I ch brauche keine zehn Minuten, um zu packen. Ich hasse es, dass ich Emma jetzt verlassen muss, aber ich weiß, dass ich bei der Testamentseröffnung dabei sein muss. Das ist eine Bedingung. Wenigstens werde ich nicht lange weg sein. Ich denke über mein seltsames Gespräch mit Bastian nach. Was er wegen Emma angedeutet hat.
Und ich will auch Lucien sehen. Mit ihm reden. Herausfinden, warum er nicht mehr Männer hinter mir hergeschickt hat, als ich entführt wurde. Und ich will andere Dinge erfahren. Über Dad. Darüber, was Amadeo und Bastian ihm vorwerfen.
Ich beobachte, wie die Wolken über das Meer ziehen und lausche dem Geräusch des Regens, der erst leise und dann immer stärker fällt. Es ist so schön und seltsam, diese Veränderung, die das Meer und den Himmel überzieht. Aber da ist auch noch etwas anderes. Ein Gefühl, das anhält. Ich spüre es in meinem Innersten, dieses bedrohliche Gefühl, das über mir schwebt wie die dunklen Wolken, die über dem Meer hängen, während der Sturm sein Unwesen treibt.
Das Mittag- und Abendessen wird mir in meinem Zimmer serviert. Das stört mich nicht, obwohl ich die Brüder früher zurückerwartet habe. Aber niemand sagt mir, wann Amadeo oder Bastian zurückkehren werden.
Es ist ein paar Stunden nach dem Abendessen, als ich einen Aufruhr vor meinem Zimmer höre. Das Schloss dreht sich und ich bin auf den Beinen, denn ich will raus, ich will es hinter mich bringen und bin einfach nervös. Der Sturm hat mich aufgewühlt. Vielleicht ist es auch die Einsamkeit. Ich erwarte Amadeo, aber als sich die Tür öffnet, sehe ich weder Amadeo noch den Gorilla, der meine Tür bewachen soll. Es ist ein anderer Mann, der mir nicht bekannt vorkommt, aber eine so bösartige Energie ausstrahlt, dass ich mich nur mit Mühe davon abhalten kann, zurückzuschrecken.
Der Mann tritt ein, schließt die Tür aber nicht hinter sich, sondern bleibt stehen und mustert mich mit unverhohlenem Interesse. Ich trage ein schlichtes marineblaues Trauerkleid, das ich mitgebracht hatte. Ich hätte es auf dem Flug nach Hause getragen. Jetzt tue ich es. Ich verschränke die Arme vor der Brust, gleichzeitig, um mich abzuschirmen und um stärker zu wirken, als ich mich fühle.
„Die Prinzessin im Turm“, sagt er, und als er auf mich zukommt, bekomme ich dieses unheimliche Gefühl, das ich hatte, als ich Sonny Caballero zum ersten Mal von der anderen Seite des Raumes im Restaurant sah. Dieses unheimliche Gefühl, dass dich etwas Böses, etwas Falsches berührt.
„Wer bist du?“, frage ich.
„Niemand. Komm mit.“
„Wo ist Amadeo?“
„Unten. Er hat mich geschickt, um dich zu holen.“
„Er ist also zu Hause?“
Er nickt. „Ich soll dich holen. Lass uns gehen.“ Er schlendert durch den Raum und ergreift meinen Arm. Ich schaffe es, mich aus seinem Griff zu befreien.
„Ich komme ja schon. Fass mich nicht an.“
Er schnaubt.
Warum würde Amadeo diesen Mann schicken, um mich zu holen? Seine Soldaten sind nicht freundlich zu mir, nicht einmal annähernd, aber dieser hier ist anders. Aber es ist eine dumme Frage, die ich da stelle. Warum sollte Amadeo ihn nicht schicken, ist die bessere, die passendere Frage.
Er war gestern Abend nicht schrecklich zu mir. Trotzdem muss ich daran denken, dass er klarmacht, dass er sich zwischen seinem Bruder und mir entscheiden muss, und er entscheidet sich ganz klar für Bastian, so wie es auch sein sollte.
Vielleicht ist das eine Show für Bastian. Oder vielleicht will er mir wieder meinen Platz zuweisen. Um mich und vielleicht auch sich selbst daran zu erinnern, dass wir nicht auf der gleichen Seite stehen. Er mag mich nicht besiegt haben, aber er hält mich gefangen. Er hat mich zur Ehe gezwungen. Mit Emma hat er nur ein weiteres Druckmittel in der Hand. Für ihn sind wir beide Kollateralschäden und keine Menschen. Das hat er ganz klar gesagt.
