14.
»Die Affäre Chevalier«

Ich habe mit Chevalier gesprochen, und Chevalier mit Oppenheimer, und Oppenheimer sagte, er wolle nichts damit zu tun haben.
George Eltenton

Es können geringfügige Ereignisse sein, die das Leben eines Menschen nachhaltig verändern. Ein solches Ereignis trug sich im Winter 1942/43 in Robert Oppenheimers Küche am Eagle Hill zu: nichts weiter als ein kurzes Gespräch mit einem Freund. Doch was gesagt wurde und was Oppenheimer daraufhin unternahm, hatte einen solchen Einfluss auf den Rest seines Lebens, dass man an Tragödien der griechischen Antike oder Shakespeares Dramen denken könnte. Bekannt wurde dies Ereignis als Affäre Chevalier, und sie entwickelte sich ganz ähnlich wie Akira Kurosawas Film Rashomon (1951), der ein einziges Ereignis, den jeweiligen Schilderungen der Beteiligten folgend, in immer neuen Perspektiven zeigt.

Kurz bevor die Oppenheimers Berkeley verließen, luden sie die Chevaliers zu einem ruhigen Abendessen ein. Kitty und Robert zählten Haakon (»Hoke«) und Barbara zu ihren besten Freunden, und es sollte ein besonderer Abschied werden. Als die Chevaliers eintrafen, ging Oppenheimer in die Küche, um die Martinis zu mixen. Hoke folgte ihm und berichtete von einem Gespräch, das er kürzlich mit einem gemeinsamen Bekannten, dem Physiker George C. Eltenton, geführt hatte. Dieser stammte aus England, hatte in Cambridge studiert und arbeitete damals für Shell. Der genaue Wortlaut dieses Gesprächs ist für die Geschichte verloren, weder Oppenheimer noch Chevalier haben sich Notizen gemacht. Offensichtlich hielten beide den Inhalt dieses Gesprächs für nicht sonderlich bedeutsam. Dabei drehte es sich um einen ungeheuerlichen Vorschlag. Eltenton, so eröffnete Chevalier dem Freund, habe ihn aufgefordert, Oppenheimer zu bitten, Informationen über seine Arbeit an einen Diplomaten im sowjetischen Konsulat in San Francisco weiterzugeben, den Eltenton kannte.

Alle drei – Chevalier, Oppenheimer und Eltenton – berichteten später übereinstimmend, Oppenheimer habe spontan und verärgert zu Chevalier gesagt, das sei »Verrat«: Hoke solle die Finger von solchen Dingen lassen. Auch Eltentons unter den Linken in Berkeley beliebtes Argument, Amerikas sowjetische Verbündete kämpften um ihr Überleben und die Reaktionäre in Washington verweigerten ihnen die Unterstützung, die sie verdienten, habe Oppenheimer nicht umstimmen können. Chevalier beharrte stets darauf, dass er den Freund von Eltentons Plan nur habe in Kenntnis setzen, ihn warnen wollen: Er sei nicht als Eltentons Mittelsmann aufgetreten. So hat Oppenheimer den Bericht des Freundes denn auch verstanden. Er hatte mit alldem abgeschlossen und tat die Geschichte fürs Erste ab als ein erneutes Beispiel für Hokes übermäßige Sorge um das Schicksal der Sowjetunion. Hätte er die Behörden umgehend informieren sollen? Hätte er es getan, wäre sein Leben anders verlaufen. Damals aber konnte er es nicht tun, ohne seinen besten Freund mit hineinzuziehen, den er schlimmstenfalls für einen verstiegenen Idealisten hielt.

Die Martinis waren fertig, das Gespräch beendet, und die beiden Freunde gingen zu ihren Frauen.


