12.
»Wir wollten den New Deal nach links ziehen«

Ich hatte genug von der Spaniensache, es gab noch andere, bedrückendere Krisen auf der Welt.
J. Robert Oppenheimer

Am Sonntag, dem 29. Januar 1939, stieß Luis W. Alvarez, ein vielversprechender junger Physiker, der eng mit Ernest Lawrence zusammenarbeitete, auf einem Frisörstuhl sitzend und im San Francisco Chronicle blätternd, auf die Nachricht, dass die beiden deutschen Physiker Otto Hahn und Fritz Straßmann nachgewiesen hatten, dass man den Kern des Uranatoms durch Beschuss mit Neutronen spalten kann. 406 Der Frisör war noch nicht fertig, doch Alvarez sprang auf und lief, so schnell er konnte, zum Radiation Lab, um die Neuigkeit zu verkünden. Oppenheimer meinte zunächst nur: »Unmöglich«, und ging zur Tafel, um mathematisch zu beweisen, dass eine Spaltung undenkbar sei. Da könne nur ein Fehler unterlaufen sein.

Am nächsten Tag wiederholte Alvarez das Experiment in seinem Labor: »Ich bat Robert herüberzukommen und sich das anzuschauen: Das Oszilloskop zeigte die sehr kleinen natürlichen Stromstöße der Alphapartikel und dazu fünfundzwanzigmal stärkere, nadelförmige Spaltungsimpulse. Es dauerte keine fünfzehn Minuten, da war auch er der Meinung, dass tatsächlich eine Reaktion stattgefunden hatte. Sofort überlegte er weiter. Ob im Verlauf der Reaktion nicht auch zusätzliche Neutronen emittiert würden, die auf weitere Uranatome treffen und auch diese spalten, also eine Kettenreaktion auslösen würden? Könnte man auf diese Weise nicht Energie erzeugen oder Bomben bauen? Ungeheuer, wie schnell sein Verstand arbeitete …«

Einige Tage später schrieb Oppenheimer an Willie Fowler, seinen Kollegen am Caltech: »Die U[ran]-Geschichte ist unglaublich. Wir entnahmen es zuerst der Zeitung, orderten telefonisch mehr Stoff und haben seither eine Menge Berichte hereinbekommen. … Viele Punkte sind unklar: Wo bleiben die kurzlebigen hochenergetischen Betas? Auf welche Art zerfällt das U? Ganz regellos, wie man meinen könnte, oder nur zu bestimmten Bruchstücken? … Ich glaube, es ist eine aufregende Sache, nicht in der feinen Art der Positronen und Mesotronen, sondern in guter, ehrlicher, praktischer Hinsicht.« 407 Eine bedeutende Entdeckung war gelungen, und Oppenheimer konnte seine Aufregung kaum zähmen. Zugleich aber sah er ihre tödlichen Implikationen: »Ich halte es für nicht ganz unwahrscheinlich, dass ein zehn Zentimeter großer Würfel von Urandeuterid (man sollte etwas haben, um die Neutronen zu bremsen, ohne sie einzufangen) eine höllische Explosion verursachen könnte«, schrieb er an George Uhlenbeck. 408

Ausgerechnet in dieser aufregenden Woche klopfte der einundzwanzigjährige Doktorand Joseph Weinberg an die Tür von Raum 219 in der LeConte Hall, Berkeley. Der etwas großspurige, sehr von sich überzeugte Weinberg war von Gregory Breit, seinem Physikprofessor in Wisconsin, nach Berkeley geschickt worden; dies sei einer der wenigen Orte auf der Welt, wo man mit »einem Verrückten wie Ihnen« etwas anfangen könnte. Er müsse zu Oppenheimer, hatte Breit gesagt und Weinbergs Protest ignoriert, dass dessen Artikel in der Physical Review die einzigen seien, die er nicht verstehe. Weinberg schilderte die erste Begegnung: »Hinter der Tür war ein fürchterlicher Tumult. Also klopfte ich laut und vernehmlich, kurz darauf ging die Tür auf, und eingehüllt in Zigarettenqualm und Lärm … sprang jemand heraus.«

»Was zum Teufel wollen Sie?«

»Ich suche Professor J. Robert Oppenheimer.«

»Den haben Sie gefunden.« Hinter der Tür konnte Weinberg Männerstimmen schreien und streiten hören. »Was machen Sie hier?«

Er komme gerade aus Wisconsin, erklärte Weinberg.

