Wenn ich mit ihm zusammen war, wuchs meine Persönlichkeit. … Ich wurde zu einer Art Oppenheimer-Person und vergötterte ihn.
Robert Wilson
Für Oppenheimer begann ein neues Leben. Er leitete ein militärtechnisches Labor, das die Forschungsarbeiten aller im Land verstreuten Einrichtungen des Manhattan-Projekts zusammenführen und so Entwicklung und Konstruktion einer einsatzfähigen Atomwaffe ermöglichen sollte. Das verlangte Fähigkeiten von ihm, über die er bislang nicht verfügte; Probleme waren zu lösen, mit denen er bis dahin nie konfrontiert worden war; und er musste Arbeitsgewohnheiten entwickeln, die überhaupt nicht zu seinem bisherigen Lebensstil passten, musste sich an Einstellungen und Verhaltensweisen (wie etwa die Sicherheitsbelange) anpassen, die ihm fremd und seinem Wesen zuwider waren. So ist es nicht zu viel gesagt, dass der nun neununddreißigjährige Robert Oppenheimer, wollte er Erfolg haben, seine ganze Art zu denken, ja in gewisser Weise Teile seiner Persönlichkeit verändern musste. Seine neue Tätigkeit stand in jedem ihrer Aspekte unter starkem Zeitdruck. Alles, auch die eigene Verwandlung, musste auf schnellstem Weg geschehen; der irrwitzige Zeitplan war ohnehin kaum einzuhalten. Doch zuletzt hat er das Zeitziel fast erreicht: ein Zeichen dafür, mit welchem Maß an Engagement, mit welcher Willensstärke er zu Werke ging.
Oppenheimer hatte häufig davon geträumt, wie er seine Leidenschaft für die Physik mit der für das wüste Hochland New Mexicos verbinden könne. Jetzt erhielt er seine Chance. Am 16. November 1942 führte er General Groves nach Los Alamos. »Wenn man den Cañon hochfährt«, sagte er, »kommt man auf der Mesa heraus, und dort befindet sich eine Jungenschule, die ein brauchbarer Platz sein könnte.« Es war später Nachmittag, als sie bei der Los Alamos Ranch School ankamen. Auf dem über 300 Hektar großen Schulgelände befanden sich das »Big House«, das Hauptgebäude – Fuller Lodge –, ein schönes, 1928 aus 800 riesigen Ponderosastämmen erbautes Landhaus, dazu ein rustikaler Schlafsaal und einige andere kleinere Gebäude. Die Schule lag 2400 Meter über dem Meer, knapp oberhalb der Baumgrenze. Im Westen erhoben sich die schneebedeckten Jemez Mountains bis zu einer Höhe von 3700 Metern. Von der geräumigen Veranda von Fuller Lodge aus konnte man über 60 Kilometer weit nach Osten über das Tal des Rio Grande hinweg bis zu Oppenheimers geliebtem, 4300 Meter hohen Gebirgszug Sangre de Cristo blicken. Groves sah sich um und sagte nur: »Das ist genau richtig.« 466
Oppenheimer bekam, was er wollte – den grandiosen Blick auf die Berge von Sangre de Cristo –, und General Groves den Ort, der bis auf die sich dort hinaufschlängelnde Schotterstraße und eine Telefonleitung keine Verbindung zur übrigen Welt hatte. In zwei Tagen leitete die Army den Kauf des Geländes ein, dann kamen die Bulldozer, und nach drei Monaten standen die billigen Baracken mit Schindel- oder Blechdächern, alles armeegrün gestrichen. In ähnlichen Gebäuden entstanden einfach ausgestattete Chemie- und Physiklabors. 467
Damals schien Oppenheimer unempfindlich für die Verwandlung, die mit Los Alamos vor sich ging; erst Jahre später sagte er: »Ich bin verantwortlich dafür, dass so ein schöner Platz ruiniert wurde.