Der Soldat führt mich den Flur entlang und zur Treppe. Mir fällt auf, wie still das Haus ist. Wie dunkel.
„Runter“, sagt der Soldat, als wir die Treppe erreichen.
Ich sehe zu ihm zurück. Irgendetwas stimmt hier nicht. Das Haus ist zu ruhig. Wo sind die Soldaten, die normalerweise im Haus verteilt sind?
„Wo ist mein Mann?“ Ich zwinge mich, den Begriff zu benutzen, um meine Position zu bekräftigen, aber er sieht mich nur mit leeren, hohlen Augen an.
„Er wartet auf dich und er mag es nicht, wenn man ihn warten lässt. Beweg dich.“ Er gibt mir einen Schubs, und ich ergreife das Geländer, um nicht die Treppe hinunterzufallen. Als wir im Erdgeschoss angekommen sind, sehe ich, dass auch das Wohn- und das Esszimmer dunkel sind. Aber ich spüre ein Vibrieren unter meinen Füßen. Einen Rhythmus. Musik?
Ich wende mich wieder dem Soldaten zu, der mir bedeutet, ich solle in einen schwach beleuchteten Korridor gehen.
„Nein. Sag Amadeo, er soll mich abholen“, sage ich ihm, ohne zu wissen, warum, denn er wird es nicht tun. Aber etwas sagt mir, dass ich nicht mit diesem Mann gehen soll.
„So funktioniert das nicht, Prinzessin“, sagt er spöttisch, bevor er mich am Arm packt und den Gang hinunter zur Tür ganz am Ende zwingt, wo ich jetzt Musik höre, aber nichts, was ich von Amadeo oder Bastian kenne. Ich kann das Licht unter der Tür sehen und rieche Zigarettenrauch, als wir uns ihr nähern.
„Lass mich los!“ Ich wehre mich gegen den Mann, der mich festhält, als wir die Tür erreichen, und dann öffnet er sie.
„Runter, Prinzessin.“
Es ist ein Keller und ich höre Männer, viele von ihnen, Musik und den Gestank von Alkohol, Zigaretten und Schweiß. Und ich weiß, dass ich da nicht hinuntergehen will.
„Wo ist Amadeo?“, frage ich und Panik lässt meine Stimme höher klingen. So geht Amadeo nicht vor. Bastian? Ist das Bastians Werk? Hat Bastian angeordnet, dass ich hierhergebracht werde? Er hasst mich. Er denkt, ich würde mich in seine Beziehung zu Amadeo einmischen. Würde er Amadeo umgehen, um mir etwas anzutun?
„Da unten.“
„Sag ihm, er soll raufkommen.“
Er schüttelt den Kopf, murmelt etwas und stößt mich vorwärts. Ich schreie auf, als ich ein halbes Dutzend Stufen hinunterstolpere, bevor ich mich fange und am Geländer festhalte, um nicht die ganze Treppe hinunterzufallen.
Die Stimmen stoppen, das schrille, irre Lachen von jemandem ist das letzte, das verklingt, als sie sich zu mir umdrehen. Ich sehe mir die Szene an und bekomme absolute Panik.
„Mir wurde gesagt, dass du auf deinen Platz verwiesen werden musst“, sagt der Soldat über mir, während er die Treppe zwischen uns nach unten stapft. Er ergreift meinen Arm und zieht mich auf die Füße, um mich den Rest des Weges nach unten zu drängen. Ich werde an die Kirche erinnert. An die Wachen, die mein Bruder arrangiert hatte, die auf einmal verschwunden waren. Wie allein ich mit den Brüdern und ihren Männern war. Ihnen ausgeliefert.
„Lass mich los!“
„Okay“, sagt er kichernd und stößt mich die letzten zwei Stufen hinunter, sodass ich auf Händen und Knien auf dem Betonboden lande.
„Was hast du uns mitgebracht?“, fragt jemand, während ich mir die Szene ansehe. Der große, größtenteils leere Keller mit zu vielen dunklen Ecken, als dass ich darüber nachdenken kann. Der Bereich in der Mitte wird von einer nackten Glühbirne beleuchtet, die von der Decke hängt. Ein großer Pokertisch auf einem alten Teppich ist mit Karten, Chips und Schnapsflaschen übersät, und um ihn herum sitzen etwa ein Dutzend Männer. Gleich daneben steht ein Tisch mit noch mehr Schnaps und einer Kühlbox, aus der jemand ein Bier nimmt, wobei ihm eiskaltes Wasser über die Hand tropft, als er den Deckel abschraubt.
