Kapitel 28
Hope
Ich arbeite an dem Tattooentwurf für eine besonders anspruchsvolle Kundin, doch ich kann mich nicht konzentrieren, sodass ich mich irgendwann mit einem entnervten Stöhnen zurücklehne und strecke.
Dad, der gerade dabei ist, einen seiner Stammkunden abzukassieren, dreht sich kurz zu mir um, gleichzeitig tritt Dante zu mir an den Zeichentisch.
»Alles okay?«, hakt mein Cousin in einem fürsorglichen Tonfall nach und runzelt die Stirn, als ich nicke. »Hope, das war eigentlich eine rhetorisch gemeinte Frage, ich weiß , dass nicht alles okay ist. Du musst mich also nicht anlügen.« Er stützt sich mit den Händen auf der Tischkante ab und mustert mich eindringlich, bis ich einknicke, wie jedes verdammte Mal. Dante ist echt ein Meister darin, mir Dinge aus der Nase zu ziehen, über die ich gar nicht reden möchte.
»Jesse«, murmele ich, als würde das alles erklären. »Seit dem Vorfall verändert er sich und ich habe den Eindruck, dass es mit jedem verstreichenden Tag bloß schlimmer statt besser wird.« Der Übergriff auf ihn ist inzwischen knapp drei Wochen her, aber was seinen emotionalen Zustand angeht, fühlt es sich an, als würde die Zeit rückwärts laufen.
Mein sonst so gelassener und in sich ruhender Freund ist gereizt und nervös, fährt wegen jeder Kleinigkeit aus der Haut und zieht sich sowohl von mir als auch seinen Bandkollegen zurück. Die Jungs bekommen ihn zwar wegen der Studioaufnahmen und den Arbeiten am zweiten Album nahezu tagtäglich zu sehen, doch Landon hat mir verraten, dass er mit keinem von ihnen groß spricht, gleichgültig, was sie versuchen. Das Label hat ihnen angesichts der Geschehnisse eine Fristverlängerung zur Fertigstellung gewährt, diese möchte die Band nach Möglichkeit jedoch nicht ausreizen.
»Dieser … Anschlag ist nichts, was man mal eben so wegsteckt, egal, wie tough man üblicherweise ist«, klinkt sich Dad ein, der inzwischen ebenfalls zu mir gekommen ist. »Jesse will das vermutlich nicht wahrhaben, aber solange er sich damit nicht auseinandersetzt, wird er auf der Stelle treten.« Mein Vater hat in jüngeren Jahren so einiges durchmachen müssen und weiß, wovon er spricht. Bis Mom in sein Leben getreten ist, hat er einen auf Einsiedlerkrebs gemacht und auch sie hat sich ganz schön an ihm die Zähne ausgebissen, bis er sie hineingelassen hat. »Hinzu kommt bei deinem Freund wahrscheinlich noch, dass er das Gefühl hat, er würde sich anstellen. Er ist ein Kerl, es war bloß ein Schlag mit einer Bierflasche, kein Riesending.« Dad zuckt mit den Schultern. »Scheiße, aber wahr, so tickt unsere Gesellschaft. Den Rattenschwanz, der dahintersteckt, sieht kaum jemand.«
Traurigkeit breitet sich in mir aus, weil ich mir ausmale, was Jesse gerade durchmacht. Dass ich ihm nicht helfen kann beziehungsweise er das gar nicht zulässt, ist mir bewusst, trotzdem wird mein Herz deswegen schwer. Ich will für ihn da sein, ich möchte ihm zurückgeben, was er für mich getan hat, aber er schließt mich aus. Schuldbewusst denke ich, dass ich auf gewisse Art und Weise dasselbe gemacht habe, als er um mich gekämpft hat. Die Situation an sich war eine völlig andere, doch ich habe ihn ebenfalls immer wieder zurückgewiesen, aus Angst davor, dass mir noch einmal wehgetan wird.
»Soll ich mal mit ihm reden?«, schlägt Dad vor und mein Blick weitet sich.
»Bloß nicht!«, platzt es unbeherrscht aus mir heraus. »Sorry, das meine ich nicht böse, aber schlägst du jetzt bei ihm auf, wird er das Gefühl bekommen, ich schicke dich vor.« Es ist liebgemeint, ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich es durch so eine Aktion nicht nur schlimmer mache. »Vielleicht braucht er einfach noch etwas Zeit, bis er von sich aus darüber spricht.« Wie wenig ich von meinen eigenen Worten überzeugt bin, erkennt man ganz genau an meinem unsicheren Tonfall.
»Was ist denn mit seinem Tattoo?«, wechselt Dante das Thema.
Ich ziehe die Nase kraus. »Was soll damit sein?« Eigentlich hätte die abschließende Sitzung schon längst stattgefunden, aber nach diesem Übergriff auf ihn wollte ich ihm deswegen nicht auf die Nerven gehen.
