Jean war Roberts größte Liebe. Sie liebte er wirklich. Er verehrte sie.
Haakon Chevalier (1980)
Gerade zweiundzwanzig war Jean Tatlock, als Robert sie im Frühjahr 1936 auf einer der Partys seiner Vermieterin Mary Ellen Washburn kennenlernte. Sie hatte gerade ihr erstes Jahr an der medizinischen Fakultät der Stanford University absolviert, damals noch in San Francisco. Im Herbst 1936, so Oppenheimer, habe er begonnen, »ihr den Hof zu machen, und wir kamen uns näher.« 260 Jean Tatlock war eine schöne Frau mit dichten dunklen Haaren, blauen Augen, schweren schwarzen Wimpern und kräftig roten Lippen; wie »eine altirische Prinzessin«, so fanden manche, sehe sie aus. 261 Sie war etwa eins siebzig groß und wog nie mehr als 58 Kilogramm. Nur eine Kleinigkeit war unvollkommen an ihr: Ein Augenlid hing leicht herab, die Folge eines Unfalls in ihrer Kindheit. Und dieser kaum wahrnehmbare Fehler machte sie noch reizvoller. Robert war hingerissen von ihrer Schönheit, ebenso von ihrer scheuen Melancholie. »Jean sprach nicht gern über ihren Kummer«, schrieb Edith A. Jenkins, eine Freundin, später. 262
Jean war, wie Oppenheimer wusste, die Tochter des Chaucer-Spezialisten John S.P. Tatlock, eines der wenigen Universitätsangehörigen in Berkeley, mit denen er außerhalb des Physik-Fakultät mehr als flüchtig bekannt war. Bei gemeinsamen Mittagessen im Faculty Club war Tatlock oft verblüfft, wie kenntnisreich sich dieser junge Physikprofessor zur englischen Literatur zu äußern verstand. 263 Und Robert wiederum, als er Jean Tatlock kennenlernte, bemerkte rasch, dass sie viel vom literarischen Gespür ihres Vaters mitbekommen hatte. Besonders die düster-melancholischen Verse von Gerard Manley Hopkins, aber auch John Donnes Gedichte liebte Jean – eine Leidenschaft, mit der sie Robert ansteckte. Jahre später ließ er sich von Donnes Sonett »Batter my heart, three-person’d God …« 264 zum Decknamen des ersten Atombombentests inspirieren: »Trinity«.
Jean Tatlock wurde am 21. Februar 1914 in Ann Arbor, Michigan, geboren und wuchs zusammen mit ihrem älteren Bruder Hugh in Cambridge, Massachusetts, später in Berkeley auf. Ihr Vater hatte einen großen Teil seines Berufslebens in Harvard verbracht, lehrte nach seiner Pensionierung in Berkeley. Bevor sie 1931 auf das Vassar College ging, gestatteten ihr die Eltern eine einjährige Europareise. Sie wohnte bei einer Freundin ihrer Mutter in der Schweiz, einer überzeugten Anhängerin C.G. Jungs, die Jean in die eng verbundene Psychoanalytikergemeinschaft um Freuds früheren Freund und späteren Rivalen einführte. Die Jung-Schule – mit ihrer Betonung der kollektiven Psyche – machte starken Eindruck auf die junge Tatlock. Als sie die Schweiz verließ, war ihr Interesse an der Psychologie geweckt. In Vassar studierte sie englische Literatur und schrieb für die Literary Review . Sie, die in einem literarischen Elternhaus aufgewachsen war, über einen wachen Intellekt verfügte, ausnehmend schön war, ihren Jahren voraus, war ihren Klassenkameraden stets ein wenig unheimlich; später, in einem »Abschiedsbrief« nach Jeans Tod, schreibt die Schulfreundin Priscilla Robertson: »Von der Natur und durch Erfahrung [hast Du] eine Tiefe bekommen, die die meisten Mädchen erst nach dem Collegeabschluss erreichen.« 265 Jean Tatlock selbst nannte sich, selbstironisch, eine »frühreife Antifaschistin« – schon früh, seit ihrer Europareise, war sie Gegnerin von Mussolini und Hitler. In der Hoffnung, die Lektüre würde sie von ihrer verworrenen Bewunderung für den russischen Kommunismus abbringen, gab ihr ein Hochschullehrer Max Eastmans Roman Artists in Uniform zu lesen, sie jedoch bekannte der Freundin Priscilla: »Ich würde einfach nicht mehr leben wollen, wenn ich nicht glauben könnte, dass in Russland alles besser ist.« 266
Von 1933 bis 1934 absolvierte sie das medizinische Vorstudium an der University of California in Berkeley, im Juni 1935 erwarb sie ihren Abschluss am Vassar College. »Es war dieses gesellschaftliche Bewusstsein und dazu Deine Berührung mit Jung, die Dich dazu brachten, Ärztin werden zu wollen«, heißt es in Robertsons Brief. 267 In Berkeley schrieb sie für den Western Worker, das Organ der Kommunistischen Partei an der Westküste. Als Beitrag zahlendes Mitglied nahm sie regelmäßig zweimal die Woche an Parteiversammlungen teil. Ein Jahr bevor sie Robert kennenlernte, schrieb sie an Priscilla Robertson: »Wenn ich überhaupt etwas bin, dann eine durch und durch Rote.« Leidenschaftlicher Zorn konnte sie packen, wenn sie von sozialer Ungerechtigkeit erfuhr. Durch ihre Arbeit für den Western Worker wuchs ihre Empörung noch, denn sie hatte über Dinge zu berichten wie den Prozess gegen drei Jugendliche, die angeklagt waren, den Western Worker auf der Straße verkauft zu haben, oder über das Verfahren, das gegen fünfundzwanzig Arbeiter aus einem Sägewerk in Eureka eröffnet wurde, weil man ihnen zur Last legte, einen Aufstand angezettelt zu haben.
