Ich bin weiß Gott kein einfacher Mensch, aber im
Vergleich zu Oppenheimer doch sehr, sehr einfach.
Isidor I. Rabi
Gegen Ende seines einjährigen Aufenthalts in Göttingen zeigte Oppenheimer unübersehbare Zeichen von Heimweh. In gelegentlichen Bemerkungen über deutsche Eigentümlichkeiten hörte er sich an wie ein amerikanischer Chauvinist. »Er geht einfach zu weit«, beschwerte sich ein holländischer Student, »sogar die Blumen, findet er, riechen in Amerika besser.« 151 Am Abend vor seiner Abreise hatte er in seine Wohnung eingeladen, viele Leute kamen, um sich zu verabschieden, unter ihnen auch die dunkelhaarige Charlotte Riefenstahl. Robert schenkte ihr den schweinsledernen Koffer, der ihr so gefallen hatte, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Dreißig Jahre war er in ihrem Besitz, genannt »Der Oppenheimer«.
Nach einem kurzen Abstecher mit Paul Dirac nach Leiden ging Robert Mitte Juli 1927 in Liverpool an Bord eines Schiffes nach New York. Es tat ihm gut, wieder zu Hause zu sein. Er hatte nicht nur überlebt, sondern Triumphe gefeiert und einen schwer verdienten Doktortitel im Gepäck. In Physikerkreisen wusste man, dass der junge Oppenheimer den neuesten Stand der Quantenmechanik aus erster Hand kannte. Auf seinem Gebiet war Robert kaum zwei Jahre nach dem Abschluss seines Grundstudiums in Harvard ein aufgehender Stern.
Im Frühjahr war er ermutigt worden, eines der Stipendien anzunehmen, das der National Research Council mit Mitteln der Rockefeller-Stiftung an vielversprechende junge Wissenschaftler vergab. Er hatte angenommen und beschloss, das Herbstsemester in Harvard zu verbringen, bevor er ans California Institute of Technology (Caltech) wechselte; dieses führenden Forschungszentrum in Pasadena, Kalifornien, hatte ihm einen Lehrauftrag angeboten. So packte er im Elternhaus am Riverside Drive die Koffer aus, wusste aber, dass seine nächste Zukunft geregelt war. Bis dahin blieben ihm sechs Wochen, um seinem inzwischen fünfzehnjährigen Bruder Frank wieder näherzukommen und seine Eltern zu besuchen.
Zu Roberts Bedauern hatten Julius und Ella Oppenheimer im vergangenen Winter das Haus in Bay Shore verkauft. Da sein Segelboot, die Trimethy, aber noch in der Nähe des Hauses lag, nahm Robert, wie er es auch früher häufig getan hatte, Frank mit auf einen wilden Törn vor den Küsten Long Islands. Im August verbrachten die Brüder einen Kurzurlaub bei ihren Eltern in Nantucket. »Mein Bruder und ich«, berichtete Frank, »malten in diesen Tagen viel mit Öl auf Leinwand, besonders die Dünen und die grasbewachsenen Hügel.« 152 Frank verehrte seinen Bruder. Anders als dieser hatte er geschickte Hände und bastelte gern, zerlegte Elektromotoren und Uhren und baute sie wieder zusammen. In der Ethical Culture School zeigte auch er eine Vorliebe für Physik. Bevor Robert nach Harvard abgereist war, hatte er ihm sein Mikroskop überlassen, und Frank hatte es einmal benutzt, um sein Sperma zu untersuchen: »Ich wusste nicht, was Sperma war, es war wirklich eine wundervolle Entdeckung.« 153
Im Spätsommer hörte Robert zu seiner Freude, dass Charlotte Riefenstahl eine Stelle am Vassar College angenommen hatte. Als ihr Schiff im September in New York eintraf, erwartete er sie am Hafen. Mit ihr kamen zwei weitere erfolgreiche ehemalige Göttinger Studenten – Samuel Goudsmit, George Uhlenbeck und dessen Frau Else. Die beiden Physiker hatten 1925 den Elektronenspin entdeckt. Robert scheute keine Kosten, um ihnen den Aufenthalt in New York so angenehm wie möglich zu machen. Goudsmit berichtete: »Er bewirtete uns alle im echt Oppenheimer’schen Stil, was aber nur wegen Charlotte geschah. Wir wurden von einer großartigen chauffierten Limousine abgeholt und ins Stadtinnere gefahren, in ein Hotel, das Oppenheimer in Greenwich Village ausgesucht hatte.« 154 In den nächsten Wochen zeigte er Charlotte New York, führte sie zu allen seinen Lieblingsplätzen, von den großen Kunstgalerien bis zu den teuersten Restaurants. Charlotte protestierte: »Ist das Ritz wirklich das einzige Hotel, das du kennst?