Kapitel 26
Jesse
Inzwischen sind die Cops dagewesen und haben meine Aussage aufgenommen.
Kurz darauf war der Augenchirurg bei mir, hat sich mein Auge gründlich angesehen und gemeint, dass nichts gegen eine Entlassung spräche. Die klaffende Wunde an meiner Schläfe, die sich Richtung Wange hinunterschlängelt, ist mit zehn Stichen genäht worden, die übrigen, kleineren Schnittwunden waren oberflächlich und werden laut seiner Aussage ohne Narbenbildung verheilen. Sein hinzugezogener Kollege hat gesagt, dass auch die große Narbe in den nächsten Monaten feiner werden würde, man jedoch zu gegebener Zeit über plastische Maßnahmen sprechen könnte, falls das eine Option für mich sei. Vorstellen kann ich mir das nicht, aber das habe ich für mich behalten.
Der Verband ist durch ein Wundpflaster ersetzt worden, über dem ich nun eine Augenklappe trage. Den Blick in den Spiegel habe ich bislang größtenteils vermieden, diese beschissene Klappe fühlt sich auch so schon wie ein Fremdkörper an und ich habe keine Eile, was das genauere Ansehen meiner restlichen Verletzungen angeht.
Es klopft an meiner Tür und ich erwarte eine der Schwestern, dir mir die Entlassungspapiere bringt, doch stattdessen betreten mein Cousin sowie unser Bandmanager Ash das Zimmer. Beide sind blass und sehen so übernächtigt aus, wie ich mich fühle. Ich zwinge mich zu einem Grinsen und verziehe das Gesicht, da dabei diese blöde Narbe an meiner Schläfe spannt.
»Ich bin so froh, dass es dir gutgeht. Du hast uns allen gestern einen Wahnsinnsschrecken eingejagt.« Saint kommt auf mich zu und schließt mich in eine Umarmung. »Hope ist bereits auf dem Weg hierher, sie hat mir geschrieben, weil dein Smartphone aus ist.«
Ich klopfe ihm auf den Rücken und löse mich dann von ihm, um Ash zu begrüßen. »Ja, ich musste es abschalten, es hat überhaupt nicht mehr stillgestanden.« Gefühlt hat mich jeder Mensch, dem ich irgendwann im Laufe meines Lebens begegnet bin, zu kontaktieren versucht, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen.
»Ich habe später einen Termin im Label, um zu klären, wie es dazu kommen konnte«, ergreift Ash das Wort und ich runzele verwirrt die Stirn, was ein neuerliches Stechen im Bereich meiner frisch genähten Schnittwunde auslöst.
»Was sollen die denn zu dem Vorfall sagen können?«, hake ich nach, während ich an den Wandschrank trete, um die Lederjacke herauszuholen, die Mom mir heute Morgen gereinigt mitgebracht hat.
»Diese Frau behauptet, dir einen Haufen Nachrichten geschickt zu haben, doch in deinen Accounts findet sich nicht eine Einzige«, antwortet Ash. »Wenn sich das bestätigt, was ich aktuell vermute, werden Köpfe rollen«, droht er und macht dabei einen derart angefressenen Eindruck, dass ich nicht in der Haut der Verantwortlichen stecken möchte.
Saint brummt und wirkt nachdenklich. »Ich finde, wir sollten geschlossen dort aufschlagen … du natürlich nicht, du lässt dich …«
»Es geht um mich, glaubst du, ich bleibe zu Hause und schaukele mir die Eier?!«, blaffe ich ihn an und er zieht den Kopf zwischen die Schultern.
»Denkst du nicht, dass du erst einmal gesund werden solltest?«, regt nun auch Ash an und mir knallt endgültig eine Sicherung durch.