Wie viele amerikanische Kommunisten gründete ihre Aktivität nicht in einer gefestigten Ideologie. »Ich finde, es ist unmöglich, eine glühende Kommunistin zu sein«, schrieb sie der Freundin, »das heißt, mit Leib und Seele, Tag und Nacht dabei zu sein.« Sie wollte gerne Psychoanalytikerin werden, auch wenn die KP damals den Standpunkt vertrat, Freud und Marx seien unvereinbar. 268 Das mag durchaus ein Grund ihrer schwankenden Begeisterung für die Partei gewesen sein. Jedenfalls bewahrte sich Jean Tatlock, anders als viele Parteigenossen, »ein Gefühl für die Unverletzlichkeit und Bedeutung der individuellen Seele«. 269 Kurzum, sie war eine differenziert denkende Frau, überzeugt davon, dass ein Arzt auch einen Sinn für das Psychologische haben müsse. Und damit war sie, wie es ein gemeinsamer Freund ausdrückte, »Robert in jeder Hinsicht ebenbürtig. Sie hatten viel gemeinsam.« 270
So häufig, wie sich Jean und Robert in diesem Herbst trafen, wurde allen rasch klar, dass sich etwas Ernsthaftes anbahnte. »Wir waren alle ein bisschen neidisch«, schrieb Edith Arnstein Jenkins, eine der besten Freundinnen Jeans, später. »Auch ich bewunderte ihn [Oppenheimer]. Seine altkluge Art und seine Brillanz waren bereits Legende, ebenso sein ruckartiger Gang, die Füße nach außen gedreht, ein jüdischer Pan mit blauen Augen und wilden Einsteinhaaren. Als wir ihn dann auf Veranstaltungen für die spanischen Volksfrontkämpfer kennenlernten, erlebten wir, wie diese Augen den eigenen Blick festhalten konnten. Er konnte zuhören wie kaum ein anderer, immer wieder hörten wir sein bekräftigenden Ja! Ja! Ja! Erlebten, wie er, wenn er tief in Gedanken war, auf und ab ging, sahen, wie alle diese jungen Physikjünger, die um ihn herum waren, plötzlich ebenso ruckartig und nach vorn gebeugt zu gehen anfingen wie er und ihm mit zustimmendem Ja! Ja! Ja! zuhörten.« 271 Auch Jean Tatlock ist Oppenheimers exzentrisches Verhalten nicht entgangen. »Du darfst nicht vergessen«, sagte sie einer Freundin, »dass er schon im Alter von sieben Jahren Vorträge vor wissenschaftlichen Gesellschaften hielt, er hatte nie eine Kindheit, deshalb ist er so anders als wir.« 272 Vielleicht konnte sie sich, weil sie selbst ein so intensives Lebensgefühl hatte, so gut in einen Mann mit so eigentümlichen Leidenschaften einfühlen. Wie Oppenheimer beobachtete auch sie sich selbst sehr genau.
Dieser hatte sich, wie seine Studenten wussten, mit vielen Frauen getroffen, bevor er Jean Tatlock kennenlernte: »Mindestens einem halben Dutzend.« Mit ihr aber verhielt er sich anders. Die beiden seien viel miteinander allein gewesen, selten habe er sie mitgebracht zu seinen Freunden von der Fakultät. Nur auf Mary Ellen Washburns Partys sah man sie zusammen. Serber hat Jean als »eine sehr gutaussehende, in sozialen Fragen kompetente Frau« erlebt, politisch »entschieden links, entschiedener als wir anderen«. Doch habe diese »sehr intelligente junge Frau« auch eine düstere Seite gehabt: »Ich weiß nicht, ob sie manisch-depressiv war, auf jeden Fall litt sie an schrecklichen Depressionen.« Wenn es Jean schlechtging, habe auch Oppie gelitten: »Tagelang war auch er ganz niedergeschlagen, wenn Jean Probleme hatte.« 273 Gleichwohl hielt die Beziehung über drei Jahre. »Jean war Roberts größte Liebe«, so Chevalier später, »sie liebte er wirklich. Er verehrte sie.« 274
Und so kam es wohl, dass Jean Tatlocks Aktivismus auch Oppenheimers Gefühl für soziale Verantwortung wieder aufleben ließ, die in der Ethical Culture School eine so große Bedeutung gespielt hatte. Bald wurde er in der Volksfront aktiv. »Ende 1936«, gab Oppenheimer 1954 zu Protokoll, »änderten sich meine Interessen … Ich spürte ständig eine schwelende Wut über die Behandlung der Juden in Deutschland. Ich hatte Verwandte dort [eine Tante und mehrere Kusins und Kusinen] und half dann mit, sie herauszuholen und nach Amerika zu bringen. Ich sah, was die wirtschaftliche Depression hier mit meinen Studenten machte. Sie fanden häufig keine Arbeit oder bekamen Jobs, die völlig unangemessen waren. Und durch sie begann ich zu verstehen, wie sehr politische und ökonomische Ereignisse das Leben von Menschen beeinträchtigen können. Ich spürte, wie in mir das Bedürfnis aufkam, mich intensiver am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen.« 275
