30

BASTIAN

E s ist spät. Ich schwimme im Licht des Mondes, Stunden nachdem Vittoria und mein Bruder ins Bett gegangen sind. Stunden, nachdem ich ihnen hätte folgen sollen. Aber ich kann nicht schlafen, nicht nach dem, was heute Nacht passiert ist.

Was sie gesagt hat, ist wahr. Ich hasse sie – oder will sie hassen –, weil ihr Vater sie geliebt hat. Weil sie dieses Monster geliebt hat. Und ich sehe sie auch. Das habe ich auch meinem Bruder vorgeworfen, aber ich bin genauso schuldig. Ich sehe sie. Und sie ist nicht das, was ich erwartet habe. Nicht die Verbrecherin, für die ich sie all die Jahre gehalten habe, als ich ihre Bestrafung plante.

Als ich auftauche, um Luft zu holen, fällt mir eine Bewegung auf, also stoppe ich und drehe mich in diese Richtung. Dort, ein paar Schritte vom Pool entfernt, steht die letzte Person, die ich erwartet hätte. Das kleine Mädchen.

Sie trägt ein rosa Nachthemd mit einer Prinzessin auf der Vorderseite und hat ihr seltsames Schwein dabei. Ihre Haare sind eine wirre Masse um ihr kleines Gesicht, während sie sich die müden Augen reibt.

„Was machst du denn hier draußen?“, frage ich, steige aus dem Pool und trockne mich mit meinem Handtuch ab, bevor ich es mir um die Hüften wickle und ein T-Shirt überziehe.

Sie antwortet nicht, sondern starrt mich nur an. Sie starrt nur zu mir hoch.

„Warum bist du nicht im Bett?“

Wieder keine Antwort. Ich frage mich, wie sie kommunizieren, wenn sie dieses Problem hat.

„Wie bist du hier rausgekommen?“

Sie dreht sich um und zeigt auf die offene Tür. War klar.

„Wo ist Vittoria oder deine Nanny?“ Ich schaue ins Haus, sehe aber niemanden.

Sie deutet nach oben.

Okay. Dann ist sie also alleine hier runter gekommen? Im Haus ist es stockdunkel. Hatte sie keine Angst? Sie hat ihre löchrigen Schuhe an. Sie sind vertauscht und ungeschnürt. Das bringt mich zum Lächeln.

„Komm, ich bringe dich zurück ins Bett.“

Sie schüttelt den Kopf.

„Willst du etwas Wasser oder etwas anderes? Bist du hungrig?“ Was soll ich mit einer Fünfjährigen machen?

Sie deutet auf das Wasserglas, das vor ein paar Minuten noch mit Whiskey gefüllt war. Morgen früh werde ich den schlimmsten Kater aller Zeiten haben.

„Na gut“, sage ich mit einem Seufzen. Sollte sie nicht Angst vor mir haben? Ich gehe auf sie zu und bin überrascht, als sie ihre Arme ausstreckt, um hochgehoben zu werden. Verwirrt halte ich inne, beuge mich dann vor, hebe sie hoch und trage sie ins Haus. „Du weißt doch, dass du nicht alleine in die Nähe des Pools gehen darfst, oder?“, frage ich sie, während ich die Terrassentür schließe. Sie ist mir egal, aber ich bin auch kein verdammtes Monster. Sie ist ein Kind. Ich will nicht, dass sie in unserem Pool ertrinkt.

Sie neigt ihren Kopf zur Seite und zeigt auf mich.

„Ich zähle nicht“, sage ich ihr.

Sie zuckt mit der Schulter, und ich stoße die Tür zur Küche auf. Ich setze sie auf den Tresen, nehme ein Wasserglas, fülle es und reiche es ihr. Sie nimmt es mit beiden Händen, nimmt genau einen Schluck und hält mir das Glas wieder hin.

