Ich glaube, die Welt, in der wir die nächsten dreißig Jahre leben werden, wird sehr unruhig und schmerzhaft werden, und ich glaube nicht, dass da viel Raum sein wird für einen Kompromiss zwischen von dieser Welt zu sein und nicht von dieser Welt zu sein.
J. Robert Oppenheimer, 10. August 1931
Roberts Zeit in Zürich war produktiv und anregend, aber wie immer, wenn der Sommer kam, sehnte er sich nach der Heiterkeit und kräftigenden Ruhe von Perro Caliente. Er hatte jetzt einen Lebensrhythmus gefunden: intensive geistige Arbeit, manchmal bis zum Rand der Erschöpfung, anschließend einen Monat oder länger Erholung auf dem Pferderücken in den Bergen des Sangre de Cristo. So schrieb er im Frühjahr 1929 seinem Bruder Frank, er solle die Eltern im Juni in einem bequemen Sommerhaus in Santa Fe unterbringen, einen Freund zu ihrer Ranch mitnehmen und »das Haus in Betrieb nehmen, Pferde holen, kochen lernen, die Hacienda so wohnlich wie möglich herrichten und das Land erkunden«. 187 Er selbst werde Mitte Juli nachkommen. Es bedurfte keiner weiteren Aufforderung. Im Juni kam Frank mit Ian Martin und Roger Lewis, zwei Kameraden aus der Ethical Culture School, nach Los Pinos. Lewis wurde von da an zum regelmäßigen Besucher auf Perro Caliente. 188 Frank nahm sich einen Katalog von Sears Roebuck vor und bestellte per Post: Betten, Möbel, einen Ofen, Töpfe und Pfannen, Bettwäsche und Teppiche: »Wir haben ganz schön zugeschlagen.« 189 Robert brachte zwei Gallonen schwarz gebrannten Whiskey mit, große Mengen Erdnussbutter und eine Tasche voller Wiener Würstchen und Schokolade.
Die nächsten drei Wochen verbrachten er und die Jungen in den Bergen, wandernd und reitend. Nach einem besonders anstrengenden Tag auf dem Pferd schrieb Oppenheimer wehmütig an einen Freund: »Meine beiden großen Lieben sind die Physik und New Mexico. Schade, dass sie sich nicht vereinbaren lassen.« 190 Abends las Robert im Licht einer Colemanlaterne in seinen Physikbüchern und bereitete seine Vorlesungen vor. Einmal waren sie acht Tage lang unterwegs, ritten bis nach Colorado und zurück, eine Strecke von über dreihundert Kilometern. 191 Wenn sie nicht nur Erdnussbutter aßen, kochte Robert Nasi Goreng, ein scharfes indonesisches Reisgericht, das er bei Else Uhlenbeck in den Niederlanden kennengelernt hatte. Es war die Zeit der Prohibition, doch an Whiskey fehlte es Oppenheimer nie. »Wir waren, wenn wir da oben waren, immer ein wenig betrunken«, berichtete Frank, »und trieben ziemlichen Unfug.« 192
Robert überschüttete den Bruder mit Geschenken – am Ende dieses Sommers eine kostbare Uhr, zwei Jahre später ein gebrauchter Packard-Sportzweisitzer –, er nahm sich aber auch Zeit, mit ihm über Liebesangelegenheiten, Musik, Kunst, Physik und seine Gedanken zum Leben zu sprechen: »Warum eine schlechte Philosophie einem so übel mitspielt, liegt daran, dass das, was man zu denken und zu wollen, zu hegen und zu pflegen gelernt hat, darüber entscheidet, was man im Ernstfall tut, es muss also ein Fehler da sein, wenn man eine Sünde in die Welt setzt.« 193
Mitte August schließlich packte Robert mit gemischten Gefühlen seinen Koffer und fuhr nach Berkeley, wo er ein spärlich möbliertes Zimmer im Faculty Club bezog. Frank blieb bis Anfang September in New Mexico, und Robert schrieb ihm, er vermisse jetzt schon die »fröhlichen Zeiten in Perro Caliente«. Doch er hatte seine Vorlesungen vorzubereiten und wollte seine neuen Kollegen kennenlernen: »Das College scheint der Mühe nicht wert, es sei denn, Du kommst nächstes Jahr hierher. Es ist ein schöner Platz, und die Leute sind nett. Ich denke, dass ich mein Zimmer im Faculty Club behalten werde.«