Die Große Depression hatte viele Amerikaner dazu gebracht, ihren politischen Standpunkt zu überdenken, vor allem in Kalifornien. 1930 waren drei von vier kalifornischen Wählern eingetragene Republikaner, acht Jahre später waren die Demokraten doppelt so stark wie die Republikaner. Die politische Linke hatte vorübergehend eine Mehrheit in Kalifornien, die KP allerdings blieb eine verschwindend kleine Minderheit, selbst an den kalifornischen Universitäten. In Alameda County, zu dem Berkeley gehört, hatte die Partei fünf- bis sechshundert Mitglieder, darunter rund hundert Hafenarbeiter aus Oakland. In der Gesamtpartei galten die kalifornischen Kommunisten als gemäßigt. 1936 hatte die KP in Kalifornien nur 2500 Mitglieder gezählt, 1938 dagegen über 6000. Landesweit hatte die KPUSA 1938 ungefähr 75000 Mitglieder, doch viele der neu Eingetretenen blieben weniger als ein Jahr in der Partei. Insgesamt haben sich in 1930er Jahren, zumindest für kurze Zeit, etwa 250000 Amerikaner der KPUSA angeschlossen. 276
Viele New-Deal-Demokraten hatten nichts gegen die KPUSA und ihre zahlreichen kulturellen Aktivitäten und Bildungsangebote; in bestimmten Kreisen genoss die von der KP bestimmte Volksfront sogar ein gewisses Ansehen. Zahlreiche Intellektuelle nahmen, ohne Parteimitglieder zu sein, an einem von der KP organisierten Schriftstellerkongress teil oder unterrichteten Arbeiter in einem der »People’s Educational Centers«. So war es nichts Ungewöhnliches, wenn ein junger Professor aus Berkeley wie Oppenheimer sich während der Großen Depression auf diese Weise Einblick in das intellektuelle und politische Leben Kaliforniens verschaffte. »Mir haben diese neuen gesellschaftlichen Erfahrungen gefallen«, sagte er später, »zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, am Leben meiner Zeit und meines Landes teilzuhaben.« 277 Es war Jean Tatlock, die Oppenheimer »die Tür öffnete« zur Welt der Politik. 278 Ihre Freunde wurden auch die seinen, darunter die Parteimitglieder Kenneth May (ein Student der Graduate School in Berkeley), John Pitman (ein Journalist von People’s World ), Aubrey Grossman (ein Rechtsanwalt), Rudy Lambert und Edith Arnstein. Eine der besten Freundinnen Jeans war Hannah Peters, eine in Deutschland geborene Ärztin, die sie an der medizinischen Fakultät von Stanford kennengelernt hatte. Sie wurde bald Oppenheimers Ärztin; ihr Mann war Bernard Peters (früher Pietrkowski), ein Flüchtling aus NS-Deutschland.
Peters, 1910 in Posen geboren, hat bis 1933, als Hitler an die Macht kam, in München Elektrotechnik studiert. Obwohl er später bestritt, Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen zu sein, hatte er an verschiedenen Versammlungen der KPD teilgenommen, einmal auch an einer Demonstration gegen die NSDAP, bei der zwei Menschen verletzt wurden. Er wurde verhaftet und kam ins Konzentrationslager Dachau. Nach drei schrecklichen Monaten wurde er in ein Münchener Gefängnis verlegt – und dann ohne Angabe von Gründen freigelassen. 279 Daraufhin fuhr er bei Nacht mit dem Fahrrad in Richtung Süden über die Alpen nach Italien. Dort begegnete er seiner in Berlin geborenen, damals zweiundzwanzigjährigen Freundin Hannah Lilien wieder, die nach Padua geflohen war, um dort Medizin zu studieren. Im April 1934 wanderte das Paar in die Vereinigten Staaten aus. Sie heirateten am 20. November 1934 in New York, und nachdem Hannah 1937 an der Long Island Medical School in New York ihr Arztexamen abgelegt hatte, zogen sie in die San Francisco Bay Area. In Stanford arbeitete sie zusammen mit Dr. Thomas Addis, einem Freund und Mentor Jean Tatlocks, an medizinischen Forschungsprojekten. Als Jean Oppenheimer mit dem Ehepaar Peters bekannt machte, jobbte Bernard im Hafen.