»Das ist eine gute Idee, Dante. Du könntest ihn unter diesem Vorwand hierherlocken und ich ihn ganz natürlich in ein Gespräch verwickeln.« Dad lässt nicht locker, typisch Ex-Militär.
»Jesse ist doch nicht blöd, der wird sofort merken, woher der Wind weht. Erst recht, wenn das Gesprächsangebot von dir kommt. Du warst bis vor kurzem nicht mal mit ihm einverstanden, warum sollte er sich nun ausgerechnet dir anvertrauen?« Ich mag mich selbst nicht, wenn ich so zickig bin, dennoch hebe ich parallel zu meinen Worten provokant eine Augenbraue. »Du hast ihn verschleppt, um ihm …«
Dad lacht so herzhaft los, dass ich innehalte. »Quatsch, ich habe das getan, was jeder gute Vater an meiner Stelle getan hätte. Verschleppt … wir waren nicht mal raus aus Toronto!« Er beugt sich zu mir und sein Blick wird stechend. »Hat er dir das etwa aufgetischt? Oder ist das deiner überschäumenden Fantasie entsprungen, weil er dir nichts weiter verraten wollte, hm?« Mist, war ja klar, dass er mich sofort durchschaut.
»Ach Dad … ich denke einfach, wenn er nicht einmal mit seinen engsten Freunden oder mir spricht, warum sollte er es dann mit dir?« Die Band macht es ebenso fertig wie mich, dass er die Mauern so hochgezogen hat und niemanden an sich heranlässt. Hinzu kommt, dass sie selbst nicht weniger unter Schock stehen und diese Sache erstmal verarbeiten müssen. Meiner Meinung nach könnten sie das am besten gemeinsam, so lange Jesse so blockt, ist das allerdings ein Ding der Unmöglichkeit.
Dante und er schauen einander kurz an und ich verdrehe die Augen. Dad als sein Onkel und er haben sich praktisch vom Tag seiner Adoption durch Evan und Quinn an blind verstanden und kommunizieren oft auf diese Art miteinander.
»Manchmal ist es einfacher, mit jemandem zu sprechen, der einem nicht so nahesteht«, sagt Dante, während mein Vater zustimmend nickt.
»Hab Geduld mit ihm, diese Frau hat ihm etwas genommen, das er bis dahin für selbstverständlich gehalten hat«, ergänzt Dad. »Wie geht es in der Hinsicht weiter?« Die Anwälte der Band haben ordentlich Druck gemacht, damit es zeitnah zu einem Abschluss des Ermittlungsverfahrens kommt.
»Wahrscheinlich läuft es auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft hinaus. Ihr Verteidiger hat ein Angebot unterbreitet, dass sie sich schuldig bekennt und freiwillig in eine entsprechende Einrichtung begibt, in der sie stationär therapiert wird. Wie ihr wisst, ist sie bislang ein unbescholtenes Blatt, also ist das wohl das Beste, was Jesse bekommen wird.« Seufzend stütze ich die Ellenbogen auf dem Zeichentisch auf und das Kinn in meine Hände. »Für ihn ist es bestimmt leichter, ein Gerichtsverfahren und der damit verbundene Rummel wären schwerer zu ertragen. Das Label würde es sicher publicityträchtig nutzen, aber so ist es allen übrigen Beteiligten lieber.«
Wie jedes Mal, wenn ich an die Plattenfirma von Rising Phoenix denke, ergreift mich die blanke Wut. Ihre Fahrlässigkeit hat letztlich maßgeblich dazu beigetragen, dass es so weit gekommen ist. Von Saint weiß ich, dass sich Ash insgeheim große Vorwürfe macht, weil er glaubt, er hätte diesen Part nicht komplett abgeben dürfen, aber das sehe ich anders. Er kann sich nicht vierteilen und durfte darauf vertrauen, dass das Label im Interesse der Band handelt.
»Danke für euer Ohr«, murmele ich rasch, als die Tür aufgeht und Dantes sowie Dads nächste Kunden zeitgleich das Walker Ink betreten. Die zwei nicken, mein Vater streichelt mir noch kurz über den Rücken, danach lassen sie mich allein.
Ein Blick auf die Wanduhr verrät mir, dass Jesse sicher nach wie vor im Studio ist. Meist arbeitet er bis spät in die Nacht und verschwindet bereits im Morgengrauen wieder. Sein Auge ist gut abgeheilt, zwar bleibt eine verminderte Sehkraft zurück, die dazu führt, dass er in gewissen Situationen eine Brille braucht, doch insgesamt hat er Glück gehabt. Die Narbe an seiner Schläfe und Wange sieht ebenfalls schon deutlich besser aus … aber ganz anders ist es mit den Narben auf seiner Seele, die er vor uns allen verbirgt.