« 468 Vorerst aber war er vollauf damit beschäftigt, die Wissenschaftler anzuwerben, die er für das Projekt brauchte, da blieb kaum Zeit, sich mit dem Bau der kleinen Stadt zu befassen. John Manley, ein Experimentalphysiker, den er als Assistenten gewann, fand Los Alamos weder verlockend noch geeignet. Er kam direkt aus Chicago, wo am 2. Dezember 1942 unter Leitung des aus Italien emigrierten Physikers Enrico Fermi die weltweit erste kontrollierte atomare Kettenreaktion gelungen war. Chicago war eine Großstadt mit einer hervorragenden Universität, erstklassigen Bibliotheken und unzähligen erfahrenen Maschinenschlossern, Glasbläsern, Ingenieuren und anderen Technikern; in Los Alamos gab es nichts und niemanden: »Mitten in der Wildnis New Mexicos ein neues Labor« – wäre Oppenheimer Experimentalphysiker gewesen, dann, so Manley, hätte er bedacht, »dass Experimentalphysik zu 90 Prozent Klempnerei ist«, und wäre nie auf die Idee gekommen, ausgerechnet dort ein Labor aufzubauen. 469 Auch die Versorgung der neuen Einrichtung brachte immense logistische Probleme. Oppenheimer wollte mit der ersten Gruppe von Wissenschaftlern Mitte März 1943 in Los Alamos eintreffen. Bis dahin, so hatte er Hans Bethe versichert, sei dort unter der Leitung eines Ingenieurs eine lebensfähige kleine Stadt entstanden. 470
Der Bau von Los Alamos, das Anwerben von Wissenschaftlern, das Herbeischaffen und Aufstellen der technischen Apparaturen für das weltweit erste Atomwaffenlabor – darunter das Zyklotron aus Harvard, zwei Van-de-Graf-Generatoren zur Erzeugung der hohen Gleichspannung aus Michigan und die Cockroft-Walton-Maschine aus Illinois, der erste Teilchenbeschleuniger zur Erzeugung von künstlichen Elementen – all das hätte einen peinlich genauen, geduldigen Leiter erfordert. Und der war Oppenheimer Anfang 1943 ganz und gar nicht. Für fünfzehn Studenten war er 1938 verantwortlich gewesen, größere Gruppen als seine Doktorandenseminare hatte er nie geführt. Jetzt sollte er die Arbeit von einigen Hundert, bald weit über tausend Wissenschaftlern und Technikern leiten. Seine Kollegen glaubten nicht, dass ein Mann mit seinem Temperament für diese Aufgabe geeignet sei. »Er war, als ich ihn vor 1940 kennenlernte, ein Exzentriker«, so Robert Wilson, ein junger Experimentalphysiker, der bislang bei Ernest Lawrence studiert hatte, »ein fast ein professioneller Exzentriker, ganz sicher kein Verwaltungsmensch.« 471 Manley wiederum erinnerte sich: »Ich hatte etwas Angst vor seiner Bildung und vor seinem Mangel an Interesse für ganz irdische Dinge.« Vor allem die Organisation des Labors habe ihm Kopfzerbrechen bereitet: »Ich habe Oppie monatelang in den Ohren gelegen, dass wir einen Organisationsplan brauchten – wer für dieses und wer für jenes zuständig war.« Oppenheimer kam nicht darauf zurück, bis Manley schließlich im März 1943 ins oberste Stockwerk von LeConte Hall stürmte und die Tür zu Oppenheimers Büro aufstieß. Der wusste sofort, was Manley wollte, nahm ein Blatt Papier und warf es auf den Schreibtisch: »Hier, dein verdammter Organisationsplan.« Oppenheimer stellte sich vier große Laborabteilungen vor: Experimentalphysik, theoretische Physik, Chemie und Metallurgie, schließlich Militärtechnik. Jede Abteilung sollte Gruppenführer haben, die den Abteilungsleitern unterstanden, die Abteilungsleiter sollten Oppenheimer verantwortlich sein. Der Anfang war gemacht. 472
Im Frühjahr 1943 schickte Oppenheimer den achtundzwanzigjährigen Robert Wilson nach Harvard, um für den sicheren Transport des Zyklotrons nach Los Alamos zu sorgen. Am 4. März kam Wilson nach Los Alamos, um das Gebäude zu inspizieren, in dem das Zyklotron untergebracht werden sollte. Überall Chaos: kein Zeitplan, keine klaren Verantwortlichkeiten. Wilson beklagte sich bei Manley, und die beiden beschlossen, mit Oppenheimer zu reden. Ihr Treffen in Berkeley war verheerend: Oppenheimer wurde zornig, beschimpfte sie. Wilson und Manley fielen aus allen Wolken und fragten sich, ob Oppenheimer der Aufgabe gewachsen sei. 473 Wilson entstammte einer Quäkerfamilie und war Pazifist, als der Krieg in Europa ausbrach. »Es war also eine große Veränderung für mich, dass ich nun bei diesem furchtbaren Projekt mitarbeiten sollte.« Anfangs habe ihn Oppenheimers arrogantes Verhalten geärgert: »Ich mochte ihn nicht. Er war ein Besserwisser und konnte Dummköpfe nicht ausstehen. Vielleicht war ich auch so ein Dummkopf, den er nicht ausstehen konnte.«