Die University of California in Berkeley hatte Oppenheimer angestellt, damit er die Graduierten in die neue Physik einführe. Niemand, Oppenheimer am allerwenigsten, wäre davon ausgegangen, dass er Studenten im Grundstudium unterrichtete. 194 In seinem ersten Seminar, einem Graduierten-Kurs zur Quantenmechanik, stürzte er sich mitten hinein und versuchte Heisenbergs Unschärferelation, die Schrödingergleichung, Diracs Synthese, die Feldtheorie und Paulis neueste Ideen zur Quantenelektrodynamik zu erklären, alles in einer Veranstaltung. Anfangs waren seine Seminare für die meisten Studenten weitgehend unverständlich. Nur widerwillig reduzierte er sein Tempo, als er hörte, er gehe zu schnell vor, und bald beschwerte er sich beim Dekan seines Fachbereichs: »Das geht so langsam, dass ich nirgendwo hinkomme.« 195
Und doch machte er aus seinen Veranstaltungen jedes Mal ein Ereignis, sie glichen in den ersten ein, zwei Jahren eher einer Liturgie denn einer Physikvorlesung. Manchmal murmelte er mit weicher, fast unhörbarer Stimme, die noch leiser wurde, wenn er etwas besonders deutlich hervorheben wollte. Anfangs stotterte er noch viel. Auch wenn er stets frei sprach, brachte er viele Zitate unter, von berühmten Wissenschaftlern und gelegentlich auch von Dichtern: »Meine Art vorzutragen war sehr schwierig.« 196 Er spielte mit Worten, erfand komplizierte Wortspiele. Ungewöhnlich war seine Fähigkeit, ohne Notizen in vollständigen, fast druckreifen Sätzen zu sprechen. Und in den Pausen, mit denen er seinen Vortrag nach Art eines Textes gliederte, ließ er sein merkwürdiges »Nim-nim-nim« hören. Der unermüdlich treibende Rhythmus seiner Stimme wurde nur unterbrochen, wenn er an seiner Zigarette zog. Ebenso häufig wirbelte er zur Tafel herum und notierte eine Gleichung. »Wir erwarteten jeden Augenblick«, erinnerte sich James Brady, der damals noch am Anfang seines Studiums war, »dass er [mit seiner Zigarette] auf die Tafel schreiben und stattdessen die Kreide rauchen würde, aber das ist, glaube ich, nie passiert.« Als seine Studenten eines Tages den Hörsaal verließen, hielt Oppenheimer einen Freund von Caltech, Professor Richard Tolman, der ganz hinten gesessen hatte, an und fragte ihn, was er von seiner Vorlesung halte. »Nun ja, Robert«, antwortete der, »wunderbar, aber verstanden habe ich kein Wort.« 197
Glenn Seaborg, der spätere Vorsitzende der Atomic Energy Commission (AEC), beschwerte sich über Oppenheimers »Neigung, eine Frage schon zu beantworten, bevor man sie zu Ende gestellt hatte«. 198 Gastredner unterbrach er häufig mit Kommentaren wie: »Nun machen Sie schon. Das ist doch bekannt. Sehen wir zu, dass wir vorankommen.« Dummköpfe – oder nur durchschnittliche Physiker – konnte er nicht ertragen, alle maß er an den eigenen hohen Standards. Damals in Berkeley waren einige durchaus der Meinung, er »terrorisiere« seine Studenten mit seinem Sarkasmus. »Er konnte mit seinen Bemerkungen sehr verletzend sein«, berichtete ein Kollege. Doch mit der Zeit wurde er ein besserer Lehrer und behandelte seine Studenten toleranter. Dazu Harold Cherniss: »Er war immer sehr freundlich und aufmerksam zu Leuten, die nicht sein Niveau hatten, ganz anders als zu denen, die er als etwa gleichrangig betrachtete. Und das reizte die Leute natürlich, ärgerte sie, und er machte sich Feinde damit.« 199
Obwohl, vielleicht auch weil seine Kurse so kompliziert waren, belegten sie manche seiner Studenten mehrfach. Wer durchhielt, konnte sicher sein, dass Oppenheimer Mittel und Wege fand, harte Arbeit zu belohnen. »Man lernte von ihm durch Gespräche und persönlichen Kontakt«, so Leo Nedelsky, »wenn man mit einer Frage zu ihm kam, erklärte er einem alles ganz genau, stundenlang – manchmal bis Mitternacht.« Eine ganze Reihe seiner Doktoranden forderte er auf, mit ihm zusammen Artikel zu schreiben, und sorgte dafür, dass sie als Mitautoren genannt wurden. »Es ist leicht für einen berühmten Wissenschaftler, haufenweise Studenten zu haben, die die Drecksarbeit für ihn machen«, sagte ein Kollege. »Aber Opje half den Leuten bei ihren Problemen und stellte das Ergebnis dann als ihre Leistung hin.« 200 Er hatte nichts dagegen, wenn ihn seine Studenten »Opje« nannten, der Spitzname, den man ihm in Leiden verpasst hatte; ja, er fing selbst an, seine Briefe mit »Opje« zu unterschreiben. Mit der Zeit anglisierten seine Studenten in Berkeley die holländische Kurzform zu »Oppie«.
