vor, und mir wird klar, dass ich es schon einmal in einer Zeitschrift für Luxuswohnungen gesehen habe. Mein Bruder hatte das Haus kommentiert, als ich durch die Seiten blätterte. Er kannte den Namen des Besitzers und behauptete, es handele sich um einen Mafiaboss. Ich hatte nicht weiter darauf geachtet und ihm gesagt, dass er sich irrt, und damit war das Thema abgeschlossen. Er hatte wohl die ganze Zeit recht.

Der SUV hält an und ich steige aus, als der Soldat die Hintertür öffnet. Es muss nicht sein, dass sie mich herumschubsen, aber einer nimmt trotzdem meinen Arm. Was diese Männer angeht, führt wohl kein Weg daran vorbei.

Ich denke darüber nach, was Amadeo gestern Abend darüber gesagt hat, dass sie mich beschützen, während ich zu den Riesen auf beiden Seiten von mir aufschaue, zu dem Tor, das bereits hinter mir geschlossen ist, und zu den Männern, die dort Wache stehen. Sie fuchteln zwar nicht mit Maschinengewehren herum, aber ich bin mir sicher, dass sie gut ausgerüstet sind.

„Beweg dich“, sagt der riesige Gorilla zu meiner Rechten, als ich stolpere. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die Vorderseite des Hauses, als die Tür von einer Frau in Uniform geöffnet wird und wir eintreten. Ich habe kaum Gelegenheit, mich umzusehen, denn ich werde zu den Marmortreppen geführt, die im Vergleich zu der geschwungenen Treppe in der Villa in Ravello schlicht, aber dennoch beeindruckend sind. Ich möchte mich umsehen und die Geschichte des Hauses auf mich wirken lassen, denn obwohl es modernisiert wurde und zeitgenössische Elemente aufweist, hat man es geschafft, die historischen Aspekte zu erhalten.

Der Eingangsbereich ist lang und geräumig, und die Decken sind bestimmt drei Meter hoch. Und von jedem Fenster aus sehe ich die Sonne auf dem Wasser der Riviera di Chiaia glitzern.

„Beweg dich“, sagt Gorilla Nummer zwei, als ich innehalte und aus dem großen Bogenfenster im entferntesten Raum schaue.

„Mache ich doch“, erwidere ich und versuche, so langsam wie möglich die Treppe hinaufzusteigen.

Oben im Flur gibt es sechs Türen, und ich werde zu einer ganz am Ende geführt, wo Gorilla Nummer eins die Tür aufschließt und mir mit einer Geste zu verstehen gibt, dass ich eintreten soll.

Ich tue es und drehe mich zu ihm um. „Wo ist Amadeo?“, frage ich, als er die Tür schließen will. „Hey!“ Ich versuche, ihn davon abzuhalten, sie zuzuziehen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er mir einfach die Finger einklemmen würde, also lasse ich sie los, bevor sie zugeht, und höre, wie ich eingeschlossen werde. Mal wieder.

Also gut.

Ich drehe mich um und blicke in den Raum. Es ist ein großes, wunderschön eingerichtetes Zimmer im italienischen Stil mit antiken und modernen Möbeln, die wunderbar zusammenpassen. Das Himmelbett aus Mahagoni in der Mitte hat ein kunstvoll geschnitztes Kopfteil und Pfosten. Es sieht aus, als wäre es etwa hundert Jahre alt. Die Bettwäsche, die Vorhänge und der Teppich sind alle dunkel und sehr maskulin. Einen Moment lang frage ich mich, ob es das Schlafzimmer von Amadeo oder Bastian ist, aber ich sehe keine persönliche Note. Das Bücherregal ist leer, genauso wie der begehbare Kleiderschrank. Ich setze mich auf die Bettkante, um die Matratze zu testen. Sie ist bequem, genauso wie die Kissen, im Gegensatz zu meinem Gefängnis auf dem Hügel. Wenn das ein Gästezimmer ist, frage ich mich, wie die anderen Zimmer in diesem Haus aussehen.

Der beste Teil des Zimmers ist jedoch mein Koffer, der offen auf einem Gepäckständer auf der anderen Seite des Zimmers liegt.

Ich springe auf und gehe dorthin, ohne die Balkontüren zu beachten, die auf einen Balkon mit Blick auf die Gärten und das Meer dahinter führen. Ich trage immer noch das Kleid, das ich bei der Beerdigung anhatte, und obwohl ich nicht viel eingepackt hatte, weil ich dachte, ich würde nur ein paar Tage bleiben, bin ich dankbar, dass ich meine Sachen habe.