« 155 Und als Zeichen, wie ernsthaft seine Absichten waren, führte er sie auch in die große Wohnung am Riverside Drive und stellte sie seinen Eltern vor. Charlotte bewunderte Robert, seine Aufmerksamkeit schmeichelte ihr, zugleich aber spürte sie, wie schwer sie an ihn herankam. Allen ihren Versuchen, etwas über seine Vergangenheit zu erfahren, wich er aus. Sie wiederum fand sein Elternhaus erstickend und überbehütet. Langsam verloren sich die beiden wieder. Charlottes Lehrtätigkeit in Vassar hielt sie von New York fern, er war mit seinem Stipendium an Harvard gebunden. Schließlich kehrte Charlotte nach Deutschland zurück und heiratete 1931 Roberts Studienkollegen Fritz Houtermans. 156
New Mexico rief. Er hatte – wie auch ein Gedicht zeigt, das 1928 in Hound and Horn, dem Literaturmagazin von Harvard, veröffentlicht wurde – eine heftige Sehnsucht nach dem tiefen Mond über der Wüste, nach den elementaren körperlichen Empfindungen, dem heißen Wüstenwind im Gesicht, die während des Sommers im Südwesten seine Lebensgeister geweckt hatten. New Mexico war kein Ort, um bahnbrechend Physik zu betreiben, aber die Stelle am Caltech in Pasadena brachte ihn immerhin in die Nähe der geliebten Wüste. Er suchte die Freiheit von Harvard, wollte heraus aus dem »Gefängnis seines Selbst«, in das er so lange eingesperrt war. Er hatte sich nicht zuletzt darum von der Krise des vergangenen Jahres erholt, weil es ihm gelungen war, einen neuen Anfang zu machen. Korsika, Proust und Göttingen hatten dies ermöglicht; wäre er also in Harvard geblieben, dann wäre das wie ein Schritt zurück gewesen. Kurz nach Weihnachten 1927 packte er die Koffer und reiste nach Pasadena.
Kalifornien gefiel ihm. Schon nach wenigen Monaten schrieb er Frank: »Ich habe kaum Zeit für die Arbeit gefunden, so nett ist Pasadena, und Hunderte von netten Leuten schlagen dauernd nette Unternehmungen vor. Ich überlege derzeit, ob ich nächstes Jahr eine Professorenstelle an der University of California annehmen oder ins Ausland gehen soll.« 157
Trotz seiner Lehrverpflichtungen am Caltech und Pasadenas Zerstreuungen veröffentlichte Oppenheimer 1928 sechs Artikel über verschiedene Aspekte der Quantenmechanik. Diese Produktivität war umso bemerkenswerter, als ihm ein Arzt in diesem Frühjahr eröffnete, sein ständiger Husten könne das Symptom einer Tuberkulose sein. So brach er, nach Abschluss eines Seminars zur theoretischen Physik in Ann Arbor, Michigan, im Juni auf in die trockene Bergluft New Mexicos. Im Frühjahr hatte er bei seinem Bruder angefragt, ob sie sich in diesem Sommer nicht gemeinsam »zwei Wochen in der Wüste herumtreiben sollten«. Robert kümmerte sich inzwischen fast wie ein Vater um seinen Bruder, er wollte ihm helfen, die rauen Untiefen der Adoleszenz zu umschiffen – eine schwierige Fahrt, wie er selbst nur zu gut wusste. Als ihm Frank gestand, er habe sich vom anderen Geschlecht vom Studium ablenken lassen, riet ihm der Bruder, er möge keine Zeit mit Verabredungen verschwenden: »Mach Dir keine Gedanken über Mädchen, wenn es nicht sein muss: Glaube nicht, das sei eine Pflicht . Versuche herauszufinden, indem Du Dich selbst beobachtest, was Du wirklich willst; wenn Du dazu stehst, versuch es zu bekommen, wenn nicht, versuch, drüber hinwegzukommen.« Das sei die Erkenntnis aus seinen eigenen erotischen Experimenten, aber: »Du bist noch sehr jung, doch sehr viel reifer als ich damals.« 158
Damit hatte Robert recht. Frank, mit den gleichen eisblauen Augen und den buschigen Haaren Roberts, so schlaksig wie alle Oppenheimers und bald über eins achtzig groß, war in mancher Hinsicht intellektuell ebenso begabt wie sein Bruder, aber frei von dessen drängend nervöser Energie. Wo Robert manchmal wie besessen wirkte, da strahlte Frank eine große Ruhe aus und war stets ausgeglichen. Als Heranwachsender hatte er mit seinem Bruder kaum direkten Kontakt, sie schrieben sich Briefe oder gingen in den Ferien gemeinsam segeln. Auf der Reise nach New Mexico, die sie ohne ihre Eltern unternahmen, entstand eine enge Beziehung zwischen Frank und seinem mittlerweile erwachsenen Bruder.