Nirgendwo sehe ich Amadeo oder Bastian. Nur diese Männer. Soldaten, einige mit Waffen im Schulterholster, andere mit Pistolen, die neben Stapeln von Chips auf dem Tisch liegen. Aus den Lautsprechern dröhnt immer noch Musik, aber ansonsten sind die Männer still.
„Steh auf“, sagt der Mann, der mich hierhergeschleppt hat, und stößt mir mit der Spitze seines Stiefels in die Seite.
Ich schaue zu ihm hoch und sehe die geschlossene Tür hinter ihm. Ich bin die einzige Frau hier drinnen mit einem Dutzend Soldaten. Eine dumme, naive Stimme in meinem Kopf erinnert mich daran, dass ich Amadeos Schutz genieße, aber das ist kein Trost. Ich weiß genau, wie wenig das bedeutet, wenn eine Frau allein in einem Raum voller Männer ist.
Meine Sicht verschwimmt und ich sehe einen anderen Raum. Eine andere Zeit. Ich kneife die Augen zusammen und schüttele den Kopf. Kalter Schweiß überzieht jeden Zentimeter meiner Haut. Es ist Entsetzen. Es ist die Erkenntnis, wie hilflos du wirklich bist.
„Was ist das?“, fragt jemand und steht auf, um mich besser sehen zu können. Ich stehe, fällt mir auf. Ich weiß nicht, seit wann ich wieder auf den Beinen bin, mit durchgedrückten Knien, damit ich nicht zusammenbreche.
„Ein Geschenk für euch.“ Er dreht sich zu mir um. „Mit Grüßen von Amadeo und Bastian.“
Mein Herz hämmert laut. Das würden sie nicht tun. Nein, nie im Leben. Nicht einmal Bastian würde so etwas tun. Sie sind nicht so grausam. So böse.
Die Waage ausgleichen. Auge um Auge. Eine Vergewaltigung für eine Vergewaltigung?
Nein. Das würden sie nicht tun.
„Wir brauchen ein Mädchen zum Bedienen“, sagt jemand.
„Nur bedienen?“, fragt ein anderer und macht eine anzügliche Geste mit seiner Zunge und zwei Fingern. Die anderen lachen und schauen wieder zu dem massigen Mann, der zwischen mir und der Treppe steht.
„Lass mich gehen“, sage ich ihm mit einer Stimme, die ich nicht kenne. „Bitte.“
„Oh, die Prinzessin kann lieb sein, wenn sie will.“
„Lass mich gehen.“
„Das glaube ich nicht. Du hast die Männer gehört. Wir brauchen eine Schlampe zum Bedienen.“ Er zeigt auf einen Tisch, auf dem Schnapsflaschen stehen. „Bring meinen Freunden ein paar frische Drinks.“
„Und einen Lap Dance“, ruft einer von ihnen, was die anderen urkomisch finden.
„Wo ist Amadeo? Ich will ihn sehen. Er würde nicht …“ Aber ich stocke. Was wollte ich gerade sagen? Dass er das nicht zulassen würde? Warum nicht? Warum nicht seinen Männern etwas geben, mit dem sie Spaß haben. Um sich ihre Dankbarkeit zu sichern. Es gibt Unruhe in der Familie. Ich weiß das. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Und ich bin nur ein Kollateralschaden. Die Tochter des Mannes, den er so sehr hasste, dass er seinen Leichnam schändete. Die Schwester des Mannes, von dem er glaubt, dass er seine Schwester vergewaltigt hat.
„Beweg dich, Schlampe.“ Der Mann schubst mich in Richtung des Tisches, auf dem der Alkohol steht und unterbricht meine Gedanken. Ich stolpere vorwärts, gehe an den Männern vorbei und mache einen möglichst großen Bogen um den Tisch.