In seinen Erinnerungen Mein Fall J. Robert Oppenheimer schreibt Chevalier, er habe mit Oppenheimer nur kurz über Eltentons Vorschlag gesprochen: »Er war sichtlich beunruhigt, wir sprachen noch ein paar Worte über die Sache, und das war alles. … Und dann vergaß ich die ganze Sache.« 457 Oppenheimer wiederum erklärte in der Sicherheitsanhörung von 1954, Chevalier sei ihm in die Küche gefolgt und habe etwas gesagt wie: »Ich habe kürzlich George Eltenton getroffen.« Und der habe ihm gesagt, er wisse »einen Weg, um sowjetischen Wissenschaftlern Informationen zukommen zu lassen. Ich glaube, ich habe [zu Chevalier] gesagt: ›Aber das ist Verrat‹, bin jedoch nicht sicher. Ich sagte, glaube ich, ebenfalls dem Sinn nach, dass es eine fürchterliche Sache wäre, so etwas zu tun. Chevalier stimmte mir voll zu. Das war alles. Es war ein ganz kurzes Gespräch.« 458

Nach Roberts Tod, während eines Besuchs bei Verna Hobson (Oppenheimers ehemaliger Sekretärin und Kittys Freundin) in London, lieferte Kitty Oppenheimer eine andere Version des Vorfalls: Sie habe »in dem Moment, in dem Chevalier das Haus betrat, sehen können, dass etwas im Busch war. Sie habe die Männer darum nicht allein lassen wollen, und als Chevalier klar geworden sei, dass er mit Robert nicht allein sprechen konnte, habe dieser in ihrer Gegenwart von seinem Gespräch mit Eltenton berichtet. Nach Kittys Bericht ist sie es gewesen, die mit den Worten herausplatzte: »Aber das wäre ja Verrat!« 459 Und Oppenheimer, entschlossen, sie aus der Sache herauszuhalten, habe ihre Worte als die seinen ausgegeben und stets behauptet, er und Chevalier seien allein in der Küche gewesen, als es um Eltenton ging. Auch Chevalier beharrte stets darauf, dass Kitty nicht in der Küche war, als er und Robert über Eltentons Vorschlag sprachen, und in Barbara Chevaliers Erinnerung an dieses Ereignis kommt Kitty gar nicht vor.

Jahrzehnte später hat Barbara ein (nie veröffentlichtes) »Tagebuch« geschrieben, das eine weitere Version enthält: »Ich war natürlich nicht in der Küche, als Haakon mit Oppie sprach, aber ich wusste, was er ihm sagen wollte. Ich weiß auch, dass Haakon hundertprozentig daran interessiert war herauszufinden, was Oppie tat, und es an Eltenton weitergeben wollte. Ich glaube, Haakon war sogar der Ansicht, dass Oppie eine Zusammenarbeit mit den Russen befürworten würde. Ich weiß das, weil wir vorher eine große Auseinandersetzung darüber hatten.« Als Barbara dies niederschrieb – 1983, rund vierzig Jahre später –, war sie eine verbitterte Exehefrau; sie hielt nicht mehr viel von ihrem ehemaligen Mann, dumm sei er gewesen, ein »Mann mit begrenztem Horizont, fixen Ideen und unveränderlichen Gewohnheiten«. Bald nach Eltentons Annäherung habe Haakon ihr gesagt: »Die Russen wollen Bescheid wissen.« Nach ihrer Erinnerung habe sie versucht, ihren Mann davon abzuhalten, mit der Sache zu Oppenheimer zu gehen: »Er hat nie begriffen, wie lächerlich diese Situation war, dieser unbedarfte Lehrer für moderne französische Literatur als Mittelsmann, der den Russen steckt, woran Oppie arbeitet.« 460


Oppenheimer kannte Eltenton nur von Gewerkschaftstreffen, auch bei einer der Sitzungen in Oppenheimers Haus war er dabei; insgesamt hatte er ihn vier oder fünf Mal gesehen. 461 Eltenton, ein dünner nordischer Typ, und seine Frau Dorothea (Dolly) waren Engländer. Sie hatte Chevalier zuerst kennengelernt, in San Francisco: 1938 war sie ins Büro der League of American Writers gekommen und hatte ihre Dienste als Sekretärin angeboten. Irgendwann hat sich Eltenton dann bei Chevalier gemeldet: Er wolle mit ihm reden. Also ist Chevalier ein, zwei Tage später zu dessen Wohnung in der Cragmont Avenue in Berkeley gefahren. Eltenton sprach besorgt über den Krieg und seinen noch immer ungewissen Ausgang, verwies darauf, dass die Sowjetunion die volle Wucht des deutschen Überfalls zu tragen habe, vier Fünftel der Wehrmacht stünden an der Ostfront. Er sei von Pjotr Iwanow, den er für einen Sekretär des sowjetischen Generalkonsulats in San Francisco hielt (in Wirklichkeit war er Offizier des sowjetischen Geheimdiensts), angesprochen worden. Er habe ihn gefragt, ob er etwas wisse über das, was »oben auf dem Hügel«, womit das Radiation Lab gemeint war, vor sich gehe. 462