»Und was haben Sie dort gemacht?«

»Mit Professor Gregory Breit gearbeitet.«

»Schon gelogen«, schnauzte Oppenheimer, »Ihre erste Lüge.«

»Sir?«

»Sie sind hier. Sie haben sich von Breit weggearbeitet, Sie haben sich von ihm gelöst.«

»So könnte man es genauer sagen.«

»Gut«, sagte Oppenheimer, »Glückwunsch! Kommen Sie rein in das Irrenhaus.«

Und er stellte Weinberg Ernest Lawrence, Linus Pauling und mehreren seiner Studenten vor: Hartland Snyder, Philip Morrison und Sydney M. Dancoff. Damit hatte Weinberg nicht gerechnet: »Alles Spitzenleute, ich konnte es kaum glauben.« Später ging er mit Morrison und Dancoff essen. Jemand nahm eine Serviette und zeichnete eine Bombe, die aufgrund einer Kettenreaktion funktionierte. »Mit den Daten, die wir hatten, entwickelten wir das Schema einer Bombe«, erzählte Weinberg. Nach ein paar vorläufigen Rechnungen meinte Phil Morrison, das könne nicht funktionieren: Die Kettenreaktion werde verpuffen, bevor es zur Explosion käme. Nach einer Woche jedoch sah Morrison, als er in Oppenheimers Büro kam, an der Tafel »eine Zeichnung – eine sehr schlechte, eine abscheuliche Zeichnung – einer Bombe«. 409

Schon bevor er nach Berkeley kam, war Weinberg ein begeisterter Jünger Bohrs gewesen: »Ich hatte einfach Spaß daran, an den Naturgesetzen herumzupfuschen.« Wie viele Physiker hatte auch er sich diesem Fach zugewandt, weil er zu fundamentalen philosophischen Einsichten gelangen wollte, und hätte die Sache auch fast schon wieder aufgegeben, als er auf Niels Bohrs klassisches Werk Atomtheorie und Naturbeschreibung stieß: »Und ich war mit der Physik versöhnt.« In Bohrs Händen sei die Quantentheorie zu einem fröhlichen Fest des Lebens geworden. Schon an seinem ersten Tag in Berkeley sagte Weinberg beiläufig zu Phil Morrison, Bohrs Buch sei eines der wenigen gewesen, die mitzunehmen sich gelohnt habe. Phil platzte vor Lachen: In Oppenheimers engem Kreis galt Bohrs kleines Buch als Bibel. Weinberg konnte sich freuen. In Berkeley war »Bohr der Gott und Oppie sein Prophet«. 410


War ein Student mit seiner Weisheit am Ende und blieb beim Verfassen eines Artikels stecken, fand Oppenheimer nichts dabei, selbst in die Tasten zu greifen. Eines Abends im Jahr 1939 bat er Joe Weinberg und Hartland Snyder zu sich in die Shasta Road. Die beiden jungen Doktoranden hatten zusammen an einem Papier gearbeitet, waren aber zu keiner befriedigenden Schlussfolgerung gelangt. »Er gab uns das obligatorische Glas Whiskey«, so Weinberg, »und legte Musik auf, um mich zu beschäftigen. Hartland blätterte derweil in den Büchern, und Oppie setzte sich an die Schreibmaschine. Nach einer halben Stunde hatte er den letzten Abschnitt heruntergetippt. Einen schönen Abschnitt.« »Stationary States of Scalar and Vector Fields« erschien 1940 in der Physical Review .