Als ich den Koffer durchstöbere, wird mir klar, dass ihn schon jemand durchsucht hat. Meine BHs und Unterhosen liegen obenauf und ich verdränge den Gedanken, dass sich Amadeo oder einer seiner Gorillas an meinen Sachen zu schaffen gemacht hat. Im Koffer waren keine Waffen versteckt. Ich war zur Beerdigung meines Vaters gekommen. Und soweit ich sehen kann, fehlt auch nichts, also nehme ich meine Tasche mit den Toilettenartikeln und gehe ins Bad.

Das Bad ist wie erwartet aus Marmor und genau wie das Schlafzimmer wunderschön. Wie in der Villa Ravello sind die Armaturen modern, aber historisch gehalten. Ich schließe die Tür ab, lege meine Sachen auf die Ablage über dem Waschbecken und wasche mir die Hände. Mein Spiegelbild offenbart ein einziges Chaos auf meinem Kopf. Die Wellen lassen sich mit Spülung und Kamm nur schwer in den Griff bekommen, aber mit den Fingern allein geht es nicht. Es ist zu dick und zu widerspenstig. Es ist genau wie das Haar meiner Mom. Ich sehe ihr mehr und mehr ähnlich. Emma auch, wenn auch weniger als ich.

Der Gedanke an meine Mutter, an Emma, dämpft die kurze Erleichterung, die mir der Anblick meiner Sachen bereitet hatte, also beschließe ich nicht die verglaste Dusche zu benutzen, sondern gehe zu der tiefen Badewanne mit Klauenfüßen, um herauszufinden, wie die altmodischen Knöpfe funktionieren. Als ich die Temperatur richtig eingestellt habe und die Wanne volllaufen lasse, ziehe ich mich aus und durchstöbere die Schubladen und Schränke. Die meisten sind leer, abgesehen von den Toilettenartikeln für Gäste, also genieße ich den Blick aus dem Fenster, bis die Wanne voll ist. Ich drehe das Wasser ab, stelle meine Flaschen mit Shampoo, Spülung und Duschgel auf das Regal neben der Wanne und steige hinein. Das Wasser ist fast zu heiß, als ich mich bis zum Hals eintauchen lasse. Ich lege meinen Kopf auf den Wannenrand und lausche dem Geräusch der letzten Wassertropfen, die aus dem kupfernen Wasserhahn fallen. Ich gleite tiefer, bis ich ganz untergetaucht bin, und halte den Atem an. Ich liebe das Geräusch des Wassers, wenn ich vollständig davon umgeben bin. Das war schon immer so. Es herrscht eine Stille, die von keinem menschlichen Geräusch durchdrungen werden kann. Dadurch kommen meine Gedanken zur Ruhe und ich kann für kurze Momente entfliehen, zumindest solange ich die Luft anhalten kann.

Ich tauche auf, weil ich atmen muss, nehme das Shampoo in die Hand und werfe einen Blick auf die verglaste Duschkabine. Eine Dusche wäre wahrscheinlich klüger gewesen, aber ich bevorzuge schon immer Bäder, also shampooniere ich einmal, zweimal, und das Wasser wird immer schaumiger, als ich meine Haare ausspüle, bevor ich eine Spülung auftrage. Ich nehme den Luffa, der schon auf der Ablage lag, aus der Verpackung und schrubbe den Schmutz der letzten Tage von mir. Die Beerdigung. Amadeo. Bastian.

Mein Vater ist tot. Ich war nicht darauf vorbereitet. Ich hatte nicht erwartet, dass er stirbt. Er hatte in den letzten Wochen abgenommen und konnte zeitweise kein Essen bei sich behalten. Ich dachte einfach, dass es ihm wieder besser gehen würde. Aber dann hatte er einen schweren Herzinfarkt … Ich habe die Tatsache, dass er wirklich tot ist, noch nicht verarbeitet.

Ich verdränge die Gedanken. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um damit anzufangen. Mit meinem grobzinkigen Kamm entwirre ich meine Haare, in denen sich noch die Spülung befindet. Dann tauche ich wieder ab und lasse mich unter die Wasseroberfläche gleiten. Die Wanne ist tief genug. Welch ein Luxus. Und während ich da liege und dem Geräusch des Wassers, dem Tropfen des Wasserhahns, lausche, lasse ich mich einen Moment lang vergessen. Nur einen Moment lang. Ich halte den Atem an und lasse mich einfach treiben.

Bis ein dunkler Schatten über mich fällt.

Ich schieße aus dem Wasser und die Ruhe von gerade eben ist verflogen, als das Wasser auf den makellosen Marmorboden spritzt.

„Willst du dich ertränken, Pusteblume?“, fragt Amadeo grinsend und lässt seinen Blick langsam über mich gleiten.

„Du verdammtes Arschloch. Ich hatte die Tür abgeschlossen!“ Ich schlage auf das Wasser, um ihn vollzuspritzen.