1946 wurde Eltenton vom FBI zur Affäre Chevalier verhört, und er gab seine Unterredung mit Iwanow in folgender Weise wieder: 463 »Ich sagte ihm, ich wisse sehr wenig über die Sache, woraufhin er mich fragte, ob ich Professor E.O. Lawrence, Dr. J.R. Oppenheimer und einen Dritten, an dessen Namen ich mich nicht erinnere, kenne.« (Später meinte er, der dritte von Iwanow erwähnte Wissenschaftler sei Luis Alvarez gewesen.) Er habe dem Russen gesagt, er kenne nur Oppenheimer, aber nicht gut genug, um ihn in dieser Angelegenheit anzusprechen. Iwanow habe nachgehakt: Ob er denn niemand anderen kenne, der an Oppenheimer herantreten könne. »Ich überlegte kurz und sagte dann, der einzige gemeinsame Bekannte, der mir einfalle, sei Haakon Chevalier. Darauf fragte er mich, ob ich bereit wäre, mit Chevalier über die Sache zu reden.«

Eltenton zufolge kamen er und Chevalier, wenn auch mit »ziemlichem Unbehagen«, überein, Oppenheimer anzusprechen. Er habe Chevalier versichert, wenn Oppenheimer nützliche Informationen habe, würden diese von Iwanow »sicher weitergeleitet«. Beiden sei sehr wohl klar gewesen, was sie im Auge hatten. »Mr. Iwanow hat auch die Frage der Bezahlung angesprochen, es wurde aber keine Summe genannt, weil ich für das, was ich tat, nicht bezahlt werden wollte.« Nach einigen Tagen habe ihm Chevalier mitgeteilt, er habe Oppenheimer getroffen, doch sei es »völlig unmöglich gewesen, irgendwelche Daten zu bekommen, und Dr. Oppenheimer billigte die Angelegenheit überhaupt nicht.« Iwanow sei noch einmal zu ihm gekommen, habe aber auch da nichts anderes erfahren: dass nämlich Oppenheimer zu keiner Art der Zusammenarbeit bereit sei. Damit sei die Sache erledigt gewesen.

Eltentons Aussage wird durch ein weiteres Protokoll des FBI bestätigt. Denn gleichzeitig mit Eltentons Verhör hatte sich ein anderes Agententeam Chevalier vorgenommen und ihm die gleichen Fragen gestellt. Im Fortgang der Verhöre koordinierten die Agenten ihre Befragung telefonisch, konnten also die Erinnerungen beider Männer gegeneinanderstellen, um Unstimmigkeiten aufzudecken. Doch was beide zu Protokoll gaben, wich nur unwesentlich voneinander ab. Chevalier sagte, nach seiner Erinnerung habe er Oppenheimer gegenüber den Namen Eltenton nicht erwähnt (was er den Memoiren nach doch getan hat). Und er ließ in seinen Verhören nichts davon verlauten, dass Eltenton ihn auch auf Lawrence und Alvarez angesprochen habe: »Ich möchte feststellen, dass ich, soweit ich mich zum gegenwärtigen Zeitpunkt erinnere, bis auf Oppenheimer niemanden sonst angesprochen habe, um Informationen über die Arbeit des Radiation Lab zu bekommen. Vielleicht habe ich diesem oder jenem gegenüber erwähnt, dass es nützlich sein könne, solche Informationen zu bekommen. Aber ich bin sicher, dass ich keinen weiteren Vorschlag in diesem Zusammenhang gemacht habe.« Oppenheimer »lehnte mein Ansinnen ohne weitere Diskussion ab«.