»Seid ihr noch ganz dicht?! Denkt ihr echt, ich entspanne mich in meinen vier Wänden, während ihr dieser … Sache auf den Grund geht?!« Wut kocht in mir empor, so heiß und lodernd, dass ich den dringenden Wunsch verspüre, mich wie sonst üblich an meinen Drums abzureagieren. Doch der Arzt war klar in seinen Anweisungen, ich soll es die nächsten Tage ruhig angehen lassen … wie ein Irrsinniger auf mein Schlagzeug einzudreschen, fällt wohl eher in die gegenteilige Kategorie.
»Schon gut, beruhige dich, niemand von uns verbietet dir, mit dabei zu sein. Wir dachten bloß, es wäre besser für dich, wenn du …«, will mich Ash beschwichtigen, verstummt angesichts meines angepissten Gesichtsausdrucks jedoch.
Erneut klopft es an der Tür und dieses Mal kommt tatsächlich eine Schwester mit den Entlassungspapieren herein. Sie ermahnt mich nochmals, mich strikt an die Anweisungen des Arztes zu halten und die nächsten Termine, bei denen der Heilungsprozess meines Auges jeweils kontrolliert werden soll, unbedingt wahrzunehmen.
Als sie den Raum wieder verlassen will, rennt sie beinahe in Hope hinein. Meine Freundin schiebt sich an der Krankenschwester vorbei, kommt mit einem Lächeln auf mich zu und schließt mich in den Arm. Erst danach begrüßt sie Saint und Ash.
»Du darfst schon nach Hause?« Sie wirft einen Blick auf die Entlassungspapiere in meiner Hand und ich nicke. Augen sind zwar wichtig als unser Sinnesorgan, aber viel kann man ab jetzt nicht mehr machen, da hilft nur Zeit. »Okay … ich habe meinen Wagen in einer Seitenstraße nicht weit entfernt vom Hintereingang des Krankenhauses geparkt. Am Haupteingang hängt ein Haufen Journalisten herum, denen du bestimmt nicht über den Weg laufen möchtest.« Ein zweites Mal nicke ich bestätigend, ehe ich mich an Ash wende.
»Wann genau ist der Termin im Label?« Unser Manager nennt mir die Uhrzeit. »Alles klar, ich werde pünktlich da sein … und wagt es ja nicht, ohne mich anzufangen.« Bin ich ganz ehrlich zu mir selbst, muss ich eingestehen, dass mir vor dieser Besprechung etwas graust. Aber mich herauszuziehen, kommt nicht infrage.
Gemeinsam verlassen wir das Krankenzimmer und gehen in Richtung der Aufzüge. Im Erdgeschoss trennen wir uns, unser Leadsänger sowie Ash werden sich um die lauernde Pressemeute kümmern, sie ablenken und so dafür sorgen, dass Hope und ich, begleitet von der Krankenhaus-Security, hoffentlich unbehelligt über den Hinterausgang verschwinden können.
Zu meiner Erleichterung wartet dort tatsächlich nach wie vor niemand auf uns. Meine Freundin greift nach meiner Hand und verschränkt ihre Finger mit meinen, während wir schnellen Schrittes auf die Seitenstraße zuhalten. Tief durchatmend nehme ich kurze Zeit später auf dem Beifahrersitz ihres Fahrzeugs Platz und lasse mich von ihr zu meiner Wohnung chauffieren. Da die Presse mich noch im Krankenhaus wähnt, gelangen wir auch dort ohne Probleme in das Gebäude.
»Mr. Davenport, wie schön, Sie wohlauf zu sehen«, begrüßt mich der Portier mit einem freundlichen Lächeln. Ich reagiere lediglich mit einem Kopfnicken darauf und ziehe Hope hinter mir her zu dem ehemaligen Lastenaufzug.
In meinem Loft angelangt befreie ich mich von meiner Lederjacke sowie den Boots und gehe zunächst in den Küchenbereich, um mir dort eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank zu holen. Mir ist bewusst, dass ich Zeit schinde, aber ich kann nicht anders. Ich will nicht, dass Hope mir die unausweichlichen Fragen stellt, die ununterbrochen wie ein Damoklesschwert über meinem Kopf schweben.