Zu Oppenheimers Vorlesungen gehörte unweigerlich, dass er die Tafel mit einem Haufen Formeln füllte. Dabei reichten ihm, wie den meisten Theoretikern, Formeln allein nicht aus. Weinberg, den Oppenheimer mit der Zeit als einen seiner intelligentesten Schüler betrachtete, ging nach und nach auf, dass mathematische Formeln nur als vorübergehender Haltepunkt zu betrachten sind, so wie Kletterhaken für Bergsteiger. Mit jedem dieser in den Fels geschlagenen Haken ist die Position des nächsten mehr oder weniger vorgeschrieben. »Eine Aufzeichnung, die das wiedergibt«, so Weinberg, »ist eine Aufzeichnung einer bestimmten Aufstiegsroute, über die Form des Felsens aber sagt sie wenig.« Weinberg und andere konnten in Oppenheimers Kursen erleben, wie »in einer Stunde fünf- bis zehnmal der Blitz einschlug, so kurz und schnell, dass man ihn leicht verpassen konnte. Zum Beispiel, weil man die Formeln von der Tafel sammelte. Häufig waren das grundlegende philosophische Einsichten, die die Physik in einen menschlichen Kontext rückten.« Oppenheimer nahm keine Abschlussprüfungen ab, er verteilte Hausarbeiten. Jede seiner Vorlesungsstunden war ein nichtsokratischer Vortrag »in einem hohen Tempo«, so Ed Geurjoy, Doktorand zwischen 1938 und 1942. Allerdings durften die Hörer Oppenheimer durchaus mit Fragen unterbrechen. »Im Allgemeinen antwortete er geduldig«, so Geurjoy, »es sei denn, die Frage war offenkundig dumm. Dann konnte seine Antwort ätzend sein.« 411

Weinberg war bald begeistertes Mitglied in Oppenheimers innerem Kreis: »Er wusste, dass ich ihn sehr verehrte, so wie wir alle.« Auch für die Doktoranden Philip Morrison, Giovanni Rossi Lomanitz, David Bohm und Max Friedman war Oppenheimer in diesen Jahren Mentor und Vorbild. Es waren unkonventionelle junge Männer, die sich, nach Morrisons Worten, stolz als »selbstbewusste und wagemutige Intellektuelle« betrachteten: Sie studierten theoretische Physik. 412 Und alle waren sie in der einen oder anderen Art in der Volksfront aktiv. Philip Morrison und David Bohm traten der KP sogar bei, andere blieben am Rand. Auch Joe Weinberg war, so zumindest vermutete David Hawkins uns gegenüber, kurzzeitig Parteimitglied. 413

Der 1915 in Pittsburgh geborene Morrison ist nicht weit von Kitty Oppenheimers Elternhaus aufgewachsen. Nach dem Besuch einer staatlichen Schule erwarb er 1936 am Carnegie Institute of Technology seinen Bachelor. Und gleich im Herbst ging er nach Berkeley, um bei Oppenheimer theoretische Physik zu studieren. Als Kind war er an Kinderlähmung erkrankt, und eines seiner Beine steckte in einer Schiene. Wegen seiner Krankheit hatte er viel Zeit im Bett verbringen müssen, damals übte er Schnelllesen – fünf Seiten pro Minute. Während seiner Doktorandenzeit beeindruckte er alle mit seinem breit gefächerten Wissen, das von der Militärgeschichte bis zur Physik reichte. 1936 in die KP eingetreten, hielt er seine linken Ansichten nicht geheim, seine Mitgliedschaft aber hängte er nicht an die große Glocke. Alle hätten damals, wie sich Bohm erinnerte, dem Kommunismus nahegestanden. Er selbst habe bis 1940/41 nicht viel Sympathie für die Partei gehabt, nach der Besetzung Frankreichs jedoch schien es ihm, als könnten nur die Kommunisten den Nationalsozialisten Widerstand leisten. Viele Europäer schienen sie den Russen vorzuziehen, und Bohm hatte »das Gefühl, dass dies in Amerika ähnlich lief. Die Nazis hielt ich für eine totale Bedrohung der Zivilisation. … Die Russen schienen die Einzigen zu sein, die sie wirklich bekämpften. Also hörte ich genauer hin, was sie zu sagen hatten.« Im Spätherbst 1942 berichteten alle Zeitungen über die Schlacht bei Stalingrad, eine Zeitlang sah es tatsächlich so aus, als hinge der Ausgang des Krieges ab von den Opfern, die das russische Volk brachte. Weinberg zufolge haben er und seine Freunde die ganze Zeit über mit dem russischen Volk gelitten: »Das versteht heute niemand mehr. Selbst wenn wir sahen, was da vor sich ging, den ganzen Schwindel der Schauprozesse, wir guckten weg.« 414