Nach und nach entwickelte Oppenheimer einen neuen, einzigartig offenen Unterrichtsstil, indem er seine Studenten aufforderte, miteinander zu diskutieren und sich auszutauschen. Anstatt Einzelsprechstunden abzuhalten, forderte er seine acht bis zehn fortgeschrittenen Studenten und die sechs promovierten Forschungsstipendiaten auf, sich in seinem Büro zu versammeln: Zimmer 219, LeConte Hall. Jeder Student hatte einen Stuhl mit einem kleinen Pult. Oppenheimer ging im Raum auf und ab, er selbst hatte keinen Schreibtisch; seine Papiere stapelten sich auf einem Tisch in der Mitte des Raums. Eine von Formeln bedeckte Tafel beherrschte eine Wand. Kurz vor der festgesetzten Zeit bummelten diese jungen Männer (ab und zu auch eine Frau) herein, setzten sich auf eine Tischkante oder lehnten sich gegen die Wand und warteten auf Oppie. Wenn er kam, besprach er mit einem nach dem anderen deren jeweilige Fragen und Probleme und ermunterte alle anderen, auch etwas dazu zu sagen. »Oppenheimer war an allem interessiert«, erinnerte sich Robert Serber, »alle Themen kamen gleichermaßen zur Sprache. So wurde an einem Nachmittag zum Beispiel über Elektrodynamik, kosmische Strahlen und Kernphysik diskutiert.« 201 Was Oppenheimer am meisten interessierte, waren ungelöste Probleme, und damit gab er seinen Studenten das Gefühl, sich stets am Rand des Unbekannten zu bewegen. Mit seinen Methoden wurde Oppenheimer bald zum »Rattenfänger« der theoretischen Physik. Es sprach sich herum; und eigentlich kam für alle, die sich für dieses Gebiet interessierten, nur mehr Berkeley in Frage. »Ich wollte nie eine Schule bilden«, sagte Oppenheimer später, »ich habe mich auch nicht nach Studenten umgesehen. Ich habe nur Propaganda gemacht für die Theorie, die ich liebte.« 202 1934 entschlossen sich drei von fünf Studenten, die vom National Research Council mit Forschungsstipendien in Physik ausgezeichnet worden waren, bei Oppenheimer zu studieren. Allerdings kamen sie nicht nur seinetwegen, sondern auch wegen des Experimentalphysikers Ernest Orlando Lawrence. 203
Lawrence unterschied sich in jeder Hinsicht von Oppenheimer. Er kam aus South Dakota und hatte an den Universitäten von South Dakota, Minnesota, Chicago und in Yale studiert, rundum überzeugt von seiner Begabung. Seine Familie war norwegischen und lutherischen Ursprungs, er selbst aber hatte das unbeschwerte Auftreten eines typischen Amerikaners. Als Collegestudent hatte er seine Studiengebühren bezahlt, indem er auf umliegenden Farmen mit Aluminiumtöpfen und Pfannen hausieren ging. Offen und extrovertiert, war er der geborene Verkäufer, und mit dieser Fähigkeit organisierte er auch seine akademische Karriere. Manche hielten ihn für den typischen Aufsteiger, doch im Unterschied zu Robert war er frei von existentiellen Ängsten oder skrupulöser Selbstbeobachtung. Anfang der 1930er Jahre galt er als bester Experimentalphysiker seiner Generation.