1934 hat Peters einen 3000 Wörter umfassenden Bericht über seine Schreckenszeit in Dachau verfasst. In allen Einzelheiten beschrieb er die Qualen und die Hinrichtungen der Häftlinge; einer »starb nach stundenlangen Schlägen in meinen Armen. Er hatte keine Haut mehr auf dem Rücken, seine Muskeln hingen in Fetzen herunter.« 280 Peters hat seinen Bericht zweifellos Freunden zu lesen gegeben. Doch ob Oppenheimer ihn gelesen hat oder Peters ihm direkt erzählt hat, in jedem Fall werden ihn solche Berichte tief bewegt haben. Als Peters Interesse an Physik zeigte, ermutigte ihn Oppenheimer, einen Kurs in Berkeley zu belegen. 281 Er erwies sich als begabter Student; natürlich hatte er keinen Collegeabschluss, doch Oppenheimer setzte durch, dass er sich für ein Graduiertenstudium einschreiben konnte. Peters übernahm die Aufgabe, Oppenheimers Vorlesung über Quantenmechanik mitzuschreiben, und er promovierte bei ihm. Aber auch privat trafen sich Oppenheimer und Jean Tatlock häufig mit Hannah und Bernard Peters. 282
Alle diese neuen Freunde zogen Oppenheimer in ihr politisches Engagement hinein. Andererseits wäre es falsch zu sagen, dass der Kreis um Jean Tatlock allein verantwortlich war für sein politisches Erwachen. Um 1935 gab ihm sein Vater Sidney und Beatrice Webbs Soviet Communism. A New Civilization? zu lesen, eine ziemlich blauäugige Beschreibung des Sowjetstaats. Er war beeindruckt von dem, was er über das sowjetische Experiment erfuhr. Im Sommer 1936 soll Oppenheimer alle drei Bände der deutschsprachigen Ausgabe von Das Kapital auf eine dreitägige Zugfahrt nach New York mitgenommen haben. Unter den Freunden erzählte man sich, er habe bis zu seiner Ankunft in New York alle drei Bände von Anfang bis Ende gelesen. Seine Beschäftigung mit Marx hatte allerdings bereits einige Jahre früher begonnen, vermutlich im Frühjahr 1932. Harold Cherniss erinnerte sich, dass Oppenheimer ihn in diesem Frühjahr in Ithaca, New York, besucht und stolz berichtet habe, dass er Das Kapital gelesen hätte. Cherniss lachte nur; er hielt Oppenheimer für keinen politischen Menschen, wusste aber, dass er viel las: »Ich nehme an, jemand sagte zu ihm: Was, das kennst du nicht? Du hast da nicht reingeschaut? Da wird er sich dieses elende Buch besorgt und gelesen haben!« 283
Sie waren einander noch nicht vorgestellt worden, doch Haakon Chevalier kannte Oppenheimer vom Hörensagen – aber nicht wegen seines Rufs als Physiker. Im Juli 1937 notierte Chevalier in seinem Tagebuch die Bemerkung eines gemeinsamen Freundes: Oppenheimer habe die Gesammelten Werke von Lenin gekauft und gelesen. Höchst beeindruckt kommentierte Chevalier, damit wäre Oppenheimer »belesener als die meisten Parteimitglieder«. 284 Chevalier hielt sich für einen einigermaßen beschlagenen Marxisten, aber durch Das Kapital hat er sich nie durchgearbeitet.
Der 1901 in Lakewood, New Jersey, geborene Haakon Chevalier konnte leicht für einen Ausländer durchgehen. Sein Vater war Franzose, seine Mutter in Norwegen geboren. »Hoke«, wie ihn Freunde nannten, verbrachte seine frühe Kindheit in Paris und in Oslo, sprach daher fließend Französisch und Norwegisch. Mit seinen Eltern kam er 1913 zurück nach Amerika und beendete die Highschool in Santa Barbara, Kalifornien. Studiert hat er in Stanford und Berkeley, 1920 aber sein Studium unterbrochen und elf Monate auf einem Handelsschiff angeheuert, das zwischen San Francisco und Kapstadt verkehrte.
Nach diesem Abenteuer nach Berkeley zurückgekehrt, promovierte er 1929 in romanischen Sprachen mit dem Schwerpunkt französische Literatur. 285 Eins fünfundachtzig groß, mit blauen Augen und welligem braunem Haar, war er ein charmanter heiterer junger Mann. 1922 heiratete er Ruth Walsworth Bosley, ließ sich 1930 von ihr scheiden und heiratete ein Jahr später die vierundzwanzigjährige Barbara Ethel Lansburgh, eine seiner Studentinnen in Berkeley. Die blonde grünäugige Lansburgh kam aus einer reichen Familie und besaß ein phantastisches Holzhaus in Stinson Beach, dreißig Kilometer nördlich von San Francisco. »Er war ein schrecklich guter, ein charismatischer Lehrer«, sagte ihre Tochter Suzanne Chevalier-Skolnikoff, »das zog sie zu ihm.« 286
1932 veröffentlichte Chevalier sein erstes Buch, eine Anatole-France-Biographie. Und seit 1932 schrieb er Buchbesprechungen und Artikel für die linken Zeitschriften New Republic und Nation . Mitte der 1930er Jahre gehörte er zum Inventar von Berkeley, unterrichtete Französisch, sein verschachteltes Holzhaus an der Chabot Road in Oakland stand einer bunt zusammengewürfelten Gesellschaft aus Studenten, Künstlern, politischen Aktivisten und Schriftstellern offen, unter ihnen Edmund Wilson, Lillian Hellman und Lincoln Steffens. Bei Chevalier wurde oft bis tief in die Nacht gefeiert, und er kam am anderen Morgen so häufig zu spät zur Vorlesung, dass sein Fachbereich ihm untersagte, morgens zu unterrichten. 287