David Hawkins kam 1936 nach Berkeley, um Philosophie zu studieren. Schon bald lernte er Oppenheimers Schüler kennen, Phil Morrison, David Bohm und Joe Weinberg. Oppenheimer erlebte er auf einer Versammlung der Teachers’ Union; es ging um die Notlage des unterbezahlten Lehrpersonals, und Hawkins war gebannt von Oppenheimers Auftreten: »Er war so überzeugend, sprach unglaublich elegant, konnte den Leuten zuhören und in seine Beiträge aufnehmen, was sie zu sagen hatten. Ich hatte den Eindruck, dass er ein guter Politiker war, ich meine, er konnte zusammenfassen, was vorher gesagt worden war, und die Leute entdeckten dann, dass sie einer Meinung waren. Ein großes Talent.« Jahre später gefragt, ob er glaube, dass Oppenheimer Parteimitglied gewesen sei, antwortete Hawkins: »Nicht dass ich wüsste. Aber wissen Sie, es hätte nicht viel ausgemacht. In gewissem Sinn ist die Frage unerheblich. Auf alle Fälle stand er hinter einer Reihe dieser linken Aktivitäten. … Klar war, dass wir uns dem linken Flügel des New Deal zurechneten. Wir wollten den New Deal nach links ziehen. Das war unsere Lebensaufgabe« – genau so könnte man auch Oppenheimers politische Ziele beschreiben. 415


Auch Martin D. Kamen war ein Oppenheimer-Jünger. Studiert hatte er Chemie, in Chicago eine Doktorarbeit über ein kernphysikalisches Thema vorgelegt. In ein paar Jahren sollten er und der Chemiker Sam Ruben mit Lawrence’ Zyklotron das radioaktive Kohlenstoff-14-Isotop entdecken. 416 Anfang 1937 war er einer Freundin nach Berkeley gefolgt, und Ernest Lawrence hatte ihn für 1000 Dollar im Jahr im Rad Lab angestellt. Berkeley, sagte er, sei ein Mekka gewesen. Oppenheimer erfuhr bald, dass Kamen sich ernsthaft mit Musik beschäftigte – er spielte Geige, musizierte mit Frank Oppenheimer – und gern über Literatur und Musik sprach. »Ich glaube«, so Kamen, »dass er mich deshalb mochte, ich konnte mit ihm auch über andere Dinge reden, nicht nur über Physik.« Von 1937 bis zum Ausbruch des Krieges verbrachten die beiden viel Zeit miteinander. Wie andere aus Oppenheimers Kreis auch bewunderte Kamen den charismatischen Physiker: »Alle hielten ihn auf liebevolle Weise für ein bisschen verrückt. Er war brillant, aber irgendwie auch flüchtig. Sein Vorgehen wirkte dilettantisch.« Manchmal habe er auch den Eindruck gehabt, Oppenheimers Schrullen seien kalkuliert, vor der Neujahrsparty bei Estelle Caen habe er das erlebt. Während der Hinfahrt habe Oppie gesagt, er wisse, wo Estelle wohne, habe aber die Hausnummer vergessen und erinnere sich nur noch daran, dass es ein Vielfaches von sieben war. »Wir fuhren also die Straße hinauf und hinunter und fanden schließlich die Hausnummer 3528 – tatsächlich, durch sieben teilbar. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann glaube ich, er wollte uns auf den Arm nehmen … Er stand immer in der unwiderstehlichen Versuchung, Eindruck bei dir zu schinden.«