„Das wars? Ich dachte, du bist durstig.“

Sie drückt mir das Glas in die Hand, also nehme ich es und stelle es beiseite. Sie sieht mich mit Augen an, die viel älter wirken als die einer Fünfjährigen. Vittorias Worte gehen mir durch den Kopf. Dass ihr Vater Emma nur mit Verachtung ansah. Vermutlich erinnerte ihn ihr Anblick nur daran, was seine Frau ganz offensichtlich getan hatte. Ich bin überrascht, dass Vittoria das nicht erkennt, aber es sieht wirklich so aus. Ich hätte es vorhin in der Bibliothek fast verraten. Amadeo hätte mich aufgehalten, wenn ich mich nicht selbst erwischt hätte. Aber die Vererbungslehre lügt nicht. Zwei blauäugige Eltern können kein Kind mit braunen Augen bekommen.

Ich hebe sie von der Theke und wende den Blick zuerst ab, was erbärmlich ist. Sie ist fünf. Aber dann tut sie etwas Unerwartetes. Sie legt eine winzige Hand auf meine Wange, genau über meine Narbe. Sie zeichnet sie mit einem Finger nach, legt sie dann wieder flach und macht das Gleiche mit ihrer anderen Hand mit der Narbe auf ihrer eigenen Wange. Und das tut etwas mit mir. Diese kleine Sache. Diese Verbindung.

Ich setze mich auf einen der Küchenstühle und nehme ihre Hand von der Narbe, um sie nachzuzeichnen. Sie ist immer noch ziemlich rot, aber sie wird verblassen. Und sie ist nicht so tief wie meine oder die meines Bruders. Trotzdem wird sie immer sichtbar bleiben. Ihr Vater hat ihr das angetan. Vielleicht nicht absichtlich, aber es ist trotzdem seine Schuld. Allerdings glaube ich, dass er etwas viel Schlimmeres vorhatte.

„Du wirst da noch reinwachsen. Mach dir keine Sorgen“, sage ich ihr.

Sie sieht allerdings besorgt aus. Dann legt sie ihren Kopf an meine Brust und schließt die Augen. Wenige Augenblicke später schläft sie ein, einfach so, wie Kinder es können. Das ist ein bisschen verstörend.

Ein Geräusch ertönt von der Küchentür und ich drehe mich um und sehe Vittoria dort stehen. Ich frage mich, wie viel sie gehört hat. Sie schaut auf die schlafende Emma in meinen Armen. Ohne ein Wort zu sagen, stehe ich auf und trage das kleine Mädchen die Treppe hinauf. Vittoria folgt mir, und als ich sie in ihr Bett lege, erwarte ich, dass Vittoria bei ihrer Schwester im Zimmer bleibt, aber bevor ich die Tür hinter mir schließen kann, hält sie sie auf und folgt mir nach draußen.

Wir stehen eine ganze Minute lang da, und ich bin mir nicht sicher, was sie will. Was in der Bibliothek passiert ist, hätte sie in ihre Schranken weisen sollen. Aber das ist nicht geschehen. Und ich habe sie auch nicht aus dem Kopf bekommen.

„Geh ins Bett, Vittoria“, sage ich und drehe mich um, um die Treppe hinunter in die Bibliothek zu gehen. Ich erwarte nicht, dass sie mir folgt. Aber wie immer, liege ich bei ihr falsch. Sie betritt sie und sieht zu der Stelle, an der ich sie vorhin genommen habe. Ich beobachte sie. Sie trägt ein Tank-Top und Shorts. Ihr Haar ist, genau wie das ihrer Schwester, vom Schlaf ganz wirr. Aber trotzdem ist sie verdammt schön. Und noch mehr. Ich kann meinen Blick nicht von ihr abwenden, verdammt.

„Danke“, sagt sie, als sie meinem Blick endlich begegnet. Röte zieht sich über ihren Hals und ihre Wangen. Vermutlich erinnert sie sich auch daran, was vorhin hier drin passiert ist. „Noch mal. Für Emma. Ich habe nicht bemerkt, wie sie aus dem Bett geschlüpft ist.“

„Hast du mit ihr da drin geschlafen?“

„Ja, natürlich. Ich will nicht, dass sie Angst hat.“

„Vielleicht sind wir nicht die Monster, für die du uns hältst, Pusteblume.“ Ich gehe zu der Whiskeyflasche und schenke mir einen ein, obwohl ich ihn nicht trinke. Mein Kopf dröhnt bereits.

„Ich habe gehört, was du zu ihr gesagt hast“, sagt sie und tritt auf mich zu, bleibt aber dann in einiger Entfernung stehen. „Darüber, dass sie da reinwächst. Du hast über ihre Narbe gesprochen, nicht wahr?“

Ich nicke.