Chevalier war ein ehrgeiziger, aber auch politisch aktiver Intellektueller, Mitglied der American Civil Liberties Union, der Teachers’ Union, der Inter-Professional Association, der Consumer’s Union sowie Freund und Mitarbeiter von Caroline Decker, einer führenden Gestalt bei den California Cannery and Agricultural Workers, der radikalen Gewerkschaft, die mexikanisch-amerikanische Farmarbeiter vertrat. 1933 hatte Chevalier Frankreich besucht und bedeutende linke Schriftsteller wie André Gide, André Malraux und Henri Barbusse kennengelernt. Nach Kalifornien kehrte er mit der Überzeugung zurück, dass er »den Übergang von einer Gesellschaft, die auf der Jagd nach Profit und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruht, zu einer Gesellschaft auf der Grundlage der Produktion von Gebrauchswerten und der Kooperation« erleben werde. 1934 übersetzte er André Malraux’ La Condition Humaine ins Englische, den berühmten Roman über den chinesischen Aufstand von 1927, sowie Le Temps du Mépris – Romane, die Chevalier mit ihrer »neuen Vision vom Menschen« begeisterten. 288
Wie für viele Linke war der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs ein Wendepunkt auch für Chevalier. Im Juli 1936 revoltierte der rechte Flügel der spanischen Armee gegen die demokratisch gewählte linke Regierung in Madrid. Unter der Führung von General Francisco Franco glaubten die faschistischen Rebellen, die Republik innerhalb von wenigen Wochen stürzen zu können. Doch stießen sie auf zähen Widerstand im Volk, und ein erbarmungsloser Bürgerkrieg entbrannte. Von 1936 bis 1939 war die Verteidigung der Spanischen Republik die cause célèbre in liberalen Kreisen der westlichen Welt. 2800 Amerikaner nahmen, in der kommunistisch geführten Abraham Lincoln Brigade, an den Kämpfen gegen die Faschisten teil. 289
1937, so die verfügbaren Quellen, trat Chevalier der KPUSA bei. In seinen 1965 veröffentlichten Erinnerungen Mein Fall J. Robert Oppenheimer. Geschichte einer Freundschaft beschreibt er seine politischen Auffassungen in den 1930er Jahren mit bemerkenswerter Offenheit. Menschen, die ähnlich dachten wie Oppenheimer, schrieb er, glaubten, die Spanische Republik werde siegen, und in Amerika würden die Reformen des New Deal den Weg frei machen für einen neuen, auf Gleichheit zwischen den Rassen und Klassen beruhenden Gesellschaftsvertrag. Diese Hoffnung teilten viele Intellektuelle – manche von ihnen traten in die KP ein. Als Oppenheimer Chevalier kennenlernte, war dieser ein überzeugter marxistischer Intellektueller, wahrscheinlich Parteimitglied und ebenso wahrscheinlich ein geachteter, aber informeller Berater der Parteiführung in San Francisco. Bis dahin hatte er Oppenheimer nur von ferne gesehen, war ihm gelegentlich im Faculty Club oder sonst wo auf dem Campus begegnet. Möglicherweise hatte er auch davon gehört, dass dieser glänzende junge Physiker jetzt »etwas mehr tun [wolle] als nur von den Problemen zu lesen, die die Welt bedrängten. Er wollte etwas tun. « 290
Persönlich lernten sich Chevalier und Oppenheimer schließlich auf einer Versammlung der gerade gegründeten Lehrergewerkschaft kennen. Chevalier datiert diese erste Begegnung auf den Herbst 1937. Doch wenn sie sich wirklich, wie beide später behaupteten, auf dieser Gewerkschaftsversammlung kennenlernten, dann muss dies zwei Jahre früher gewesen sein, nämlich im Herbst 1935. Damals expandierte die Ortsgruppe 349 der Lehrergewerkschaft, die zur American Federation of Labor (AFL) gehörte, und ließ auch Universitätsprofessoren zu. »Einige Leute in der Fakultät diskutierten darüber«, so Oppenheimer später, »sie trafen sich, wir aßen im Faculty Club oder sonst wo und entschlossen uns, es zu tun.« 291 Oppenheimer wurde zum Schriftführer gewählt, Chevalier später zum Vorsitzenden der Ortsgruppe. Innerhalb weniger Monate zählte sie hundert Mitglieder, davon vierzig Professoren und Assistenten der Universität.
Weder Oppenheimer noch Chevalier konnten sich später an die genauen Umstände ihrer ersten Begegnung erinnern; unvergesslich aber war beiden, dass sie sich auf Anhieb mochten. Chevalier erinnerte sich, dass er »das auf einer Sinnestäuschung beruhende Gefühl hatte …, ihn schon immer gekannt zu haben«. 292 Er war überwältigt von Oppenheimers geistigen Fähigkeiten, bezaubert von seiner »Natürlichkeit und Einfachheit«. Noch am selben Tag beschlossen sie, eine Diskussionsgruppe von sechs bis zehn Leuten zu gründen, die sich wöchentlich oder alle vierzehn Tage treffen sollte, um über politische Fragen zu sprechen. Vom Herbst 1937 bis in den Spätherbst 1942 fanden diese Treffen regelmäßig statt. In diesen Jahren betrachtete Chevalier Oppenheimer »als meinen vertrautesten und treuesten Freund«. Rasch gewöhnte sich auch Chevalier an, seinen Freund mit dessen Spitznamen anzureden, und Oppenheimer kam häufig zu den Chevaliers zum Essen. Manchmal gingen sie aus, ins Kino oder in ein Konzert. »Trinken gehörte für ihn zu einer gesellschaftlichen Funktion, die ein gewisses Ritual erforderte«, schreibt Chevalier in seinen Erinnerungen. Die »besten Martinis der Welt« habe er zubereitet, die unweigerlich mit seinem patentierten Trinkspruch »Auf die Verwirrung unserer Feinde« getrunken wurden. Ihm sei, so Chevalier, ganz klar gewesen, wer diese Feinde waren.