Kamen war politisch nicht aktiv, ganz sicher kein Parteimitglied. Aber er nahm mit Oppenheimer an Veranstaltungen teil, auf denen für das Joint Anti-Fascist Refugee Committee oder den Russian War Relief gesammelt wurde. Auch in einen nicht sehr erfolgreichen Versuch, am Rad Lab eine Gewerkschaftszelle zu organisieren, zog ihn Oppenheimer hinein. Eines Abends sprach Oppenheimer auf einer Veranstaltung, die die Gewerkschaft in der Wohnung von Herve Voge organisiert hatte, einem ehemaliger Studenten Oppenheimers, der inzwischen bei Shell arbeitete. Über fünfzehn Leute waren gekommen und hörten sich an, was Oppenheimer über die Aussichten von Amerikas Kriegseintritt zu sagen hatte. »Wenn er sprach«, so Voge, »war man immer gespannt.«

Im Herbst 1941 erklärte sich Oppenheimer bereit, eine gewerkschaftliche Veranstaltung in seiner Wohnung am Eagle Hill abzuhalten. 417 Er wollte Mitglieder für die umstrittene FAECT werben, die Federation of Architects, Engineers, Chemists and Technicians, und sprach unter anderem auch Kamen an – kein unproblematisches Vorhaben, denn das Radiation Lab arbeitete damals bereits für die U.S. Army. Lawrence explodierte, als er von dem Treffen hörte, nicht nur weil er entschieden dagegen war, dass sich seine Physiker und Chemiker gewerkschaftlich organisierten, sondern auch weil er dies als Beweis dafür nahm, dass sein alter Freund seine kostbare Zeit noch immer mit linker Politik vergeudete. Dennoch unternahm er in diesem Herbst einen – vergeblichen – Versuch, Oppenheimer in das Bombenprojekt einzubinden. »Wenn er nur mit diesem Unsinn aufhören würde«, beschwerte er sich, so Kamen, »könnten wir ihn in das Projekt kriegen, aber so wird die Army ihn keinesfalls akzeptieren.« 418


Im Herbst 1941 zog sich Oppenheimer aus der Gewerkschaftsarbeit zurück, womit allerdings die Versuche nicht endeten, die Wissenschaftler im Radiation Lab zu organisieren. Anfang 1943 traten Rossi Lomanitz, Irving David Fox, David Bohm, Bernard Peters und Max Friedman, alles Schüler Oppenheimers, in die Gewerkschaft (FAECT local 25) ein. Rasch zog diese nun die Aufmerksamkeit des militärischen Geheimdienstes auf sich, der das Rad Lab überwachte, und im August war im Kriegsministerium bekannt, dass verschiedene Mitarbeiter des Labors »aktive Kommunisten« seien; unter anderen fiel auch Joe Weinbergs Name. 419

Oppenheimer jedoch war 1943 schon länger nicht mehr an der gewerkschaftlichen Organisationsarbeit beteiligt – nicht weil sich seine politischen Ansichten geändert hätten, sondern weil er eingesehen hatte, dass er nur dann Aussichten hatte, an einem Projekt mitarbeiten zu können, das vielleicht notwendig war, um NS-Deutschland zu schlagen, wenn er Lawrence’ Rat folgte. Schon im Herbst 1941, während ihrer Auseinandersetzungen über seine Mitwirkung beim Aufbau einer Gewerkschaftsgruppe am Rad Lab, hatte Lawrence gesagt, er sei von James B. Conant, dem Präsidenten der Harvard University, dafür gerügt worden, dass er mit Oppenheimer, der damals noch nicht offiziell am Bombenprojekt beteiligt war, über Berechnungen im Bereich der Kernspaltung gesprochen habe.