In Los Pinos kampierten die Brüder auf Katherine Pages Ranch, und trotz seines ständigen Hustens wollte Robert unbedingt eine Reihe von Ausritten in die Berge unternehmen. Als Proviant packten sie Erdnussbutter, Artischocken in Dosen, Wiener Würstchen sowie Kirschwasser und Whiskey in die Satteltaschen. Unterwegs erzählte Robert seinem Bruder begeistert von seinen Erfahrungen mit der Physik und der Literatur. 159 Abends holte er eine zerlesene Baudelaire-Ausgabe heraus und las im Schein des Lagerfeuers laut vor. Zu Roberts Lektüre gehörte auch Der ungeheure Raum, E.E. Cummings’ 1922 erschienener Roman über seine viermonatige Kriegsgefangenschaft in Frankreich. Ihm gefiel Cummings’ Ansicht, dass man, wenn man alles verloren hat, auch unter den spartanischsten Bedingungen Frieden finden könne. Der Roman sollte nach 1954 noch einmal neue Bedeutung für ihn gewinnen.
Frank bemerkte, dass die Leidenschaften seines Bruders stets sehr flüchtig waren. Robert schien die Menschen einzuteilen in solche, die seine Zeit wert waren, und andere, die es nicht waren. »Für die erste Gruppe«, so Frank, »war das wunderbar. … Robert wollte, dass alles und jeder etwas Besonderes sei. … Wenn er jemanden seiner Freundschaft für würdig befand … machte er ihnen kleine Freuden, beschenkte sie. Er konnte nicht langweilig sein. Konnte sich sogar für eine Zigarettenmarke begeistern und sie zu etwas ganz Besonderem machen. Seine Sonnenuntergänge waren immer die besten.« 160
Im Juli nahm Katherine die Brüder mit auf einen Ausritt hoch in die Berge über Los Pinos. Sie überquerten einen Pass auf über dreitausend Metern Höhe und kamen auf eine mit dickem Klee und roten Bergblumen bedeckte Wiese am Grass Mountain. Gelb- und Weißkiefern rahmten den prächtigen Blick auf die Berge des Sangre de Cristo und den Pecos River. Auf dieser grünen Hochebene stand ein einfaches Blockhaus. An der einen Wand befand sich eine Feuerstelle aus Lehm, eine enge Holztreppe führte hinauf zu zwei kleinen Schlafzimmern. Die Küche hatte Spüle und Holzofen, aber kein fließendes Wasser, und das einzige Bad lag draußen am Ende einer überdachten Veranda. 161
»Gefällt’s dir hier?«, fragte Katherine. Robert nickte, und sie erzählte ihm, die Hütte sei, einschließlich sechzig Hektar Weideland mit Bach, zu vermieten. »Hot Dog!«, rief Robert aus. »Nein, Perro Caliente«, flachste Katherine. Im Winter überredeten die Brüder ihren Vater, die Ranch für vier Jahre zu pachten. Sie nannten sie Perro Caliente (spanisch für Hot Dog). Tatsächlich lief der Pachtvertrag bis 1947, als Oppenheimer das Anwesen für 10000 Dollar erwarb. Für die kommenden Jahre wurde die Ranch zu Roberts privatem Zufluchtsort. 162
Nach zwei Wochen in New Mexico trafen sich die Brüder im Frühherbst 1928 mit ihren Eltern im luxuriösen Broadmoor Hotel in Colorado Springs. Robert und Frank nahmen einige Fahrstunden und kauften einen gebrauchten Sportzweisitzer, einen Sechszylinder-Chrysler, mit dem sie nach Pasadena fahren wollten. Nach einigen Missgeschicken, so Frank, »kamen wir schließlich an«. 163 Bei Cortez, Colorado, geriet das Auto – er, Frank, habe am Steuer gesessen – auf losem Kies ins Schleudern und landete kopfüber in einem Wassergraben. Die Windschutzscheibe war zerborsten, das Stoffdach ruiniert. Robert brach sich den rechten Arm und zwei Knochen im rechten Handgelenk. 164