Für Jean Tatlock zählten konkrete Ereignisse, nicht die Partei oder deren Ideologie. »Sie berichtete mir von ihrer Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei«, gab Oppenheimer später zu Protokoll, »mal war sie dabei, mal nicht, und sie schien nie das zu finden, was sie suchte. Ich glaube nicht, dass sie sich wirklich für Politik interessierte. Sie war eine Frau mit tiefen religiösen Gefühlen. Sie liebte dieses Land und seine Menschen und sein Leben.« Seit Herbst 1936 sei das einzige politische Thema, das sie wirklich gefangengenommen habe, die Notlage der Spanischen Republik gewesen. Mit ihrem leidenschaftlichen Wesen trieb sie Oppenheimer von der Theorie zur Aktion. Als er einmal erklärte, er sei gewiss ein »Benachteiligter«, sein Platz aber sei am Rande dieser politischen Kämpfe, protestierte Jean: »Um Gottes willen, so leg dich doch nicht fest.« 293 Sie und Oppenheimer versuchten, Spenden für verschiedene spanische Hilfsorganisationen aufzutreiben. Im Winter 1937/38 stellte Jean ihrem Freund Dr. Thomas Addis vor, den Vorsitzenden des Spanish Refugee Appeal und bekannten Medizinprofessor in Stanford, der Jean während ihres Medizinstudiums als Freund und Mentor zur Seite gestanden hatte. Auch Haakon Chevalier, Linus Pauling (Oppenheimers Kollegen im Caltech), Louise Bransten und viele andere aus Oppenheimers Kreis in Berkeley kannte er bereits. Er sei, so Oppenheimer, bald auch sein »guter Freund« geworden. 294
Tom Addis, ein ungewöhnlich kultivierter Schotte, 1881 in Edinburgh geboren und streng calvinistisch erzogen, schloss sein Medizinstudium 1905 an der Universität Edinburgh ab und erhielt ein Forschungsstipendium der Carnegiestiftung für Berlin und Heidelberg. Er wies als Erster nach, dass sich normales Plasma zur Behandlung der Bluterkrankheit eignet. 1911 wurde er zum Leiter des klinischen Labors der Medizinischen Fakultät der Stanford University in San Francisco und startete dort eine lange und erfolgreiche Karriere in der medizinischen Forschung. 295 Auch als Addis wissenschaftlich erst am Anfang stand, war er politisch aktiv, ein in Kalifornien bekannter Fürsprecher der Bürgerrechte von Schwarzen, Juden und Gewerkschaftsmitgliedern; er unterschrieb zahlreiche Aufrufe und unterstützte viele Bürgerrechtsorganisationen. Zu seinen Freunden gehörte auch der bereits erwähnte Gewerkschaftsführer Harry Bridges. 296
1935, nachdem er an einer Tagung des International Physiological Congress in Leningrad teilgenommen hatte, berichtete Addis begeistert über die Fortschritte, die der sozialistische Staat im öffentlichen Gesundheitswesen erreicht habe, 297 und setzte sich anschließend energisch für die Einführung einer staatlichen Krankenversicherung ein, woraufhin er aus der American Medical Association ausgeschlossen wurde. Seine Kollegen in Stanford betrachteten Addis’ Bewunderung für das Sowjetsystem als »Glaubensakt«, als tolerable Schwäche eines ansonsten hochgeachteten Wissenschaftlers. 298 Pauling nannte ihn »einen großen Mann, eine ungewöhnliche Mischung aus Wissenschaftler und Kliniker …« Andere hielten ihn für ein Genie. »Er gehörte nicht zu denen, die das Bedürfnis verspüren, auf Nummer sicher zu gehen und normal und rational zu erscheinen«, so sein Kollege Dr. Horace Gray, »er war Forscher, ein liberaler Geist und Nonkonformist, ohne rebellisch zu sein.« 299 Ende der 1930er Jahre war Addis FBI-Berichten zufolge einer derjenigen, die unter Wissenschaftlern am erfolgreichsten neue Mitglieder für die KP warben. Auch Oppenheimer dachte später, Addis sei entweder Kommunist oder »nahezu einer«. 300
Jedenfalls war Addis zwölf Jahre lang Vorsitzender oder stellvertretender Vorsitzender des United American Spanish Aid Committee, und in dieser Funktion trat er mit der Bitte um finanzielle Unterstützung auch an Oppenheimer heran. Das Komitee, so erklärte Addis 1940, habe dabei helfen können, Tausende von Flüchtlingen, darunter viele Juden, aus den Konzentrationslagern in Frankreich zu retten. 301 Oppenheimer, der eine große Sympathie für die Sache der Spanischen Republik hegte, fand äußerst beeindruckend, wie Addis pragmatische Erwägungen mit intellektueller Strenge zu verbinden wusste. In vieler Hinsicht war Addis ein Intellektueller wie er, verfolgte breitgestreute Interessen, und er nahm, was er über Dichtung, Musik, Wirtschafts- und Naturwissenschaften wusste, »in sein Arbeitsgebiet hinein. … Er trennte nicht zwischen diesen Dingen.« 302
Eines Tages bat Addis Oppenheimer zu einem privaten Gespräch in sein Stanforder Labor. Unter vier Augen sagte Addis: »Du gibst diesen Hilfsorganisationen so viel Geld. Wenn du willst, dass die Hilfe wirklich ankommt, dann lass es durch kommunistische Kanäle gehen.« Von da an übergab Oppenheimer seine Spenden in dessen Labor oder in dessen Wohnung direkt an Addis. »Er behauptete«, so Oppenheimer später, »dieses Geld … werde direkt für die Kämpfe verwendet«. 303 Nach einer Weile hielt es Addis für besser, diese regelmäßigen Beiträge direkt Isaac »Pop« Folkoff zu geben, einem langjährigen Mitglied der KP in San Francisco. Oppenheimer brachte Barbeträge, weil er dachte, es sei nicht ganz legal, für Kriegsmaterial zu spenden und nicht für medizinische Hilfsgüter. Seine Spenden, die über die KP nach Spanien gingen, beliefen sich auf insgesamt rund 1000 Dollar – damals eine beträchtliche Summe. 304 1939, nach dem Sieg der spanischen Faschisten, suchten Addis und Folkoff Geld für andere Aktivitäten der Partei aufzutreiben, etwa für die Organisation der ländlichen Wanderarbeiter in Kalifornien. Seinen letzten Beitrag für diese Arbeit leistete Oppenheimer wohl im April 1942. 305