„Sie stammt von dem Unfall. Glas hat ihr das Gesicht zerschnitten.“

„Sie hat Glück gehabt. Ich nehme an, das Ziel war nicht nur eine Narbe.“

Sie hält inne. „Wovon redest du?“

Ich seufze. „Nichts. Ich gehe jetzt ins Bett.“

„Sag es mir.“

„Haben Mommy oder Daddy braune Augen, Pusteblume?“

„Was?“

Ich schnaube. „Nichts. Vergiss es.“ Ich gehe ein paar Schritte weg.

„Warum?“, fragt sie und hält mich auf.

„Warum was?“

„Warum hast du über ihre Narbe gesprochen?“

„Sie hat sie erwähnt.“

„Wie hat sie sie erwähnt?

„Sie hat ihre mit meiner verglichen. Sie hat meine Narbe berührt, dann ihre. Ich nahm an, dass es das war, was sie wollte.“

„Ich habe nicht einmal bemerkt, dass sie daran gedacht hat. Sie sieht sich ja nicht mal im Spiegel an oder so.“ Sie setzt sich auf die Couch, das Gesicht nachdenklich, eine Furche zwischen den Augenbrauen. Sie macht sich Sorgen um ihre Schwester. Das kann ich verstehen.

„Sie wird das schon schaffen“, sage ich ihr. „Sie mag nicht reden, aber ich habe das Gefühl, dass sie viel mehr sieht, als du denkst.“

„Das ist es, was mich beunruhigt“, sagt sie und sieht zu mir auf, als würde sie nach einer Antwort suchen. Einer, die ich nicht geben kann.

„Sie wird darüber hinwegkommen. Menschen überleben so einen Scheiß. Geh ins Bett, Vittoria.“

„Vittoria? Nicht Pusteblume?“

„Fang nicht damit an. Ich bin verdammt müde.“

„Das kann ich verstehen, wenn man bedenkt, was in der Nacht alles passiert ist.“

Ich grinse. „Dinge, die du sehr genossen hast.“

Sie errötet.

„Bist du hier, weil du mehr willst? Vermutlich ist dein Arsch ein bisschen wund, aber wenn du wieder Lust hast, kann ich jederzeit ein anderes Loch benutzen.“

Sie kneift die Augen zusammen, steht auf und kommt zu mir. „Nein, deswegen bin ich nicht hier.“

Ich grinse. „Da sind wir wieder. Zurück in unseren Ecken. Ich möchte nicht, dass du denkst, Ficken würde die Grundsätze unserer Beziehung ändern.“

„Wir haben keine Beziehung.“

„Oh, doch. Es ist eine Hassliebe.“ Sie dreht sich um, um wegzugehen, aber ich erwische ihren Arm und ziehe sie zu mir. „Es hat mir Spaß gemacht, dich zu ficken, Pusteblume. Ich hatte Spaß daran, dich vor mir auf den Knien zu haben. Und ich habe es wirklich genossen, deinen Arsch zu ficken und dir dabei zuzusehen, wie du dich mir unterwirfst, und deinem eigenen Vergnügen. Sag mir eins: Spürst du mich noch?“

„Lass mich in Ruhe.“

„Spürst du noch, wie mein Schwanz deinen kleinen, engen Arsch dehnt?“

„Lass los.“

Ich lehne mich nahe zu ihr, denn ich will das ganz klarmachen. „Ist meine Wichse immer noch in dir drin?“, frage ich leise und lecke über ihren Hals. „Ich werde wieder ganz hart, wenn ich daran denke. Daran, wie du ausgesehen hast. Wie du dich für mich geöffnet hast. Wie du geklungen hast, als dein Arsch meinen Schwanz zusammengedrückt hat, als du gekommen bist. Fuck, Pusteblume. Weißt du, was ich jetzt gerne tun würde?“

Sie sieht zu mir auf.