Im Lauf der Zeit haben Historiker verschiedentlich vermutet, dass Eltenton sowjetischer Agent und im Krieg als Anwerber tätig gewesen sei. Als 1947 Einzelheiten seiner Befragung durch das FBI durchsickerten, floh er nach England und weigerte sich bis zu seinem Tod, weitere Aussagen zu diesem Vorfall zu machen. 464 War Eltenton tatsächlich ein Spion? Niemand kann bestreiten, dass er vorhatte, den Sowjets Informationen über ein kriegswichtiges Projekt zukommen zu lassen. Aber alles, was die Ermittlungen zu seinem Verhalten in den Jahren 1942/43 ergeben haben, spricht dafür, dass er eher ein fehlgeleiteter Idealist war als ein sowjetischer Agent.

Neun Jahre lang, von 1938 bis 1947, fuhr Eltenton regelmäßig mit seinem Nachbarn Herve Voge zur Arbeit bei Shell. Außer Voge, einem Physikochemiker, der unter anderem auch bei Oppenheimer studiert hatte, gehörten 1943 noch Hugh Harvey, ein Engländer mit gemäßigten politischen Anschauungen, Lee Thurston Carlton, ein Linker, Harold Luck und Daniel Luten zu dieser Fahrgemeinschaft, die sie »Red Herring Ride Club« nannten, weil Luten in ihren lebhaften Diskussionen stets »falsche Spuren« (red herrings) legte. Voge erinnerte sich darum so gut an die Diskussionen im Auto, »weil jeder wusste, dass am Rad Lab in Berkeley wichtige Dinge geschahen … Leute kamen und gingen, und es wurde viel geflüstert.« Auf einer dieser Fahrten hätten sie Eltenton über die neuesten Kriegsberichte ausgequetscht, und der habe gesagt: »Ich wünsche mir, dass die Russen den Krieg gewinnen und nicht die Nazis, und ich würde gern etwas tun, um ihnen zu helfen.« Und Eltenton habe, so Voge im Gespräch mit Sherwin, hinzugefügt: »Ich werde mit Chevalier und Oppenheimer reden und ihnen sagen, dass ich sehr glücklich wäre, wenn ich Informationen weitergeben könnte, die den Russen nützlich sind.« Einige Wochen später habe er dann erklärt: »Ich habe mit Chevalier gesprochen, und Chevalier mit Oppenheimer, und Oppenheimer sagte, er wolle damit nichts zu tun haben.«

Das, was Voge 1983 im Gespräch mit Sherwin berichtet hat, entspricht seinen Aussagen vor dem FBI Ende der 1940er Jahre. Wegen seiner Beziehung zu Eltenton hätte er nach dem Krieg um ein Haar die Arbeitsstelle verloren. Das FBI bot ihm die Unbedenklichkeitsbescheinigung an, wenn er im Gegenzug bereit sei, als Informant zu fungieren. Voge lehnte ab, ließ sich jedoch überreden, eine Aussage über Eltenton zu unterschreiben, in der es unter anderem hieß: »Ich halte George und Dolly Eltenton für verdächtige Individuen. Sie haben in der Sowjetunion gelebt und brachten ihre Sympathien für das Regime offen zum Ausdruck. George bemühte sich anscheinend um Unterstützung für die Russen im Krieg. … Uns [der Fahrgemeinschaft] ist es nie gelungen, George von den Übeln des Kommunismus zu überzeugen, aber er hat auch keinen von uns zu seinen Ansichten bekehren können.« 465 Als Eltentons Name 1954 im Zusammenhang mit Oppenheimers Anhörung auftauchte, sei er, so Voge, der Ansicht gewesen, dass die Regierung ein völlig falsches Bild von Eltenton hatte: »Wäre er wirklich ein echter Spion gewesen, hätte er nicht so offen geredet. Er hätte sich uns gegenüber ganz sicher verstellt.«