Als sie endlich in Pasadena ankamen, ging Robert sofort zum Bridge-Labor des Caltech. Den Arm in einer hellroten Schlinge, unrasiert und ziemlich abgerissen trat er ein und sagte: »Ich bin Oppenheimer.« – »Oh, Sie sind Oppenheimer?«, antwortete Charles Christian Lauritsen. Ihm erschien der Besucher eher wie ein Landstreicher, nicht wie ein Collegeprofessor, sagte dann aber: »Dann können Sie mir helfen. Warum macht der verdammte Kaskadengenerator, den ich hier zusammengebastelt habe, eigentlich nicht, was ich will?« 165
Tatsächlich war Oppenheimer nur nach Pasadena zurückgekommen, um seine Sachen für eine Europareise zu packen. Im Frühjahr hatte er attraktive und gutdotierte Stellenangebote von zehn amerikanischen Universitäten erhalten, unter anderem auch von Harvard, und zwei aus dem Ausland. Oppenheimer entschied sich, eine Doppelberufung an die Physik-Fakultäten der University of California in Berkeley und von Caltech anzunehmen. Er sollte dort abwechselnd jeweils ein Semester unterrichten. Für Berkeley sprach, dass in der dortigen Fakultät die Theoretische Physik nicht vertreten war. Von daher sei diese Universität eine »Wüste« gewesen, und ihm sei es reizvoll erschienen, »etwas Neues anzufangen«. 166
Doch zum sofortigen Start fühlte er sich noch nicht bereit. Denn zur gleichen Zeit bewarb er sich um ein Forschungsstipendium, mit dem er noch einmal für ein Jahr nach Europa gehen konnte; und er erhielt es umgehend. Seiner Meinung nach fehlte ihm, besonders in der Mathematik, noch der richtige Schliff. Und den wollte er mit einem einjährigen Postgraduiertenstudium noch erwerben: ein Semester an der Universität Leiden bei Paul Ehrenfest, einem bedeutenden Physiker, das andere möglichst in Kopenhagen in der Hoffnung, Niels Bohr kennenzulernen.
Doch Ehrenfest war nicht auf der Höhe und zerstreut, er litt an periodisch auftretenden depressiven Schüben. 167 Oppenheimer sagte später: »Ich habe ihn wohl nicht besonders interessiert. Alles, woran ich mich erinnere, sind Stille und eine gedrückte Stimmung.« Nachträglich fand er die Zeit in Leiden vergeudet, doch sei dies auch sein Fehler gewesen. Ehrenfest bestand auf Einfachheit und Klarheit, Eigenschaften, deren Wert Oppenheimer noch nicht begriffen hatte. Ehrenfest fand es anstrengend, mit dem jungen Mann zu arbeiten. Max Born hatte seinem Kollegen in Leiden geschrieben: »Nun ist Oppenheimer bei Ihnen. Ich würde gern wissen, was Sie von ihm halten. Ihr Urteil sollte sich nicht von der Tatsache beeinflussen lassen, dass ich nie mit jemandem so viel zu leiden hatte wie mit ihm. Er ist zweifellos sehr begabt, aber ohne jede geistige Disziplin. Nach außen ist er sehr bescheiden, im Grunde genommen aber ziemlich arrogant.« Ehrenfests Antwort ist leider verloren, aber Borns nächster Brief gibt weiteren Aufschluss: »Ihre Informationen waren sehr wertvoll für mich. Ich weiß, dass er ein feiner und anständiger Mensch ist, aber das nützt nicht viel, wenn einem jemand auf die Nerven geht.« 168
Nur sechs Wochen nach seiner Ankunft hielt Oppenheimer zum Erstaunen seiner Kollegen einen Vortrag auf Holländisch, eine weitere Sprache, die er sich selbst beigebracht hatte. 169 Seine holländischen Freunde waren so beeindruckt von seiner schwungvollen Vortragsweise, dass sie anfingen, ihn mit einer liebevollen Zusammenziehung seines Nachnamens »Opje« zu nennen – ein Spitzname, den er sein ganzes Leben trug. 170 Daran, dass ihm der Umgang mit einer neuen Sprache so leicht fiel, ist vielleicht eine Frau nicht unbeteiligt: Wie der Physiker Abraham Pais erzählte, hatte Oppenheimer eine Affäre mit einer jungen Holländerin namens Suus.