Er lacht nur und weicht rechtzeitig zurück, um dem Großteil auszuweichen. „Ich habe einen Schlüssel“, sagt er und hält ihn mir hin, bevor er ihn umschließt. „Es ist schließlich mein Haus.“

„Das ist ein verdammtes Badezimmer. Hast du denn vor nichts Respekt?“

Er zuckt mit den Schultern und schiebt dann die Hände in die Taschen seiner dunklen Jeans. Er ist leger gekleidet, die Ärmel seines Pullovers sind bis zu den Ellbogen hochgeschoben. Mein Blick wandert über seine Unterarme, die leichten, dunklen Haare, und bleibt an dem Löwenzahn-Tattoo hängen. Er blickt auf seine teure Uhr, bevor er auf die Wanne zugeht und hineingreift.

„Was zur Hölle machst du da?“, frage ich und rutsche so weit wie möglich weg.

Er schaut mich an, als wäre ich diejenige mit dem Problem, dann zieht er den Stöpsel und das Wasser beginnt abzulaufen.

„Ich war noch nicht fertig“, sage ich unbeholfen.

Er schüttelt das Wasser von seinem Arm und greift dann nach einem Handtuch, um ihn abzutrocknen, bevor er es entfaltet und mir hinhält. Als ob ich hier und jetzt nackt vor ihm aus der Wanne steigen und mich von ihm in das verdammte Handtuch wickeln lassen würde.

„Was zur Hölle?“, frage ich erneut und bedecke mich mit meinen Armen.

„Raus, Pusteblume. Komm schon. Wir haben einen Termin.“

„Was für einen Termin?“

„Wir müssen die Größe deines Rings vor dem großen Abend herausfinden.“ Er zwinkert mir zu.

„Es ist nur eine vorgetäuschte Verlobung. Ich brauche keinen Ring.“

„Doch, brauchst du. Los gehts. Raus.“

„Ich will keinen.“

„Herrgott. Sei kein verdammtes Baby.“ Er deutet auf das Handtuch.

„Dreh dich um.“

„Ich habe dich schon nackt gesehen“, erinnert er mich und grinst dann dieses schelmische Grinsen, das ich gleichzeitig hasse und das etwas mit meinem Inneren macht. „Ich habe dich angefasst. Dich gerochen. Dich gekostet. Du schmeckst gut. Ich weiß nicht, ob ich das gestern Abend erwähnt habe.“

Ich greife nach dem nächstbesten Gegenstand, dem bescheuerten Luffa, und werfe ihn nach ihm. Er lacht, als wäre er wirklich amüsiert, als er an seiner Schulter abprallt.

„Ich werde dich verdammt noch mal im Schlaf umbringen!“

„Ich bin mir sicher, dass du das versuchen wirst.“

Ich lehne mich weit genug aus der Wanne, um nach dem Handtuch zu greifen, aber er hält es gerade so aus meiner Reichweite, wodurch ich zurück in die Wanne rutsche und mich am Rand festhalten muss, bevor ich mir das Gesicht daran stoße.

„Vorsichtig, Süße. Du willst doch nicht, dass dein hübsches Gesicht vor unserem großen Abend zerschrammt wird. Die Leute werden reden.“

Nachdem ich tief ein- und wieder ausgeatmet habe, steige ich vorsichtig aus der Wanne, schnappe mir das Handtuch und wickle es um mich. Ich bin überrascht, dass er es loslässt.

„Schon besser. Wir sehen uns in fünf Minuten unten“, sagt er und wendet sich zum Gehen.

„Gut. Arschloch.“

An der Tür bleibt er stehen und dreht sich wieder zu mir um. „Weißt du“, beginnt er und kommt zurück ins Bad, das zwar nicht riesig ist, sich aber nicht so klein anfühlte, wie es das jetzt tut, wo er hier drin steht. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht zurückzuweichen, als er mein Kinn anhebt und dann meinen Kiefer fester packt. „Für so ein hübsches Mädchen hast du ein sehr unanständiges Mundwerk.“

Ich entziehe mich ruckartig seinem Griff. „Du bringst alle meine besten Eigenschaften zum Vorschein.“

„Daddy hat dir vielleicht nicht den Mund mit Wasser und Seife ausgewaschen, aber ich werde es tun.“

Ich knirsche mit den Zähnen und beiße mir auf die Zunge, denn ich bin mir sicher, dass er das tun würde. Und obwohl das noch nie mit mir gemacht wurde, bin ich mir ziemlich sicher, dass es ekelhaft ist.

„Besser. Fünf Minuten. Und denk daran, überzeugend zu sein. Wenn du das nicht bist, keine Emma.“

Bevor ich etwas sagen kann, ist er weg.