„Ich würde gerne dein hübsches kleines Gesicht ficken. Deinen Mund vollstopfen und in deinen Hals kommen.“

„Lass mich los, du Arschloch.“

„Tu mir erst noch einen Gefallen.“

Sie versucht, sich zu befreien, aber ich halte sie fest. „Was?“

„Schieb deine Hand in dein Höschen und zeig mir, ob du genauso erregt bist wie ich.“

Sie hebt ihren freien Arm, um mich zu schlagen, aber ich fange ihr Handgelenk ab und drehe sie so, dass sie mit dem Rücken an meine Vorderseite gepresst ist und ihre Arme über der Brust verschränkt sind.

„Was passiert ist, ändert nichts zwischen uns, Pusteblume. Du und ich werden immer Feinde sein. Egal, wie oft wir ficken. Das ist unser Schicksal. Und jetzt beweg deinen Arsch aus meinem Blickfeld, bevor ich wieder in Versuchung komme, dich zu nehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob du mich zweimal in einer Nacht aushältst. Hast du mich verstanden?“

„Laut und deutlich, Bastian. Jetzt hör mir zu.“ Sie dreht den Kopf, bis wir uns gegenseitig ansehen. „Ich werde dich vernichten. Ich werde dir alles wegnehmen und dich in die Knie zwingen. Denn ich bin deiner Meinung. Du und ich sind Feinde. Wir werden immer Feinde bleiben. Aber was Schicksale angeht, so ist es meines, dich zu vernichten. Den Namen Del Campo vom Angesicht der Erde zu tilgen.“

„Was ist hier los?“, fragt Amadeo von der Tür aus. Er hat geduscht und ist bereit für den Tag. Durch das Fenster hinter ihm sehe ich, wie die Sonne über den Horizont steigt.

Ich lasse Vittoria los, die zwei Schritte weggeht, mich aber weiterhin mit ihren stechenden Augen anschaut.

„Deine Frau und ich hatten ein ernstes Wort miteinander zu reden, nicht wahr?“

Sie verschränkt die Arme vor der Brust.

„Sie hat mir gerade erzählt, wie sie unseren Namen auslöschen würde.“

Amadeo grinst und geht auf seine Frau zu. Er nimmt ihr Kinn in eine Hand. Sie sieht zu ihm auf.

„Ich mag eine Kämpferin. Du, Bruder?“

Ich nicke und lasse sie nicht aus den Augen.

„Mach dir keine Sorgen, Pusteblume. Ich würde nichts anderes von dir erwarten. In ein paar Stunden fliegst du nach Neapel, dann geht es weiter nach New York. Geh und schlaf ein bisschen.“ Ihr Kinn zuckt zusammen und ich weiß, dass ihr der Gedanke, ihre Schwester zu verlassen, nicht gefällt. Mein Bruder weiß das auch, denn er fährt fort. „Emma wird in Sicherheit sein.“

Sie seufzt und verlässt den Raum, wobei sie mir einen hasserfüllten Blick zuwirft. Amadeo sieht mich an, sobald sie weg ist. Er sieht erschöpft aus.

„Hast du überhaupt geschlafen?“, frage ich ihn.

„Nein, nicht wirklich.“ Er schaut auf die Uhr. „Wir haben noch ein Treffen mit Bruno, bevor wir abreisen.“

„Warum?“, will ich wissen. „Ich dachte, wir hätten alles, was wir brauchen.“

„Es ist etwas dazugekommen“, sagt Amadeo mit ernster Miene.

„Was?“

Er seufzt. „Lucien hat einen Antrag gestellt, um die Vormundschaft für Emma zu übernehmen.“

Der Gedanke, dass Lucien Russo das kleine Mädchen unter seiner Kontrolle hat, verursacht ein Brennen. Ich weiß nicht, warum, aber es ist so. „Weiß Vittoria davon?“

Amadeo schüttelt den Kopf.

„Was denkst du?“, frage ich.

„Vittoria wird auch einen Antrag stellen.“

Das macht Sinn. Ich weiß es. Aber es stört mich. „Wir tun also alles, um ihr zu helfen?“

„Das ist nicht so viel Aufwand. Die Kleine –“

„Du hast gehört, was sie gesagt hat. Was sie will.“

„Ich weiß auch, dass du sie in die Enge getrieben hast. Wenn du ein wildes Tier in die Enge treibst, wird es kämpfen. Und sie ist so wild, wie es nur geht.“

„Solange wir uns einig sind, Bruder.“

Er legt einen Arm um meine Schultern. „Immer, Bruder.“