Tatsächlich hat Oppenheimer seit Anfang 1941 mit Lawrence zusammengearbeitet. Damals begann dieser mit seinem Zyklotron ein elektromagnetisches Verfahren zu entwickeln, mit dem sich das spaltbare Uranisotop 235 (U-235) vom nicht spaltbaren Isotop U-238 trennen lässt, das im natürlichen Uran in deutlich größeren Mengen vorkommt. Oppenheimer und eine Reihe anderer Wissenschaftler wussten, dass Präsident Roosevelt im Oktober 1939 ein Urankomitee ins Leben gerufen hatte, das die Forschungen zur Kernspaltung koordinieren sollte. Seit Juni 1941 ging in amerikanischen Physikerkreisen die Angst um, dass die Deutschen mit ihren Forschungen schon sehr viel weiter seien als sie selbst. Im Herbst wandte sich Lawrence, besorgt über den schleppenden Fortschritt eines praktischen Bombenprojekts, an Compton: Oppenheimer müsse unbedingt zu einem für den 21. Oktober 1941 geplanten Geheimtreffen im Labor von General Electric in Schenectady, New York, eingeladen werden, denn: »Oppenheimer hat wichtige neue Ideen.« Und weil er wusste, dass dessen Name häufig mit radikalen politischen Aktivitäten in Zusammenhang gebracht wurde, fügte Lawrence beruhigend hinzu: »Ich habe großes Vertrauen in Oppenheimer.« 420

Oppenheimer wurde tatsächlich nach Schenectady eingeladen, und seine Berechnungen der Menge U-235, die man für eine wirkungsvolle Waffe braucht, waren ein wesentlicher Punkt im Schlussbericht des Treffens. Hundert Kilogramm, rechnete er, seien ausreichend für eine explosive Kettenreaktion. Das Treffen, an dem Conant, Compton, Lawrence und eine Handvoll anderer teilnahmen, ging Oppenheimer noch lange nach. Die Kriegsberichte entmutigten ihn – Hitlers Wehrmacht rückte gerade auf Moskau vor –, und er wollte unbedingt dazu beitragen, die Vereinigten Staaten auf einen möglichen Kriegseintritt vorzubereiten. Er beneidete seine Kollegen, die ans MIT gegangen waren, um dort an der Entwicklung des Radars zu arbeiten: »Erst als ich es mit dem ganz am Anfang stehenden Atomenergieunternehmen zu tun bekam«, so gab er 1954 zu Protokoll, »sah ich einen Weg, wie ich unmittelbar von Nutzen sein konnte.« 421

Einen Monat später schickte Oppenheimer eine Notiz an Lawrence, in der er versicherte, seine Gewerkschaftsaktivitäten habe er eingestellt: »Es wird keine weiteren Schwierigkeiten geben. … Ich habe noch nicht mit allen Beteiligten gesprochen, aber diejenigen, mit denen ich gesprochen habe, stimmen uns zu, Du kannst das also vergessen.« 422 Für die bürgerlichen Freiheitsrechte jedoch setzte er sich weiterhin ein und bezog Stellung gegen die beginnende Hexenjagd auf Andersdenkende. In diesem Zusammenhang trat er auch für Gewerkschafter ein, die wegen ihrer Mitgliedschaft ihre Stelle verloren hatten. 423


Schon Ende der 1930er Jahre rückte Oppenheimer immer mehr ins Zentrum des Geschehens – und genau dort wollte er auch sein. »Was immer sich ereignete«, so Kamen, »man ging zu Oppenheimer und erzählte ihm, worum es sich handelte, er dachte darüber nach und lieferte eine Erklärung.« Seit 1941 aber hatte Oppenheimer einigen Grund zu der Annahme, dass man ihn eigentlich nicht dabeihaben wollte. »Plötzlich«, sagte Kamen, »spricht niemand mehr mit ihm. Er ist draußen. Da geht etwas Großes vor, aber er weiß nicht, was. Und so wächst seine Enttäuschung. Auch Lawrence ist sehr bekümmert, weil er weiß, dass … bei einem Mann wie Oppenheimer Abschirmung aus Sicherheitsgründen Unsinn ist. Besser, ihn drin zu haben. Und ich denke, so kam es dann auch: Man sagte sich, es ist leichter, ihn zu überwachen, wenn er im Projekt ist, als wenn er draußen ist.«

Am 6. Dezember 1941 besuchte Oppenheimer eine Benefizveranstaltung für Teilnehmer am Spanischen Bürgerkrieg. Am nächsten Tag aber, nach dem Überraschungsangriff der Japaner auf Pearl Harbor, so gab er später zu Protokoll, habe er »genug gehabt von Spanien, es gab andere und bedrückendere Krisen auf der Welt.« 424