Als Oppenheimer im Herbst 1929 nach Berkeley kam, wohnte auch der achtundzwanzigjährige Lawrence in einem Zimmer des Faculty Club. Die beiden recht jungenhaften Physiker wurden rasch gute Freunde, sprachen fast täglich miteinander, verbrachten oft auch die Abende gemeinsam. An manchen Wochenenden gingen sie reiten, Robert natürlich auf einem Westernsattel, Ernest dagegen, um sich von seiner bäuerlichen Herkunft abzuheben, bevorzugte Reithosen und einen englischen Sattel. Robert bewunderte seinen neuen Freund für dessen »unglaubliche Vitalität und Lebensfreude«. Er sei einer gewesen, der »den ganzen Tag arbeiten, zwischendurch Tennis spielen und dann noch die halbe Nacht weiterarbeiten konnte«. Aber er sah auch, dass Ernests Interessen »vor allem aktiv und pragmatisch« waren, »genau das Gegenteil« seiner eigenen Neigungen. 204 Auch nachdem Lawrence geheiratet hatte, blieb Oppie ein häufiger Gast beim Abendessen, zu dem er Ernests Frau Molly jedes Mal Orchideen mitbrachte. Als Molly Lawrence ihren zweiten Sohn zur Welt brachte, wollte Ernest ihn unbedingt Robert nennen. Molly fügte sich; im Lauf der Zeit jedoch empfand sie immer deutlicher, dass Oppenheimer etwas Unechtes hatte: Er sei ein Mann, hinter dessen affektiert formvollendetem Auftreten sich eine gewisse Leere, ein eher schwacher Charakter verberge. Zu Beginn ihrer Ehe mischte sich Molly nicht in das Verhältnis der beiden Freunde ein, später aber drängte sie ihren Mann, Oppenheimer in einem anderen Licht zu sehen. 205
Lawrence war Meister darin, sich die Geldmittel zu beschaffen, die er brauchte, um seine Vorhaben in die Tat umzusetzen. In den Monaten bevor er Oppenheimer kennenlernte, war er dabei, eine Maschine zu entwickeln und zu bauen, die es erlaubte, in den bis dahin unerreichbaren Atomkern vorzudringen, den man sich, was die Größenverhältnisse angeht, wie eine Fliege in einer Kathedrale vorstellen kann. Doch ist der Atomkern nicht nur winzig und schwer fassbar, sondern auch durch ein elektrisches Potential, die sogenannte Coulombbarriere, geschützt. Um sie zu durchdringen, brauche man, wie die Physiker damals glaubten, einen Strahl von Wasserstoffionen, die auf ein Energieniveau von einer Million Elektronenvolt beschleunigt werden müssten. 1929 noch hielt man es für unmöglich, Protonen derart hoch zu beschleunigen; man kannte bis dahin nur Linearbeschleuniger, und die hätten, um solche Werte zu erzielen, eine unpraktikable Länge erreicht. Lawrence dagegen stellte sich eine kreis- oder spiralförmige Beschleunigung vor, die er mit entsprechend angeordneten elektrischen und Magnetfeldern zu erreichen gedachte. So würden relativ kleine Ladungen von 25000 Volt ausreichen, um Protonen in einem alternierenden elektrischen Feld zu beschleunigen und mit entsprechender Energie zu versehen. Anfang 1931 hatte Lawrence seinen ersten, noch primitiven Teilchenbeschleuniger gebaut, eine Apparatur mit einer kleinen Doppelkammer von neun Zentimetern Durchmesser, in der er Protonen auf eine Energie von 80000 eVolt beschleunigen konnte. 206 Ein Jahr später realisierte er einen gut doppelt so großen Apparat zur Beschleunigung von Protonen auf eine Million eVolt. Und er träumte davon, immer größere Beschleuniger zu bauen, die Hunderte von Tonnen wiegen und einige Zehntausend Dollar kosten würden. Seine Erfindung nannte er »Zyklotron«. Er konnte Robert Gordon Sproul, den Präsidenten der University of California, überreden, ihm ein altes Holzhaus neben der LeConte Hall zu überlassen, neben dem Physikgebäude, das sich am Rand von Berkeleys schönem Campus befand. Lawrence nannte es das Berkeley Radiation Laboratory. Theoretische Physiker überall auf der Welt erkannten bald, dass Lawrence’ »Rad Lab« es ihnen erlauben würde, das Innerste des Atoms zu erforschen. 1939 wurde Lawrence mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet.
Zyklotrone mit sechzig Tonnen schweren Magneten zu bauen kostete viel Geld. Doch Lawrence konnte Mitglieder des Verwaltungsrats der University of California dazu bewegen, ihn finanziell zu unterstützen, darunter der Ölunternehmer Edwin Pauley, der Bankier William H. Crocker und John Francis Neylan, ein landesweit bekannter politischer Drahtzieher und Berater des Zeitungsmoguls William Randolph Hearst. 207 Universitätspräsident Sproul wiederum führte Lawrence in San Franciscos exklusiven Bohemian Club ein, dem Kaliforniens einflussreichste Geschäftsleute und Politiker angehörten. Der Club wäre nie auf die Idee gekommen, einen Robert Oppenheimer als Mitglied aufzunehmen: Er war Jude und gehörte zu einer anderen Welt; der Bauernsohn aus dem Mittleren Westen dagegen fand mühelos Zutritt zur elitären Gesellschaft. (Später wurde Lawrence, von Neylan vermittelt, Mitglied des noch exklusiveren Pacific Union Club.) Lawrence, der sich von diesen mächtigen Männern wiederholt Geld für seine Projekte geben ließ, teilte mit der Zeit auch deren konservative, gegen den New Deal gerichtete politische Ansichten.