Schließlich aber, kaum in Los Alamos angekommen, und obwohl es in Berkeley noch so aussah, als werde er seiner Verantwortung überhaupt nicht gerecht, zeigte Oppenheimer, wie rasch er sich zu ändern verstand. Nicht schlecht gestaunt habe er, so Wilson, als er beobachtete, wie sich sein Chef zu einem charismatischen und effizienten Projektleiter wandelte. Aus dem exzentrischen theoretischen Physiker, einem langhaarigen linken Intellektuellen, wurde nun ein erstklassiger, hochorganisierter Führer und Manager: »Er hatte Stil und Klasse. Er war ein sehr kluger Mann. Was immer wir zunächst an ihm auszusetzen hatten, in ein paar Monaten hatte er das wettgemacht und begriff offenbar viele Verwaltungssachen besser als wir. … Wenn ich mit ihm zusammen war, wuchs meine Persönlichkeit. … Ich wurde zu einer Art Oppenheimer-Person und vergötterte ihn. … Ich hatte mich total verändert.« So der Stand im Sommer 1943. 474
Und doch war Oppenheimer in diesem frühen Planungsstadium oft unglaublich naiv. Auf dem Organisationsplan, den er Manley gegeben hatte, erschien er als Direktor des Labors und zugleich als Leiter der theoretischen Abteilung. Seinen Kollegen, zuletzt auch ihm selbst, wurde bald klar, dass er für beide Funktionen die Zeit nicht hatte, und so ernannte er Hans Bethe zum Leiter der theoretischen Abteilung. 475 General Groves hatte er wissen lassen, er brauche nur eine Handvoll Wissenschaftler. Damit hatte er den Umfang ihrer Aufgabe gewaltig unterschätzt. Das Gleiche bei den Baukosten: Zunächst mit 300000 Dollar veranschlagt, waren bereits nach einem Jahr 7,5 Millionen Dollar investiert worden. Im März 1943, als die Arbeit in Los Alamos aufgenommen wurde, bestand das Team aus etwa hundert Wissenschaftlern, Ingenieuren und Hilfspersonal, innerhalb von sechs Monaten lebten tausend und nach einem weiteren Jahr 3500 Menschen oben auf der Mesa; und im Sommer 1945 war aus Oppenheimers Außenposten in der Wildnis eine kleine Stadt von mindestens 4000 Zivilisten und 2000 Uniformierten geworden. Diese Menschen wohnten in 300 Wohnhäusern, 52 Wohnheimen und 200 Wohnwagen. Allein das »technische Gelände« umfasste 37 Gebäude, darunter eine Plutoniumreinigungsanlage, eine Gießerei, eine Bibliothek, ein Hörsaal und eine Reihe von Labors, Lagern und Büros. 476
Zum Entsetzen fast aller Kollegen hatte Oppenheimer General Groves’ Vorschlag zunächst zugestimmt, dass alle im neuen Labor beschäftigten Wissenschaftler Offiziere der Army werden sollten. Er selbst begab sich Mitte Januar 1943 zum Army-Stützpunkt Presidio in San Francisco, um seine Bestallung zum Oberstleutnant zu regeln. Er wurde gemustert – und fiel durch. Mit seinen 57 Kilogramm Körpergewicht lag er fünf Kilo unter dem Mindestgewicht und zwölf Kilo unter dem Idealgewicht eines Mannes seines Alters und seiner Größe. Die Armeeärzte notierten den »chronischen Husten«, an dem er seit 1927, als man bei ihm Tuberkulose diagnostiziert hatte, litt. Auch von Rückenschmerzen berichtete er den Ärzten: Immer wieder, im Abstand von etwa zehn Tagen, spüre er leichte Schmerzen im linken Bein. »Für den aktiven Dienst untauglich« war das Gesamturteil der Sanitätsoffiziere. Da Groves die Ärzte aber vorab hatte wissen lassen, dass Oppenheimer diensttauglich erklärt werden müsse, musste er eine Erklärung unterschreiben, dass er in Kenntnis der »oben genannten körperlichen Gebrechen« darum bitte, in den aktiven Dienst aufgenommen zu werden. 477
