Kapitel 15
Hope
Erst etwa drei Stunden darauf stoppe ich meinen Wagen vorm Haus meiner Eltern. Jesse hat mich nur ungern gehen lassen, doch er war ohnehin schon zu spät zum sonntäglichen Familienessen dran.
Rasch steige ich aus, verriegele das Auto und gehe auf mein Elternhaus zu. So leise wie möglich schließe ich die Haustür auf, obwohl ich nicht glaube, dass die beiden noch schlafen. Aber vielleicht schaffe ich es ja unbehelligt bis in mein Zimmer. Genervt von mir selbst schüttele ich den Kopf, ich benehme mich, als wäre ich fünfzehn.
»Wo zur Hölle bist du gewesen?!«, ertönt die Stimme meines Dads so unvermittelt direkt hinter der Tür, dass ich erschrocken aufschreie und mir an die Kehle fasse.
»Dir ist schon bewusst, dass ich dir bereits seit Jahren keine Rechenschaft mehr schuldig bin, oder?«, blaffe ich ihn in einer Art Übersprunghandlung entnervt an.
»Du wohnst bei uns, da kann ich ja wohl erwarten, dass du Bescheid sagst, wenn du die Nacht woanders verbringst … was haben Mom und ich dir über Sex beim ersten Date gesagt?« Dad mustert mich von oben bis unten und verschränkt die Arme vor der Brust. Offensichtlich geht er davon aus, dass meine Tinder-Verabredung mich flachlegen durfte.
Aufgebracht stoße ich die Haustür zu, lege meine Handtasche ab und ziehe meine Lederjacke aus. »Es wird echt Zeit, dass meine Wohnung fertig wird«, weiche ich aus und mit einem Mal wird sein angefressener Blick irgendwie … schuldbewusst. »Dad?« Mich beschleicht eine ungute Vorahnung. Seit Wochen sind Evan und er damit beschäftigt, mein Appartement zu sanieren, und dabei ist schon mehrmals etwas schiefgegangen. Bislang waren es nur Kleinigkeiten, aber sein Gesichtsausdruck jetzt lässt mich das Schlimmste befürchten.
»Lass uns erstmal in die Küche zu deiner Mom gehen«, brummt er, im Ausweichen genauso ein Meister wie ich.
»Dad, was habt ihr angestellt?!«, bohre ich weiter, während ich ihm folge. In der Küche angelangt sitzt meine Mutter noch am Frühstückstisch und isst gerade ein Sandwich. »Hi Mom«, begrüße ich sie und umarme sie kurz.
»Hm, du riechst gut … ist das ein Männerduschgel? Nicht, dass ich was anderes erwartet hätte … du warst erfolgreich, richtig?«, murmelt sie, als wäre Dad überhaupt nicht anwesend. Wie war das, sie wollte mich doch eigentlich decken? Ehrlich, ich liebe sie ebenso abgöttisch wie meinen Vater, manchmal allerdings möchte ich beide zum Mond schießen. »So, wie deine Augen strahlen, hattest du …«
»Mom!«, unterbreche ich sie, bevor sie mich endgültig in Verlegenheit bringt. Wir haben ein offenes und inniges Verhältnis, aber die Einzelheiten meiner Nacht mit Jesse will ich nicht mit ihr durchkauen, erst recht nicht vor Dad.
»Ich wollte doch nur sagen, dass du offensichtlich Spaß hattest«, verteidigt sie sich und erntet dafür sowohl von Dad als auch mir ein Schnauben. Mom ist ja vieles, allerdings nicht gerade für Diskretion und Zurückhaltung bekannt. Im Gegenteil, ihre Unverblümtheit bringt sie selbst heute noch immer wieder in Schwierigkeiten.
»Also, was ist mit der Wohnung?«, komme ich auf das eigentliche Thema zurück. Mom gluckst, was mich zusätzlich alarmiert. »Sag mir jetzt bitte nicht, dass ich weitere drei Monate bei euch wohnen muss«, flehe ich und sein Ausdruck wird entrüstet. »Versteh mich nicht falsch, ich bin euch dankbar, doch keine normale Frau meines Alters möchte wieder bei ihren Eltern in ihrem früheren Kinderzimmer leben.«
»Ähm, also, du weißt ja, dass wir eine Wand wegnehmen wollten, um das Wohnzimmer zu vergrößern?«, beginnt er und mir schwant Übles. »Dabei ist leider was schiefgegangen, aber das kostet uns maximal zwei Wochen, versprochen.« Beschwichtigend hebt er die Arme, als ich Luft holen und nachhaken will, was konkret denn nun schiefgegangen sei. »Wir waren wohl mit dem Abrisshammer ein wenig zur sehr im Grandpa-Babuschka-Style unterwegs, ein Teil der Zwischendecke ist hinuntergekommen.«
Grandpa Iwan war nicht mein richtiger Großvater, mir jedoch näher als meine leiblichen Großeltern, die leider allesamt nicht in Toronto gelebt haben. Er ist vor mittlerweile beinahe sieben Jahren gestorben und liegt neben seiner späten, großen Liebe Harriet auf einem Friedhof bloß vier Querstraßen entfernt vom Haus meiner Eltern.
Erst muss ich lachen, Grandpa Iwan hat in all den Jahrzehnten mit Onkel Evan immer mal wieder für die eine oder andere inzwischen legendäre Baukatastrophe gesorgt. Doch dann kippt meine Stimmung und ein Aufschluchzen entweicht meiner Kehle. Es sind Momente wie dieser, in denen mir klar wird, wie sehr der russische Griesgram mir nach wie vor fehlt.
»Hope, Süße, komm her.« Dad seufzt und nimmt mich fest in die Arme. »Ich vermisse den alten Brummbären ebenfalls«, murmelt er und gibt mir einen Kuss auf den Scheitel, während er mich sanft hin und her wiegt. Seine Stimme klingt belegt, deswegen schlinge ich die Arme um seine Hüften und drücke ihn meinerseits innig.
Kurz darauf begibt sich auch Mom zu uns und zwischen meinen Schluchzern lächele ich, weil das hier seit Ewigkeiten unser ganz persönliches Ritual ist. Obwohl Dad mir mit seiner Kontrollsucht manchmal fürchterlich auf die Nerven geht und meine Mutter mich mit ihrem fehlenden Feeling für unangebrachte Themen immer wieder wahnsinnig macht, sind sie mit die bedeutendsten Menschen in meinem Leben.
»Glaube ja nicht, dass wir deswegen nicht mehr wissen wollen, von woher du gerade gekommen bist«, grummelt mein Vater irgendwann.
»Wir? Bleib bei dir, ich bin da nicht so zwanghaft wie du«, tadelt Mom ihn und ich kichere. Sie hat leicht reden, immerhin ist sie im Gegensatz zu ihm eingeweiht. »Wer auch immer es war, offenbar war es schön. Das ist das Wichtigste.« Na, wenigstens bindet sie ihm nicht auf die Nase, dass sie ganz genau weiß, wo ich gewesen bin. Okay, zum Teil sicher aus Eigennutz, früher als nötig will sie sich Dads Gemosere deswegen bestimmt nicht antun.
Mein Herz gerät kurz aus dem Takt, als sich Jesses Gesicht vor mein inneres Auge schiebt.
Bereits jetzt sehne ich mich nach einer Wiederholung … nach ihm .