»Du hast bestimmt noch gar nichts gegessen, oder? Soll ich uns was Kleines zum Mittagessen kochen?« Sie öffnet meinen Kühlschrank und lacht angesichts seines mageren Inhalts leise. »Okay, ich würde vorschlagen, wir bestellen etwas.«
»Ich habe keinen großen Hunger«, erwidere ich, drehe die Flasche auf und trinke einen Schluck. »Wir können heute Abend nach dem Labeltermin was ordern … also vorausgesetzt, du bist dann noch hier.«
Hope hebt eine Augenbraue, tritt auf mich zu und schlingt ihre Arme um meine Hüften. »Natürlich bin ich das … so lange, wie du willst, Jesse«, wispert sie und sieht zu mir auf. »Offengestanden habe ich unten im Kofferraum eine Reisetasche mit Klamotten und Kosmetikkram, damit ich die nächsten Tage nicht wieder in meine Wohnung muss. Aber ich wollte dich nicht überfallen und es ist auch okay für mich, wenn du das nicht möchtest. Du sollst nur wissen, dass die Option besteht … jederzeit.«
Meine Kehle schnürt sich angesichts ihrer Fürsorglichkeit und Rücksichtnahme zu. Dass sie mir die Wahl lässt und Verständnis zeigt, bedeutet mir mehr, als sie ahnen kann. Ich drücke einen Kuss auf ihre Stirn und presse sie danach mit meiner freien Hand auf ihrem Rücken fester an mich. Ein Teil von mir will allein sein und sich verkriechen, aber ich widerstehe diesem Impuls, denn gleichzeitig habe ich genau davor Angst. Auf mich gestellt habe ich nichts, was mich ablenkt, dann sind es wieder nur ich, meine Amok laufenden Gedanken und die Furcht, mein Augenlicht entgegen der Prognose des Augenchirurgen doch zu verlieren. Verzweiflung macht anfällig und das kann einen zu Dummheiten verleiten.
»Fürs Erste wäre ich froh, wenn du hierbleibst … ich würde vorschlagen, wir holen deinen Kram rauf, ehe die Reporter Wind davon bekommen haben, dass ich nicht länger im Krankenhaus bin.«
Hope löst sich mit einem Lächeln von mir. »Du bleibst hier, das erledige ich schnell.« Sie hat recht, für den Fall, dass unten inzwischen bereits jemand lauert, ist es so klüger.
Während sie mit dem Aufzug wieder hinabfährt, begebe ich mich zögerlich in das Badezimmer. Es kostet mich mehrere tiefe Atemzüge, bis ich so weit bin, mich mit gesenktem Kopf vor den Spiegel zu stellen. Stumm ermahne ich mich, nicht so eine Pussy zu sein, so schlimm wird es schon nicht werden. Langsam hebe ich den Blick, bis ich mein Spiegelbild wahrnehme.
Für einen Augenblick bleibt mir die Luft weg, so krass sieht die wellenförmige Narbe aus, die sich über meine Schläfe hinunter bis zur Mitte meiner Wange zieht. Bislang habe ich sie nur flüchtig gesehen und mit den Fingerspitzen ertastet. Sie ist umrandet von kleineren, oberflächlicheren und verkrusteten Schnittwunden, von denen ich mir im ersten Moment nicht vorstellen kann, dass sie folgenlos abheilen werden. Diese Hälfte meines Gesichts wirkt ein wenig wie eine Kraterlandschaft, dazu kommt die Augenklappe, die mein verletztes Auge bedeckt.
Je länger ich in den Spiegel schaue, desto überforderter fühle ich mich von meinem Anblick, der in mir den Wunsch weckt, mich im Phantom der Oper -Style hinter einer Maske zu verstecken. Fuck, ich benehme mich echt wie so eine verweichlichte Pussy, dabei ist letztlich kaum etwas passiert.