Oppenheimer dagegen zeigte, was Geld für eigene Forschungen betraf, eine ziemlich lockere Haltung. Als ihn einer seiner fortgeschrittenen Studenten bat, bei der Beschaffung von Geldmitteln für ein bestimmtes Projekt behilflich zu sein, gab Oppenheimer die schrullige Antwort, von solchen Forschungen sei »wie von der Ehe und der Dichtung abzuraten, dazu sollte es nur trotz entsprechender Entmutigung kommen«. 208
In diesen Jahren begann zwischen den Physikern weltweit ein Wettlauf um Platz eins bei der Lösung der Fragen rund um den Aufbau des Atoms; Oppenheimer war beteiligt, spielte aber die Rolle eines produktiven Dilettanten. Er arbeitete mit wenigen Studenten und schaffte es, von einem kritischen Problem zum nächsten zu springen und immer wieder einen kurzen Aufsatz zu veröffentlichen, jedes Mal rechtzeitig genug, um dem Feld einen Monat oder zwei voraus zu sein. »Es war verrückt«, so Robert Serber, ein Kollege aus Berkeley, »dass Oppenheimer und seine Gruppe bei diesem Wettlauf überhaupt mithalten und etwas Wesentliches herausholen konnten.« Die Ergebnisse waren nicht immer elegant, auch nicht in allen Einzelheiten genau – es blieb anderen vorbehalten, seine Ideen und Skizzen sauber auszuführen –, doch Oppenheimer traf immer das Wesentliche. »Oppie war unheimlich gut, wie er mit seinem sehr genauen Blick für physikalische Probleme auf einem Umschlag rasch eine Berechnung notierte und alle Hauptfaktoren zusammenhatte. … Eine Arbeit fertigzumachen und elegant auszuführen, wie es Dirac tat, war nicht Oppies Stil.« Er arbeitete »schnell und unsauber, so wie Amerikaner Maschinen bauen«. 209 Ihm fehlte einfach die Geduld, sich lange bei einem Problem aufzuhalten. Und so öffnete er häufig Türen für andere, denen dann große Entdeckungen gelangen. 1930 schrieb er unter anderem auch einen berühmt gewordenen Aufsatz über die Spektrallinien des Wasserstoffatoms. Eine Aufspaltung einer Linie im Wasserstoffspektrum deutet auf eine kleine Energiedifferenz zweier möglicher Zustände des Wasserstoffatoms hin. Dirac hatte argumentiert, dass diese beiden Zustände des Wasserstoffatoms genau die gleiche Energie haben müssten. Oppenheimer widersprach dieser Auffassung, kam aber zu keinen überzeugenden Ergebnissen. Jahre später löste der Experimentalphysiker Willis E. Lamb Jr., ein Doktorand Oppenheimers, das Problem. 210 Die sogenannte Lamb-Verschiebung (Lamb shift) führte die Differenz zwischen den beiden Energieniveaus auf den Prozess der Selbstinteraktion zurück: Die geladenen Teilchen stehen in Wechselwirkung mit elektromagnetischen Feldern. Für seine genaue Messung der Lamb-Verschiebung, einen wichtigen Schritt in der Entwicklung der Quantenelektrodynamik, erhielt Lamb 1955 den Nobelpreis.