Nach der Musterung ließ sich Oppenheimer eine Offiziersuniform schneidern. Dass ihm so daran lag, mochte verschiedene Gründe haben. Vermutlich betrachtete er, der Probleme mit seiner jüdischen Herkunft hatte, die Uniform als sichtbares Zeichen der Anerkennung. Zugleich demonstrierte, wer 1942/43 eine Uniform trug, seine patriotische Einstellung. Manchmal, so Wilson, »blickte Oppie wie abwesend in die Ferne und sagte zu mir, dieser Krieg sei anders als alle vorherigen Kriege, denn es sei ein Krieg, in dem es um die Grundlagen der Freiheit ginge … sprach von einer Volksarmee und einem Volkskrieg … Seine Sprache hatte sich wenig geändert. Sie blieb die gleiche, nur dass sie jetzt eine patriotische Färbung bekam, während sie vorher einfach nur radikal war.« 478
Bei seinen Anwerbungsgesprächen musste Oppenheimer rasch feststellen, dass Kollegen rundheraus erklärten, sie seien nicht bereit, unter Bedingungen militärischer Disziplin arbeiten. Im Februar 1943 machten ihm Isidor Rabi und andere Physiker klar, dass das Labor »entmilitarisiert« werden müsse. Rabi war einer der wenigen Freunde Oppies, die ihm sagen konnten, dass er einen Fehler gemacht hatte. 479
Groß war Oppenheimers Enttäuschung, als es ihm nicht gelang, Isidor Rabi zu überreden, nach Los Alamos zu kommen. So gerne hätte er ihn dabeigehabt, dass er ihm eine zweite Direktorenstelle im Labor anbot. Doch aus grundsätzlichen Zweifeln an der Idee, eine Bombe zu bauen, lehnte Rabi ab: »Ich war entschieden gegen das Bombardieren, seit ich 1931 Fotos von den japanischen Luftangriffen auf einen Vorort von Schanghai gesehen hatte. Du wirfst eine Bombe ab, und sie trifft die Gerechten und die Ungerechten. Es gibt kein Entrinnen. Weder der Kluge noch der Ehrliche entgeht ihr. … Während des Krieges gegen Deutschland wirkten wir [im Radiation Lab] an der Entwicklung von Bomben herkömmlichen Typs mit … aber das war ein wirklicher Feind und eine ernste Sache. Die Atombombe jedoch geht einen prinzipiellen Schritt weiter, ich mochte sie nicht und mag sie auch heute nicht. Sie ist schrecklich.« Nach Rabis Vorstellungen war der Krieg mit einer viel weniger bizarren Technik zu gewinnen – mit Radar. »Ich dachte lange darüber nach und lehnte ab. Ich habe ihm gesagt: Mir ist es sehr ernst mit diesem Krieg. Ohne ein effizientes Radar könnten wir ihn verlieren.« 480 Auch Grundsätzliches machte Rabi geltend: Er wolle nicht, erklärte er Oppenheimer, dass eine Massenvernichtungswaffe zum »Gipfel von drei Jahrhunderten Physik« werde. Dass dieses Argument bei einem Mann mit Oppenheimers philosophischen Neigungen auf fruchtbaren Boden fiel, konnte Rabi annehmen. Doch Rabi mochte an die moralischen Folgen einer Atombombe denken, Oppenheimer hatte, mitten im Krieg, keine Geduld für metaphysische Überlegungen. Er wischte den Einwand des Freundes beiseite: »Wenn ich wie Du glaubte, dieses Projekt sei ›der Gipfel von dreihundert Jahren Physik‹«, schrieb er Rabi, »dann würde ich mich anders entscheiden. Mir aber geht es in Zeiten des Krieges in erster Linie um die rechtzeitige Entwicklung einer Waffe von einigem Gewicht. Ich denke nicht, dass uns die Nazis die Option lassen, diese Entwicklung nicht zum Abschluss zu bringen.« Nur eines zählte für ihn: Er wollte die Waffe bauen, bevor es die Nationalsozialisten taten. 481