Lange kann das allerdings nicht gedauert haben, denn Oppenheimer entschloss sich, Leiden zu verlassen, es zog ihn nach Kopenhagen. Doch Ehrenfest konnte ihn überzeugen, dass es vorteilhafter für ihn wäre, wenn er zu Wolfgang Pauli in der Schweiz ginge. »Um seine große wissenschaftliche Begabung weiterzuentwickeln«, schrieb Ehrenfest an Pauli, »braucht Oppenheimer jetzt eine in aller Liebe harte Hand! Er verdient eine derartige Behandlung … weil er ein ausgesprochen liebenswerter Kerl ist.« 171 Ehrenfest schickte seine Studenten eigentlich immer zu Bohr. Aber in seinem Fall, so Oppenheimer, sei Ehrenfest sich sicher gewesen, »dass Bohr mit seiner Größe und Vagheit nicht die richtige Medizin für mich war, ich brauchte vielmehr einen solide rechnenden Physiker wie Pauli. Ich glaube, er benutzte den Ausdruck herausprügeln … Ganz klar, er hat mich zu ihm geschickt, damit ich lernte, etwas professioneller vorzugehen.« 172
Oppenheimer lernte Pauli mit der Zeit schätzen. »Er war so sehr Physiker«, scherzte er, »dass die Dinge auseinanderfielen oder in die Luft gingen, sobald er das Labor betrat.« Pauli war nur vier Jahre älter als Oppenheimer und hatte sich 1920, ein Jahr bevor er in München promovierte, mit der Veröffentlichung eines zweihundert Seiten langen Aufsatzes über die Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie einen Namen gemacht. Auch Pauli liebte zu streiten, konnte beißend spöttisch sein. Wie Oppenheimer sprang er, wenn er an einem Argument auch nur das Geringste auszusetzen hatte, sofort auf und stellte aggressive Fragen. Von anderen Physikern sagte er geringschätzig, ihre Ausführungen seien »noch nicht einmal falsch«; über einen Kollegen spottete er: »So jung und schon so unbekannt.« 173
Pauli schätzte Oppenheimers Fähigkeit, auf den Kern eines Problems zu kommen, wurde aber ärgerlich, wenn er zu unaufmerksam mit Details umging: »Seine Ideen sind immer sehr interessant, aber seine Berechnungen stets falsch.« 174 Nachdem er einmal bei einem Vortrag Oppenheimers gehört hatte, wie dieser nach Worten suchend »nim-nim-nim« vor sich hin murmelte, nannte ihn Pauli den »Nim-nim-nim-Mann«. 175 Gleichwohl, Pauli war fasziniert von diesem komplizierten jungen Amerikaner. Seine Stärke, schrieb er an Ehrenfest, »ist, dass er viele und gute Ideen, überhaupt viel Phantasie hat. Seine Schwäche, dass er sich viel zu rasch mit mangelhaft begründeten Behauptungen begnügt, seine eigenen, oft recht interessanten Fragen aus Mangel an Ausdauer und Gründlichkeit nicht beantwortet. … Leider hat Oppenheimer eine sehr schlechte Eigenschaft: Er steht mir mit einem ziemlich unbedingten Autoritätsglauben gegenüber und sieht alles, was ich sage, … als letzte und endgültige Wahrheit an. … wie ich ihm das abgewöhnen kann, weiß ich nicht.« 176
In diesem Frühjahr verbrachte Oppenheimer viel Zeit mit seinem Kommilitonen Isidor I. Rabi. »Wir verstanden uns sehr gut«, so Rabi, »waren Freunde bis zu seinem Tod. Ich mochte vieles an ihm, was anderen nicht so gut gefiel.« 177 Auch Rabi, sechs Jahre älter als Oppenheimer, stammte aus New York, allerdings aus einem New York, das Robert in seinem luxuriösen Leben am Riverside Drive nie kennengelernt hatte. Rabis Familie wohnte in einer Zweizimmerwohnung in der Lower East Side, der Vater war Arbeiter, die Familie arm. Und ebenfalls im Unterschied zu Oppenheimer war er sich seiner jüdischen Identität sicher. Die Rabis waren orthodoxe Juden, und Gott gehörte in ihr tägliches Leben. Dazu Rabi selbst: »Selbst in zufälligen Gesprächen kam Gott vor, nicht in jedem Abschnitt, eher schon in jedem Satz.