In den 1930er Jahren schrieb Oppenheimer eine ganze Reihe bedeutender, manchmal bahnbrechender Aufsätze, unter anderem zur kosmischen Strahlung, zu Gammastrahlen, Elektrodynamik und zum Elektronen-Positronen-Regen. 211 Im Bereich der Atomphysik berechnete er mit Melba Phillips, seiner ersten Doktorandin, die Ausbeute von Protonen in Deuteronenreaktionen. Die Berechnungen über die Protonenausbeute wurden bekannt als »Oppenheimer-Phillips-Prozess«. »Er war ein Mann der Ideen«, so Phillips, »es war nicht große Physik, was er machte, aber er hatte immer einen Blick für nette Ideen, die er dann mit seinen Studenten erarbeitete.«
Unter Physikern ist man sich heute einig, dass Oppenheimers erstaunlichste und originellste Arbeiten gegen Ende der 1930er Jahre entstanden, als er sich mit Neutronensternen beschäftigte – einem Phänomen, das Astronomen erst seit 1967 beobachten können. Sein Interesse an der Astrophysik entsprang seiner Freundschaft mit Richard Tolman, der ihn mit den Astronomen bekannt machte, die am Mt. Wilson Observatory in Pasadena arbeiteten. 212 1938 schrieb Oppenheimer mit Robert Serber den Aufsatz »Die Stabilität von stellaren Neutronenkernen«, der sich mit bestimmten Eigenschaften stark verdichteter, »weiße Zwerge« genannter Sterne beschäftigte. 213 Einige Monate später arbeitete er gemeinsam mit George Volkoff, ebenfalls einer seiner Studenten, an einem Aufsatz über »Massive Neutronenkerne«. Sie mussten ihre Berechnungen mühevoll mit dem Rechenschieber ausführen und kamen zu dem Schluss, dass es für die Masse dieser Neutronensterne eine obere Grenze geben müsse – die »Toman-Oppenheimer-Volkoff-Grenze« –, jenseits derer stellare Objekte instabil werden. Neun Monate später veröffentlichten Oppenheimer und Hartland Snyder, ein Mitarbeiter und ehemaliger Student, den Aufsatz »On Continued Gravitational Contraction« – exakt am 1. September 1939, einem historischen Datum: Hitlers Überfall auf Polen und der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Auf ihre Art jedoch war auch diese Veröffentlichung ein folgenschweres Ereignis. Der Physiker und Wissenschaftshistoriker Jeremy Bernstein nennt das Papier »einen der großen Aufsätze in der Physik des 20. Jahrhunderts«; 214 zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung allerdings erregte er keine große Aufmerksamkeit. Erst Jahrzehnte später verstand man, dass Oppenheimer und Snyder mit ihren Überlegungen bereits 1939 die Tür zur Physik des 21. Jahrhunderts aufgestoßen hatten.
Ausgangsfrage der Autoren war, was mit einem schweren Stern geschieht, wenn diesem der Brennstoff ausgeht und er auszubrennen beginnt. Oppenheimers und Snyders Berechnungen zufolge kollabiert er nicht zu einem weißen Zwerg, einem Stern mit einem Kern jenseits einer bestimmten Masse – nach heutiger Auffassung mit einer zwei- bis dreifachen Sonnenmasse –, sondern er zieht sich, bewirkt durch die eigene Schwerkraft, unbegrenzt weiter zusammen. Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie folgend erklärten sie, ein solcher Stern stürze mit solcher »Singularität« in sich zusammen, dass nicht einmal mehr Lichtwellen seiner Schwerkraft entkommen könnten. Von weitem gesehen werde ein solcher Stern buchstäblich verschwinden und sich vom übrigen Universum abschließen: »Nur sein Gravitationsfeld bleibt.« Es entstehe (wie Astrophysiker seit 1967 sagen) ein schwarzes Loch – eine seltsame, fesselnde Vorstellung. 1939 wurde der Aufsatz nicht zur Kenntnis genommen, seine Berechnungen galten lange als eine bloß mathematische Kuriosität. Erst Anfang der 1970er Jahre war die astronomische Beobachtungstechnik auf dem Stand der Theorie, und Astrophysiker konnten viele solcher schwarzen Löcher entdecken. Mit den technischen Fortschritten beim Bau von elektronischen Großrechnern und Radioteleskopen wurde die Theorie der schwarzen Löcher zum Kernstück der Astrophysik. »Im Rückblick ist die Arbeit, die Oppenheimer mit Snyder leistete, bemerkenswert vollständig und eine genaue mathematische Beschreibung des Kollabierens eines schwarzen Loches«, so Kip Thorne, ein Physiker vom Caltech. »Für Leute der damaligen Zeit war es schwer, den Artikel zu verstehen, weil das, was da aus der Mathematik herausgekocht wurde, so ganz anders war als jedes vorgestellte Bild davon, wie sich irgendetwas im Universum abspielen müsste.« 215