Auch wenn Rabi sich weigerte, ganz nach Los Alamos zu kommen, erreichte Oppenheimer immerhin, dass er am ersten Kolloquium teilnahm und danach als einer der wenigen Berater des Projekts fungierte, die von außen kamen. Rabi wurde, in Hans Bethes Worten, »der väterliche Berater Oppies«. Er selbst sagte dazu: »Ich stand nie auf der Gehaltsliste von Los Alamos. Ich war nur Oppenheimers Berater.« 482 Zudem war er wesentlich daran beteiligt, Hans Bethe und viele andere zu überzeugen, nach Los Alamos zu gehen. Und er hatte Oppenheimer zugeredet, Bethe zum Chef der theoretischen Abteilung zu machen, die er das »Nervenzentrum des Projekts« nannte. 483
Als er von Rabi hörte, wie sich die Stimmung unter den Physikern in Princeton verdüstere, entschloss sich Oppenheimer, das ganze, zwanzig Wissenschaftler umfassende Team von Princeton nach Los Alamos zu verfrachten – eine besonders glückliche Entscheidung, denn zu diesen Leuten gehörte nicht nur Robert Wilson, sondern auch der brillante und schalkhafte, damals vierundzwanzigjährige Physiker Richard Feynman. Oppenheimer hatte das Genie in Feynman sofort erkannt und wollte ihn in Los Alamos haben. Doch dessen Frau Arline kämpfte mit einer Tuberkulose, weshalb Feynman sie nicht alleinlassen wollte. Er dachte, die Sache sei damit erledigt, doch eines Tages im Winter 1943 erreichte ihn ein Anruf aus Chicago. Es war Oppenheimer mit der Nachricht, er habe für Arline ein Tuberkulosesanatorium in Albuquerque ausfindig gemacht. So könne er in Los Alamos arbeiten und seine Frau an den Wochenenden besuchen. Feynman war gerührt und überredet. 484
Am 16. März 1943 bestiegen Robert und Kitty Oppenheimer den Zug nach Santa Fe, einer verschlafenen Stadt von 20000 Einwohnern. Sie stiegen im La Fonda ab, dem besten Hotel am Platz, und Oppenheimer kümmerte sich einige Tage lang darum, jemanden zu finden, der in Santa Fe ein Verbindungsbüro für das Labor leiten konnte. Eines Tages stand Dorothy Scarritt McKibbin, eine Doktorandin des Smith College, inzwischen fünfundvierzig Jahre alt, im Foyer des La Fonda, um Näheres über die ausgeschriebenen Stellen zu erfahren: »Ich sah einen Mann in Trenchcoat und Schlapphut kommen, der auf den Fußballen ging.« Oppenheimer habe sich als »Mr. Bradley« vorgestellt und nach ihren früheren Stellen gefragt. Sie war seit zwölf Jahren verwitwet und zunächst nach New Mexico gekommen, um eine milde Tuberkulose auszukurieren, hatte sich dann aber, wie der junge Oppenheimer, in die grandiose Schönheit der Landschaft verliebt. Um 1943 kannte McKibbin alle, die Rang und Namen hatten in Santa Fe, und als er sah, dass sie Santa Fe und seine Umgebung besser kannte als er, machte er sie zur Leiterin eines diskreten Büros in der Innenstadt. 485
McKibbin war auf der Stelle überwältigt von Oppenheimers natürlicher, liebenswürdiger Art. »Wenn er etwas anpackt, dachte ich mir, würde das nicht langweilig, und sagte zu. Mit jemandem wie ihm, wer immer er sein mochte, zusammenzuarbeiten musste einfach großartig sein! … Dabei wusste ich gar nicht, was genau er tat. Aber selbst wenn er Gräben ausheben würde für eine neue Straße, hätte ich gerne mitgetan. … Ich wollte einfach dabei sein, mit jemandem arbeiten, der eine solche Vitalität und Ausstrahlung hatte.« McKibbin wurde bald zum »Gatekeeper to Los Alamos«. Sie bekam ein Büro ohne Firmenschild, begrüßte die vielen Hundert Wissenschaftler und deren Familien, die nach »The Hill« hinauf sollten. An manchen Tagen führte sie hundert Telefongespräche und stellte Dutzende von Passierscheinen aus. Mit der Zeit lernte sie jeden und alles in der kleinen Stadt dort oben kennen, ein Jahr allerdings brauchte sie, bis sie dahinterkam, dass dort eine Atombombe gebaut wurde. McKibbin und Oppenheimer wurden lebenslange Freunde.