« 178 Mit zunehmendem Alter verlor er seine religiöse Bindung, aber Probleme hatte er mit seinem Judentum nie. Sogar in Deutschland mit seinem zunehmenden Antisemitismus stellte er sich freimütig als Ostjude vor, gerade weil galizische Juden am unbeliebtesten waren. Oppenheimer dagegen hängte sein Judentum nie an die große Glocke. Jahrzehnte später glaubte Rabi zu wissen, warum: »Oppenheimer war Jude, aber er wünschte, es nicht zu sein, und tat so, als ob er es nicht wäre. … Die jüdische Tradition ist, auch wenn man sie nicht genau kennt, so stark, dass man sie nur auf eigene Gefahr verleugnen kann. Das heißt nicht, dass man orthodox oder auch nur praktizierender Jude sein muss, sondern dass man in Schwierigkeiten gerät, wenn man da hineingeboren ist und sich dann vollkommen davon abwendet. Der arme Robert, ein Experte in Sanskrit und französischer Literatur … [hier verlor sich Rabi in stillem Nachdenken].« Sein Freund habe es »nie zu einer ausgeglichenen, mit sich identischen Persönlichkeit gebracht. Das kommt manchmal vor, es geht vielen Leuten so, besonders aber, wegen ihrer Situation, brillanten Juden. Wenn jemand große Fähigkeiten auf vielen verschiedenen Gebieten hat, dann ist es schwer, sich für eine zu entscheiden. Er wollte alles. Er erinnerte mich sehr an einen Jugendfreund, einen Rechtsanwalt, von dem jemand sagte: ›Er wäre gern Präsident der Knights of Columbus und von B’nai B’rith.‹ Ich bin weiß Gott kein einfacher Mensch, aber im Vergleich zu Oppenheimer doch sehr, sehr einfach.« 179 Rabi mochte Robert sehr, konnte einem Freund aber auch empört erklären: »Oppenheimer? Ein reicher verwöhnter Judenbalg aus New York.« Diesen Typus glaubte Rabi zu kennen. »Er war ein Jude aus Deutschland, und diese Juden begannen, die deutsche Kultur über ihre eigene zu stellen. Das kann man gut sehen an den eingewanderten polnischen Juden und ihrem primitiven Gottesdienst. … Ich weiß nicht, ob er sich selbst als Juden betrachtete. Ich glaube, er versuchte sich einzureden, er sei gar kein Jude. Einmal sagte ich ihm, wie rätselhaft ich die christliche Religion fände, diese Mischung aus Blut und Sanftheit. Er antwortete mir, das genau sei es, was ihn daran interessiere.« 180
Trotz ihrer Differenzen entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen Rabi und Oppenheimer. Nochmals Rabi: »Ich war nie in der gleichen Klasse wie er, bin nie einem Menschen begegnet, der so klug war wie er.« 181 Dennoch, nie stand zwischen den beiden in Frage, dass auch Rabi ein hervorragender Kopf war. Dazu Oppenheimers Student Wendell Furry: »Rabi war ein großer Experimentator, aber auch in der Theorie nicht gerade eine Niete.« In den exklusiven Physikerkreisen galt Rabi als tiefer Denker und Oppenheimer als derjenige, der die großen Synthesen lieferte. Beide zusammen waren großartig. 182