Es ist, wie gesagt, typisch für Oppenheimer, dass er sich nicht die Zeit nahm, eine elegante Theorie des Phänomens zu entwickeln; 216 diese Aufgabe überließ er anderen, die sich Jahrzehnte später daranmachten. Die Frage bleibt: Warum? Eine Erklärung findet sich wohl vor allem in Oppenheimers Persönlichkeit und Temperament. Kaum war ihm ein Gedanke gekommen, sah er auch schon wieder Schwachstellen und Unzulänglichkeiten. Andere Physiker dagegen – und in dieser Hinsicht ist Edward Teller ein gutes Beispiel – warben mit ihren neuen Ideen unerschrocken und optimistisch in der Öffentlichkeit, gleichgültig, wie unvollkommen sie noch formuliert waren. Oppenheimers entschieden kritische Einstellung machte ihn zutiefst skeptisch, wie Serber sagte: »Oppie verhielt sich immer pessimistisch zu all den Ideen.« Er richtete seinen brillanten Intellekt stets auch gegen sich selbst und verhinderte, dass er mit der notwendigen Zähigkeit und Überzeugung an originellen theoretischen Einsichten festhielt und sie weiterverfolgte. Stattdessen trieb ihn sein Skeptizismus stets weiter, zum nächsten Problem. Kaum hatte er den ersten kreativen Schritt gemacht, der zu einer Theorie der schwarzen Löcher hätte führen können, wandte er sich einem neuen Thema zu, der Theorie der Mesonen. 217
Jahre später fragten sich Roberts Freunde und Kollegen, warum er nie einen Nobelpreis bekommen habe. »Robert hatte ein profundes physikalisches Wissen«, so Leo Nedelsky, »allenfalls Pauli kannte sich gründlicher aus.« Aber einen Nobelpreis zu bekommen ist, wie vieles im Leben, eine Sache des Engagements, der Strategie, der Befähigung, des richtigen Zeitpunkts und, natürlich, auch des Zufalls. Oppenheimer war ein engagierter Theoretiker, er liebte es, Probleme anzugehen, die ihn interessierten, und sicher war er sehr fähig, aber ihm fehlte die richtige Strategie, und er fand nicht den richtigen Zeitpunkt. Und zuletzt ist der Nobelpreis eine Auszeichnung, die für spezifische wissenschaftliche Leistungen verliehen wird. Oppenheimers Genie aber lag auf einem ganz anderen Gebiet, er verstand es, Einzelforschungen zusammenzufassen. »Oppenheimer hatte eine große Vorstellungskraft«, so Edwin Uehling, ein promovierter Forschungsstipendiat, der in den Jahren 1934 bis 1936 bei ihm arbeitete, »sein physikalisches Wissen war außerordentlich umfassend. Ich glaube, dass seine Arbeit durchaus das Niveau hatte, das für einen Nobelpreis verlangt wird, aber sie führte nicht zu den Ergebnissen, die ein Nobelpreiskomitee aufregend findet.« Oppenheimer war ein Theoretiker, er wusste, dass ihm selbst Laborarbeit nicht lag, aber er hielt stets Kontakt zu Experimentatoren wie Lawrence. Anders als europäische Theoretiker wusste er die Zusammenarbeit mit denen zu schätzen, die die Gültigkeit der neuen Physik empirisch überprüften. Seinem Bruder schrieb er im Herbst 1932: »Wir führen hier ein zusätzliches Atom-Seminar durch … mit dem wir ein wenig Ordnung in das große Chaos zu bringen versuchen.« 218
Oppenheimer nahm sich wenig Zeit für Ablenkungen. »Ich brauche die Physik mehr als Freunde«, gestand er dem Bruder im Herbst 1929. Einmal in der Woche ging er zum Reiten in die Berge über der San Francisco Bay. »Und von Zeit zu Zeit hole ich den Chrysler heraus und erschrecke einen meiner Freunde zu Tode, wenn ich mit hundert Sachen um die Ecken presche. Das Auto macht hundertzwanzig, ohne zu zittern. Ich bin ein miserabler Fahrer und werde es bleiben.« 219 Eines Tages, als er rücksichtslos die Küstenstraße bei Los Angeles entlangraste, verursachte Robert einen schweren Unfall; er kam unversehrt davon, glaubte aber für einen Augenblick, dass seine Mitfahrerin, eine junge Frau namens Natalie Raymond, tot war – sie war aber nur bewusstlos. Als Julius Oppenheimer von dem Unfall erfuhr, schenkte er ihr eine Zeichnung von Cézanne und ein kleines Bild von Vlaminck. 220
Natalie Raymond, eine schöne Frau Ende zwanzig, die Oppenheimer auf einer Party in Pasadena kennenlernte, »war eine Draufgängerin, eine Abenteurerin, so wie Robert in gewisser Weise auch«, so eine Freundin der beiden: »Das mag sie verbunden haben. Aber Robert war erwachsener geworden (oder auch nicht), Natalie weniger.« Er nannte sie Nat, und Anfang der 1930er Jahre sahen sie sich recht häufig. Bruder Frank fand sie »damenhaft«. Nachdem Oppenheimer mit ihr in der Radio City Music Hall ein »ganz wunderbares« Bach-Konzert gehört hatte, schrieb er dem Bruder: »Die letzten Tage waren voller Nat, ihren immer neuen & immer bewegenden Missgeschicken.« Sogar einen Teil des Sommers 1934 verbrachte sie mit Robert und anderen in Perro Caliente. Die Beziehung endete, als sie nach New York zog, um dort als freie Lektorin zu arbeiten.