Oppenheimer, nun neununddreißig, schien seit zwanzig Jahren nicht gealtert zu sein. Noch immer war sein Haar schwarz und dicht, noch immer stand es fast senkrecht empor. »Er hatte die blauesten Augen, die ich jemals gesehen hatte«, so McKibbin, »wie das blasse Eisblau der Enziane, die an den Hängen des Sangre de Cristo wachsen.« Sein Blick habe etwas Magisches gehabt, diese großen, runden, von schweren Wimpern und dicken schwarzen Brauen beschützten Augen. »Er schaute die Menschen stets an, mit denen er sprach, und gab ihnen alles, was er zu geben hatte.« Mit sanfter Stimme habe er gesprochen und über praktisch alles mit großer Kenntnis, und habe dabei doch sehr jungenhaft wirken können: »Wenn er von etwas beeindruckt war, sagte er: ›Gee‹, und es war einfach schön, das zu hören.«
Ende des Monats fuhren die Oppenheimers – Robert, Kitty und Peter – hinauf zum »Hill« und bezogen ihre neue Wohnung, ein rustikales einstöckiges Haus aus Holz und Naturstein, das 1929 für die Künstlerin Mary Connell errichtet worden war, die Schwester des Schulleiters, die als Hausmutter für die Internatszöglinge fungierte. »Master’s Cottage #2« stand am Ende der »Bathtub Row«, die gar nicht anders heißen konnte, denn nur in diesem und fünf weiteren Holzhäusern aus der Zeit der Ranch School gab es Badewannen. Es war eine stille Straße, ungepflastert wie alle im neuen Städtchen, das Haus der Oppenheimers lag ein wenig abgeschirmt hinter Büschen in einem kleinen Garten. Mit zwei kleinen Schlafzimmern und einem Arbeitszimmer war es, im Vergleich zu Eagle Hill, bescheiden. Weil die Lehrer alle ihre Mahlzeiten in der Schulcafeteria eingenommen hatten, besaß das Haus keine Küche, ein Mangel, der auf Kittys Betreiben schleunigst behoben wurde. Das Wohnzimmer war ausgesprochen hübsch, mit einer hohen Decke, einem aus Stein errichteten Kamin und einem riesigen Fenster, durch das man in den Garten sah. Dort lebten die Oppenheimers bis Ende 1945.
Die aus dem Boden gestampfte Siedlung war hässlich, nur die atemberaubende Landschaft ringsum konnte dafür ein wenig entschädigen. »Wir konnten über das mit Stacheldraht umzäunte Städtchen hinausschauen«, so Bernice, die Frau des Physikers Robert Brode, »sahen die Jahreszeiten kommen und gehen, die Espen, die sich im Herbst golden vom dunklen Immergrün abhoben, die Schneestürme im Winter, die den Schnee hoch auftürmten, das blasse Grün der Knospen im Frühling und den trockenen Wüstenwind, der im Sommer durch die Kiefern pfiff. Es war sicher ein Geniestreich, unsere merkwürdige Stadt oben auf einer Mesa zu bauen, manche Leute allerdings sagten auch, Los Alamos sei eine Stadt, die es nie hätte geben dürfen.« Alle mussten ihre Lebensgewohnheiten ändern. In Berkeley hatte sich Oppenheimer stets geweigert, vor 11 Uhr vormittags eine Vorlesung zu halten: Er wollte von seiner Gewohnheit, bis spät in die Nacht mit Freunden zusammenzusitzen, einfach nicht lassen. In Los Alamos war er jeden Morgen um halb acht unterwegs zum technischen Gelände. Dieses, knapp »T« genannt, war von einem doppelten, über drei Meter hohen und mit Stacheldraht bewehrten Maschenzaun umgeben. Die Militärpolizei am Eingangstor prüfte die verschiedenfarbigen Kontrollmarken, die alle tragen mussten. Die Marke der Physiker und anderer Wissenschaftler war weiß: Nur sie berechtigte dazu, sich frei im »T« zu bewegen. 486
Wie alle anderen arbeitete auch Oppenheimer sechs Tage die Woche. Er trug stets legere Kleidung, seine New-Mexico-Garderobe: Jeans oder kurze Khakihosen, ein blaues Leinenhemd ohne Krawatte. Seine Kollegen machten es ihm bald nach. »Ich kann mich nicht erinnern, während der Arbeitszeit je ein Paar geputzte Schuhe gesehen zu haben«, so Bernice Brode. Machte sich Oppenheimer auf den Weg hinüber zum »T«, schlossen sich oft Kollegen an und hörten seinen gemurmelten Morgengedanken zu. »Da geht die Henne mit ihren Küken«, spöttelte man in Los Alamos. Eine damals dreiundzwanzigjährige Armeehelferin, die in der Telefonzentrale arbeitete, erinnerte sich: »Sein Schlapphut, seine Pfeife und etwas um seine Augen gaben ihm eine gewisse Aura. Er musste sich nie aufspielen oder herumschreien.« 487