Ich nehme eine Flasche Whiskey in die Hand und trete auf etwas Klebriges, als ich mich mit meinen nackten Füßen zu den Männern am Pokertisch begebe. Ich hatte keine Schuhe an, als er mich abholte, und irgendwie habe ich gar nicht daran gedacht, welche anzuziehen. Ich werfe einen Blick auf die Treppe und sehe, dass derjenige, der mich heruntergebracht hat, an der gegenüberliegenden Wand lehnt und sich eine Zigarette ansteckt. Er ist riesig. Das sind sie alle. Er wird mich erwischen, wenn ich versuche zu fliehen. Und wenn er es nicht schafft, wird es einer der anderen tun. Also fange ich an, Drinks aufzufüllen, und schütte ihn auf den ersten Kerl, der versucht, mich auf seinen Schoß zu ziehen.
„So serviert man doch nicht, oder?“, fragt er.
Die Männer schauen sich an und der, der mir am nächsten ist, nimmt mir die Flasche ab, während ein anderer beginnt, den Reißverschluss meines Kleides zu öffnen.
„Nein!“ Ich versuche wegzukommen, aber er lässt nicht los und das Kleid reißt, als ich wegspringe, einem anderen in die Arme stolpere und er mein Kleid nicht loslässt.
„Das ist schon besser“, sagt jemand, als ich umgedreht und zu einem anderen Mann gezerrt werde, während noch mehr von meinem Kleid weggerissen wird. Ich werde hin- und hergedreht, bis das Kleid in Fetzen vor meinen Füßen liegt, mein BH und mein Höschen obendrauf. Erst dann lassen sie mich los und ich drehe mich zu dem Soldaten um, der mich hergebracht hat, und stolpere vom Tisch weg.
Das kann nicht sein. Es kann nicht passieren.
Er grinst, während er an seiner Zigarette zieht, sieht mich von oben bis unten an, und ich bedecke mich vor seinem Blick, vor ihnen.
Das Aufblitzen einer Szene, die ich nicht verstehe, trifft mich wieder. Es ist wie ein Blitz, schnell und elektrisch, und er zerteilt mein Gehirn. Es ist ein ähnlicher Ort wie dieser. Ein Keller. Der Geruch ist derselbe. Feuchtwarm. Muffig. Ein vertrautes Gesicht taucht auf, aber es ist so schnell wieder weg, wie es gekommen ist.
Ich taumle rückwärts und stütze mich mit der Hand an der kühlen Wand ab. Schweiß sammelt sich unter meinen Armen und an meinem Haaransatz. Mir wird übel.
„Bediene meine Freunde“, sagt der Mann, der mich hergebracht hat.
Ich blinzle. Versuche, mich zu konzentrieren. Das kann nicht passieren. Bitte, Gott, lass das nicht passieren.
„Ich will auf mein Zimmer gehen.“
„Bedienen, Schlampe.“
Jemand kichert, die Musik wird lauter gedreht, und zusammen mit dem Blut, das in meinen Ohren pocht, bin ich taub.
„Ich habe Durst, Süße“, ruft jemand und hält mir eine leere Bierflasche hin.
Ich behalte den Soldaten im Auge, der mich hier runtergebracht hat. Denk nach. Denk nach. Du musst hier raus. Du musst überleben.
„Bring ihnen etwas zu trinken, oder sie bekommen etwas anderes von dir.“
Nein.
Ich nehme eine volle Bierflasche, gehe zu dem durstigen Mann und stelle sie ab, nehme seine leere Flasche und halte sie am Hals fest. Ich muss nicht lange warten, bis mir einer von ihnen an den Hintern greift, und in dem Moment, in dem er das tut, schlage ich die Flasche auf den Pokertisch und drehe mich zu ihm um, die Flasche mit den scharfen Kanten zwischen uns haltend.
Aber sie sind ein Dutzend und ich bin alleine, und im Handumdrehen bin ich auf den Knien in den Scherben, umgeben von ihnen, und werde nach vorne gedrückt, bis ich auf allen vieren bin und sich das Glas in meine Hände und Knie bohrt. Ich spüre sie alle um mich herum – ihren Atem, ihre Körper, ihren Schweiß, ihren Alkohol und ihren Rauch. Jemand drückt mich mit dem Gesicht nach unten auf den dreckigen Boden. Ich kann das nicht verarbeiten. Ich kann nicht begreifen, dass das mit mir passieren soll. Ich will kämpfen. Ich muss kämpfen. Ich würde lieber sterben, als das hier zu ertragen. Ich würde lieber sterben. Aber es hat keinen Sinn. Es sind zu viele von ihnen. Und sie sind zu stark.