Sie war allerdings nicht die einzige Frau in Oppenheimers damaligem Leben. Im Frühjahr 1928 hatte er, wiederum auf einer Party in Pasadena, Helen Campbell kennengelernt. Sie war bereits mit dem Physikprofessor Samuel K. Allison aus Berkeley verlobt, fand Oppenheimer jedoch sehr attraktiv. Er führte sie zum Abendessen aus, einige Male gingen sie spazieren. Als Oppenheimer 1929 nach Berkeley zurückkehrte, nahmen sie ihre Freundschaft wieder auf. Helen, die inzwischen geheiratet hatte, beobachtete nun amüsiert »die jungen Ehefrauen, die eine Schwäche für Robert haben und bezaubert sind davon, wie er Konversation macht, von seinen Geschenken, den Blumen und all dem.« Er hatte, wie ihr auffiel, »ein Auge für Frauen«, und es sei wohl besser gewesen, wenn man »seine Aufmerksamkeiten nicht zu ernst« nahm: »Er sprach gern mit leicht unzufriedenen Frauen, besonders einfühlsam schien er auf Lesbierinnen zu reagieren.« Jedenfalls sei er ein Mann mit Charisma gewesen.
Seinem Bruder schrieb Oppenheimer 1929: »Jeder möchte den Frauen gefallen, und dieser Wunsch ist nicht ganz und gar, wohl aber zum großen Teil Ausdruck von Eitelkeit. Aber man kann es sich nicht zum Ziel setzen, Frauen zu gefallen, ebenso wenig wie man sich vornehmen kann, Geschmack, Ausdruckskraft oder Glück zu haben, denn diese Dinge sind keine Ziele, die zu erreichen man lernen kann, sie beschreiben nur, dass man dem eigenen Wesen gemäß lebt. Zu versuchen, glücklich zu sein, ist wie eine Maschine zu bauen, die keinen anderen Zweck hat, als geräuschlos zu laufen.« 221 Als Frank in einem Brief über seine Probleme mit »den jeunes filles Newyorkaises« klagte, antwortete Robert: »Ich finde, Du solltest nicht zulassen, dass diese Geschöpfe Dir Kummer bereiten … Du solltest mit ihnen nur zusammen sein, wenn es eine echte Freude für Dich ist, und nur mit solchen Mädchen verkehren, die nicht nur Dir gefallen, sondern denen auch Du gefällst und mit denen Du Dich wohl fühlst. Es ist das Mädchen, das eine Unterhaltung anfangen muss: Wenn sie diese Verpflichtung nicht akzeptiert, dann kannst Du nichts tun, um die Begegnung erfreulich zu gestalten.« 222 Offenbar waren die Beziehungen zum anderen Geschlecht nicht nur für seinen siebzehnjährigen Bruder, sondern auch für Robert noch immer eine Sache schwieriger Begegnungen.
Für die meisten seiner Freunde war Robert ein nicht leicht zu ertragendes Bündel von Widersprüchen. Als Harold F. Cherniss Oppenheimer 1929 kennenlernte, promovierte er gerade am Seminar für Klassisches Griechisch in Berkeley und hatte kurz zuvor Oppenheimers Jugendfreundin und Schulkameradin Ruth Meyer geheiratet. Sofort war er von Oppenheimer fasziniert: »Allein seine körperliche Erscheinung, seine Stimme und seine Manieren sorgten dafür, dass sich die Leute in ihn verliebten – Männer wie Frauen. Eigentlich jeder.« Cherniss sagte aber auch: »Je länger ich ihn kannte und je näher wir uns kamen, umso weniger kannte ich ihn.« Als guter Beobachter, der er war, spürte er einen Bruch in Robert. Er sei ein »äußerst scharfsinniger Intellektueller« gewesen. Anderen sei er nur deshalb so kompliziert erschienen, weil er an so vielen Dingen interessiert war und so viel wusste. Dabei wollte er selbst »ein einfacher Mensch sein, im guten Sinne des Wortes. … Er wollte Freunde haben.« Und habe trotz seines gewaltigen Charmes nicht gewusst, wie man das anstellt.