Das bewusst zwanglose Auftreten des Projektleiters machte ihn manchen sympathisch, die sich ansonsten in seiner Gegenwart eingeschüchtert fühlten. Ed Doty, ein junger Techniker vom Army Special Engineer Detachment (SED), schrieb seinen Eltern nach dem Krieg: »Dr. Oppenheimer [hat] mehrmals wegen verschiedener Dinge angerufen … und jedes Mal, wenn ich den Hörer abnahm und ›Doty‹ sagte, kam vom anderen Ende: ›Hier ist Oppie‹.« Sein formloses Auftreten habe in scharfem Kontrast gestanden zu dem von General Groves, der »Aufmerksamkeit verlangte, Respekt verlangte«. 488
Die Arbeitszeiten waren lang, das Labor blieb Tag und Nacht geöffnet, und Oppenheimer forderte seine Mitarbeiter auf, ihre Arbeitsstunden selbst festzusetzen. Er ließ keine Stechuhren anbringen, und eine Sirene wurde erst Oktober 1944 eingeführt, als einer von General Groves’ Effizienzexperten den laxen Umgang mit den regulären Arbeitszeiten bemängelte. Weniger die Arbeit selbst, der Termindruck war anstrengend, so Hans Bethe: »Ich hatte das Gefühl, und das tauchte auch in meinen Träumen auf, als befände ich mich hinter einem furchtbar schweren Wagen, den ich einen Berg hinaufschieben musste.« Die Wissenschaftler, die gewohnt waren, mit begrenzten Mitteln und praktisch ohne Termine zu arbeiten, mussten nun lernen, mit unbegrenzten Mitteln und strengen Terminvorgaben zurechtzukommen. 489
Bethe arbeitete in Oppenheimers Hauptquartier, im T-Building (»T« für »theoretical«), einem tristen, grüngestrichenen zweistöckigen Bau, der schnell zum geistigen Zentrum von The Hill wurde. Neben ihm saß Dick Feynman, der ebenso gesellig war wie Bethe ernsthaft. »Für mich«, so sagte dieser, »war Feynman das Wunder von Princeton. Ich hatte früher nicht von ihm gehört, doch Oppenheimer kannte ihn. Er war von Anfang an äußerst lebhaft, aber erst nach zwei Monaten begann er mich anzufluchen.« 490 Der siebenunddreißigjährige Bethe hatte gern jemanden um sich, mit dem er sich streiten konnte, und auch Feynman, damals fünfundzwanzig, war Disputen nicht abgeneigt. Kaum waren die beiden zusammen, hörte man im ganzen Gebäude Feynmans Geschrei: »Nein, nein, du bist verrückt!«, oder: »Purer Unsinn!« Dann Bethes ruhige Stimme, der Kontrapunkt. Für ein paar Minuten war Feynman nicht zu hören, explodierte dann aufs Neue: »Das ist unmöglich, du bist verrückt!« Bald hatten sie Spitznamen weg: Feynman war »Moskito« und Bethe »Das Schlachtschiff«. 491
»Der Oppenheimer von Los Alamos war ein ganz anderer als der, den ich kannte. Erstens war der Vorkriegs-Oppenheimer etwas zögerlich und misstrauisch, der von Los Alamos dagegen ein entschlossener Macher.« In seinen Gesprächen mit Jon Else fiel es Hans Bethe schwer, diese Veränderung zu erklären. Der Mann der »reinen Wissenschaft«, den er aus Berkeley kannte, habe Sinn gehabt allein für die »tiefen Geheimnisse der Natur«; für so etwas wie einen Industriebetrieb dagegen nicht das leiseste Interesse – und in Los Alamos hatte er einen solchen zu leiten. »Es war ein anderes Problem, eine andere Einstellung, und er änderte sich völlig, um der neuen Rolle gerecht zu werden.«