Folkoff, damals Ende siebzig, war ein ehemaliger Textilarbeiter und hatte eine gelähmte Hand. Er leitete den Finanzausschuss der Partei in der Bay Area: »Ein hochgeachteter alter Linker«, so Steve Nelson. 306 Dieser wiederum war Politkommissar der Abraham Lincoln Brigade gewesen und wurde 1940 zum Parteivorsitzenden in San Francisco gewählt. Nelson bestätigte, dass Folkoff von den Brüdern Oppenheimer Geld bekam. Als Oppenheimer 1954 zu diesen Spenden an die KP befragt wurde, erklärte er: »Es kam mir nicht in den Sinn, dass die Spenden für andere Zwecke verwendet werden konnten als für die von mir angegebenen oder dass diese Zwecke hätten schädlich sein können. Ich betrachtete Kommunisten damals nicht als gefährlich, und manche ihrer erklärten Ziele erschienen mir wünschenswert.« 307
Anfang 1938 abonnierte Oppenheimer People’s World, die neue Zeitung der Partei für die Westküste. Er las sie regelmäßig und interessierte sich, wie er später sagte, dafür, wie sie die Probleme darstellte. 308 Ende Januar 1938 tauchte sein Name in der Zeitung auf: Wie ein Artikel berichtete, hatten er, Haakon Chevalier und mehrere andere Professoren aus Berkeley 1500 Dollar für den Kauf eines Krankenwagens für die Spanische Republik gespendet. 309 Im Frühjahr 1938 unterzeichnete Oppenheimer zusammen mit 197 anderen Akademikern der Westküste auch eine Petition an Präsident Roosevelt, mit der sie die Aufhebung des Waffenembargos gegen die Spanische Republik forderten. 310 Noch im selben Jahr trat er in den Western Council der Consumer’s Union ein; im Januar 1939 wurde er ins Exekutivkomitee der kalifornischen Ortsgruppe der American Civil Liberties Union (ACLU) gewählt; 1940 erschien er auf der Fördererliste der Friends of the Chinese People und wurde Mitglied des nationalen Exekutivkomitees des American Committee for Democracy and Intellectual Freedom, das die Notlage deutscher Intellektueller publik machte. Mit Ausnahme der ACLU wurden alle diese Organisationen zwischen 1942 und 1944 vom House Committee on Un-American Activities (HUAC) als »kommunistische Frontorganisationen« bezeichnet.
Besonders aktiv war Oppenheimer in der Ortsgruppe 349 der Lehrergewerkschaft an der East Bay. »Damals herrschten starke Spannungen im Lehrkörper«, so Chevalier, »die wenigen von uns, die mehr oder weniger links standen, wussten, dass wir dafür von den Älteren schief angeguckt wurden.« Bei Abstimmungen im Fakultätsrat »gewannen immer die Konservativen«. Mit Gewerkschaften wollten die meisten Akademiker in Berkeley nichts zu tun haben. Zu den Ausnahmen gehörte auch Jean Tatlocks Psychologieprofessor Edward Tolman, der Bruder von Richard Tolman, Oppenheimers Freund aus Pasadena. Die nächsten vier Jahre hat sich Oppenheimer mächtig ins Zeug gelegt, um die Mitgliederzahl der Gewerkschaft zu erhöhen. Wie Chevalier ebenfalls berichtete, fehlte er selten bei Versammlungen, und man habe auf seine Bereitschaft zählen können, auch untergeordnete Arbeiten zu übernehmen. So hätten sie einmal zusammen bis zwei Uhr morgens Umschläge für eine Postsendung an die mehreren Hundert Mitglieder adressiert – eine langweilige Tätigkeit für eine unpopuläre Sache. 311
Manche meinten, für Oppenheimers politisches Engagement seien persönliche Motive ausschlaggebend gewesen. »Irgendwie merkte man immer, dass er sich wegen seiner Begabungen, seines ererbten Reichtums und der Distanz, die ihn von anderen trennte, schuldig fühlte«, sagte etwa Edith Arnstein, eine Freundin Jeans und Parteimitglied. 312 Schon Anfang der 1930er Jahre, als er noch nicht politisch aktiv war, hatte er genau verfolgt, was in Deutschland vor sich ging. Mit großer Sorge sprach er oft über das Elend seiner Verwandten in Deutschland. Im Herbst 1937 trafen Roberts Tante Hedwig Oppenheimer-Stern (die jüngste Schwester seines Vaters) und deren Sohn Alfred Stern mit Familie als Flüchtlinge aus NS-Deutschland in New York ein. Oppenheimer hatte für sie gebürgt und ihre Ausgaben bezahlt; er überredete sie, sich in Berkeley niederzulassen. Seine Großzügigkeit gegenüber den Sterns war nicht oberflächlich, sie gehörten zu seiner Familie, und Jahrzehnte später, als Hedwig gestorben war, schrieb ihr Sohn an Oppenheimer: »Solange sie denken und fühlen konnte, hielt sie vollkommen zu dir.« 313
Im Herbst 1937 lernte Oppenheimer einen weiteren Flüchtling aus Europa kennen, Siegfried Bernfeld, einen angesehenen Schüler Sigmund Freuds aus Wien. Vor der Nazipest floh er zunächst nach London, wo ihm Ernest Jones, ebenfalls ein Freud-Schüler, riet: »Geh nach Westen, bleibe nicht hier.« Im September 1937 zog Bernfeld nach San Francisco, in eine Stadt, in der es damals, wie er wusste, nur einen praktizierenden Analytiker gab. Auch Bernfelds Frau Suzanne arbeitete psychoanalytisch. Ihr Vater, Eigentümer einer großen Kunstgalerie in Berlin, hatte dem deutschen Publikum Künstler wie Cézanne und Picasso bekannt gemacht. Als die Bernfelds nach San Francisco kamen, verkauften sie eines der letzten Gemälde, das ihnen aus ihrer einst beeindruckenden Kunstsammlung geblieben war, um davon zu leben. Bernfeld war ein redegewandter Lehrer und leidenschaftlicher Idealist, einer der wenigen freudianischen Analytiker, die versuchten, Psychoanalyse und Marxismus miteinander zu verbinden. 314 Schon als junger Mann, in Österreich, war Bernfeld politisch aktiv gewesen, erst als Zionist, später als Sozialist. Der große und hagere Mann trug stets einen flachen Filzhut, in Amerika porkpie hat genannt. Oppenheimer war tief beeindruckt – und bald gehörte ein Porkpie auch zu seinem Inventar.