Ihre Freundschaft ging über die Physik hinaus. Rabi teilte Oppenheimers Interesse an Philosophie, Religion und Kunst: »Wir fühlten eine gewisse Verwandtschaft.« Es sei eine der seltenen Freundschaften gewesen, die in der Jugend geschlossen werden und lange Trennungen überdauern: »Man fängt da wieder an, wo man aufgehört hat.« 183 Rabis Offenheit schätzte Oppenheimer besonders, denn, so Rabi: »Ich habe ihm nie geschmeichelt, war immer ehrlich zu ihm.« »Anregend, sehr anregend« sei er gewesen. Im Lauf der Jahre und besonders in Zeiten, in denen sich die meisten Leute durch Oppenheimer eingeschüchtert fühlten, war Rabi vielleicht der Einzige, der ihm geradeheraus sagen konnte, dass er sich dumm verhalten hatte. An seinem Lebensende bekannte Rabi: »Oppenheimer bedeutete mir immer sehr viel. Er fehlt mir.«
Rabi wusste, dass sich sein Freund in Zürich mit der schwierigen Aufgabe abmühte, die Opazität (Undurchlässigkeit) der Oberflächen von Sternen für ihre innere Strahlung zu berechnen, aber Robert habe nicht davon reden wollen, sondern stets eine »nonchalante Miene« aufgesetzt. 184 Mit Freunden sprach er nicht gern über Physik; lebhaft sei er geworden, wenn die Rede auf Amerika kam. Als der junge Schweizer Physiker Felix Bloch einmal in Oppenheimers Zürcher Wohnung zu Besuch war, bewunderte er den schönen Navajoteppich auf dem Sofa. Und sofort habe Robert eine lange Rede über die Vorteile Amerikas gehalten. »Es war ganz deutlich, wie sehr Oppenheimer sein Land liebte«, so Bloch, »seine Anhänglichkeit war unmissverständlich.« Auch über Literatur konnte sich Robert ausführlich verbreiten, »vor allem über die klassischen hinduistischen Texte und die eher esoterischen westlichen Schriftsteller«. Pauli witzelte mit Rabi, für Oppenheimer sei »die Physik anscheinend eine Neben- und die Psychoanalyse die Hauptbeschäftigung«.
Als Robert im Juni 1929 nach Amerika zurückkehrte, hatte er sich aufgrund seiner Beiträge zur theoretischen Physik einen internationalen Ruf erworben. 185 Zwischen 1926 und 1929 veröffentlichte er sechzehn Aufsätze, ein enormer Ausstoß für einen Wissenschaftler. Er war zu jung gewesen, um am Durchbruch der Quantenmechanik in den Jahren 1925 und 1926 aktiv mitzuwirken, an ihrer zweiten Welle aber hatte er, unter Wolfgang Paulis Anleitung, aktiven Anteil. Er war der erste Physiker, der die Grundprobleme der Funktionen von Kontinuumswellen meisterte. Sein originellster Beitrag, so der Physiker Robert Serber, war seine Theorie der Feldemission, mit der er die von einem sehr starken Feld induzierten Elektronenemissionen aus Metallen darstellen konnte. Außerdem erzielte er einen Durchbruch bei der Berechnung des Absorptionskoeffizienten von Röntgenstrahlen sowie der elastischen und der unelastischen Streuung von Elektronen.
Was aber bedeutete dies alles für die Menschheit und ihre praktischen Interessen? So unverständlich – heute wie damals – die Quantenmechanik für den Normalbürger auch sein mag, sie erklärt unsere physikalische Welt. »Die Natur«, so der Physiker Richard Feynman, »wie sie die [Quantenmechanik] beschreibt, erscheint dem gesunden Menschenverstand absurd. Dennoch decken sich Theorie und Experiment. Und so hoffe ich, dass Sie die Natur akzeptieren können, wie sie ist: absurd.« 186
In den folgenden Jahrzehnten ermöglichte die Quantenmechanik den Durchbruch zu vielen praktischen Erfindungen, die das heutige digitale Zeitalter bestimmen: Atomkraft, Computer, Genetik und Lasertechnik. Der junge Oppenheimer liebte die Quantenmechanik wegen ihrer Schönheit und ihrer Abstraktionen, tatsächlich aber setzte sie eine Revolution in Gang, in deren Verlauf sich der Umgang der Menschen mit der Welt von Grund auf veränderte.