Wenige Wochen nach seiner Ankunft in San Francisco organisierte Bernfeld eine Gruppe, in der führende Intellektuelle der Stadt regelmäßig über Fragen der Psychoanalyse diskutierten. Sie trafen sich in Privatwohnungen, tranken guten Wein, rauchten Zigaretten und debattierten über psychoanalytische Themen wie »Kastrationsangst« oder die »Psychologie des Krieges«. 315
Oppenheimer wird die schmerzlichen Erfahrungen mit Psychiatern in seiner Studentenzeit nicht vergessen haben. Doch könnte eben das sein Interesse an der Sache erklären. Von besonderer Bedeutung für ihn muss Eriksons Arbeit über die »Identitätsbildung« bei jungen Erwachsenen gewesen sein. Eine verlängerte, von »chronischen bösartigen Störungen« begleitete Adoleszenz, argumentierte Erikson, sei unter Umständen ein Zeichen für das Problem, unerwünschte Fragmente der Persönlichkeit loszuwerden. Junge Erwachsene suchten manchmal »Ganzheit« und fürchteten zugleich den Verlust ihrer Identität, was dazu führen könne, dass sie vor Wut um sich schlagen. Oppenheimers Verhalten und seine Schwierigkeiten in den Jahren 1925/26 scheinen Eriksons These ziemlich genau zu entsprechen. Robert hatte sich auf die theoretische Physik gestürzt und sich eine robuste Identität geschaffen, die Narben aber waren geblieben: »Ein gewisser psychischer Schaden«, so der Physiker und Wissenschaftshistoriker Gerald Holton, »und nicht zuletzt eine Verletzlichkeit, die sich durch seine Persönlichkeit zog wie eine geologische Bruchlinie, die beim nächsten Erdbeben zutage tritt.« 316
An Oppenheimer, den einzigen Physiker in der Gruppe, erinnerte man sich dort als jemanden, der »intensives Interesse« an der Psychoanalyse gezeigt habe. Jedenfalls ergänzte seine Neugier für psychologische Fragen sein Interesse an der Physik. Schon in Zürich hatte Wolfgang Pauli gegenüber Isidor Rabi geklagt, dass »die Physik eine Neben- und die Psychoanalyse die Hauptbeschäftigung« Oppenheimers sei. 317 Noch immer hatten metaphysische, die Physik transzendierende Fragen Vorrang. Und so fand er zwischen 1938 und 1941 stets Zeit, an Bernfelds Studiengruppe teilzunehmen, aus der 1942 das Psychoanalytische Institut von San Francisco hervorging. 318 Oppenheimers Beschäftigung mit Psychologie wurde auch gefördert durch seine intensive, sehr wechselvolle Beziehung zu Jean Tatlock, die ja Psychoanalytikerin werden wollte. Sie war nicht Mitglied von Bernfelds Gruppe, kannte aber einige Teilnehmer, und später wurde sie von Bernfeld im Rahmen ihrer Ausbildung analysiert. Die sehr von ihren Stimmungen getriebene Jean, die sich viel mit sich selbst beschäftigte, teilte Roberts lebhaftes Interesse am Unbewussten. Außerdem lag es nahe, dass der politisch engagierte Oppenheimer Psychoanalyse bei einem marxistischen Freudianer wie Bernfeld studierte.
Manche unter Oppenheimers älteren Freunden fanden seinen plötzlichen politischen Aktivismus eher befremdlich, so vor allem Ernest Lawrence. Er konnte zwar verstehen, dass Robert Angst um seine verfolgten Verwandten hatte, im Übrigen aber war er der Auffassung, dass das Geschehen in Europa Amerika nichts angehe. »Ihr seid zu gute Physiker, um euch mit politischen Dingen abzugeben«, sagte er bei verschiedenen Gelegenheiten zu Oppenheimer und dessen Bruder Frank: Solche Dinge solle man Fachleuten überlassen. Eines Tages kam Lawrence ins Rad Lab und sah, dass Oppenheimer auf die Tafel geschrieben hatte: »Benefiz-Cocktail Party für die spanischen Republikaner, alle im Lab eingeladen.« Wütend wischte Lawrence die Nachricht ab. 319