Er gab selten Befehle, sondern verstand es, wie der Physiker Eugene Wigner berichtet, seine Wünsche »mit großer Leichtigkeit und Natürlichkeit, nur mit seinen Augen, seinen beiden Händen und einer halb brennenden Pfeife« mitzuteilen. 492 Auch Bethe sprach davon, dass Oppie »nie diktierte, was zu tun war. Er holte das Beste aus uns allen heraus, wie ein guter Gastgeber aus seinen Gästen.« Robert Wilson erzählte: »In seiner Gegenwart wurde ich intelligenter, gesprächiger, intensiver, weitblickender und poetischer. Ich lese normalerweise langsam, aber wenn er mit einem Brief kam, warf ich einen Blick darauf, reichte ihn zurück und war sofort in der Lage, genauestens über den Inhalt zu reden.« Allerdings stecke in solchen Rückblicken eine Menge »Selbsttäuschung«: »Sobald ich nicht mehr bei ihm war, war es schwer, die gescheiten Dinge, die gesagt wurden, zu rekonstruieren oder zu erinnern. Aber das machte nichts, die Richtung war klar. Ich würde schon herausfinden, was zu tun war.« 493
Oppenheimer hatte es auch früher schon verstanden, die Fragen zu antizipieren, die als Nächste zu stellen waren, um ein theoretisches Problem zu lösen. Jetzt überraschte er seine Kollegen damit, dass er sogar bautechnische Fragen auf Anhieb erfasste. »Ich habe oft gesehen, wie er ein Papier las«, so Lee DuBridge, »es war vielleicht fünfzehn, zwanzig Seiten dick, und er sagte: Schauen wir’s uns an, dann reden wir darüber. In fünf Minuten hatte er so ein Papier durchgelesen und nannte dann exakt die entscheidenden Punkte.« Und wenn keine Einigkeit herrschte, wusste er instinktiv, welche Einwände kommen würden. David Hawkins, Philosophiestudent aus Berkeley und nun Oppenheimers persönlicher Assistent, hat seinen Chef häufig so in Aktion erlebt: »Wenn sich eine Kontroverse entwickelte, hörte man geduldig zu, dann fasste Oppenheimer zusammen, und alle Meinungsverschiedenheiten waren ausgeräumt. Es war eine Art Zaubertrick, alle bewunderten ihn dafür, auch hervorragende Wissenschaftler …« 494 Sein Charme, den er bei Bedarf einsetzen (und wieder ausschalten) konnte, half ihm sehr. Wer ihn in Berkeley erlebt hatte, kannte seine bemerkenswerte Fähigkeit, andere in seinen Bann zu ziehen. Dazu John Manley: »Er hatte keine Schwierigkeiten, Leute zu benutzen. Wenn er fand, dass ihm jemand nützlich sein konnte, war es für ihn völlig natürlich, diesen auszunützen.« 495 Ebenso gut konnte er aber auch zuhören und übernahm häufig die Vorschläge anderer. Hans Bethe etwa überlegte, dass alle davon profitieren würden, wenn man am Wochenende ein zeitlich unbefristetes Kolloquium abhielte, und Oppenheimer stimmte sofort zu. Als Groves davon erfuhr, wollte er, um die Arbeitsteilung und damit die Geheimhaltung zu sichern, diese Veranstaltung unterbinden, doch Oppenheimer bestand darauf: Er hielt den freien Gedankenaustausch unter den Wissenschaftlern mit der »weißen Dienstmarke« für unabdingbar.
Das erste Kolloquium wurde für den 15. April 1943 in der nun leeren Schulbibliothek anberaumt. Nach der Begrüßung stellte Oppenheimer den rund vierzig versammelten Wissenschaftlern Bob Serber vor: Er werde sie über die anstehende Aufgabe informieren. Serber hatte sich Notizen gemacht, und wie gewöhnlich stotterte er leicht. »Stets auf Sicherheit zu achten war fürchterlich«, so Serber später. »Wir konnten die Zimmerleute über uns hören, und plötzlich sah man ein Bein durch die Hartfaserplatten der Decke stoßen, das vermutlich einem Elektriker gehörte, der dort oben arbeitete.« Nur Minuten später habe Oppenheimer John Manley zu ihm nach vorn geschickt, der ihm ins Ohr flüsterte, nicht das Wort »Bombe«, sondern ein neutraleres zu gebrauchen, zum Beispiel »Gadget 496 «. 497
Serber erläuterte das Ziel des Projekts: »eine praktikable Waffe in Form einer Bombe, deren Energie durch eine Kettenreaktion schneller Neutronen in einem oder mehreren Stoffen freigesetzt wird, deren Atomkerne spaltbar sind«. Zusammenfassend stellte er vor, was Oppenheimers Team während der Sommersitzungen in Berkeley herausgefunden hatte: Nach den damaligen Berechnungen könne eine Atombombe die gleiche Explosion wie rund 20000 Kilogramm TNT auslösen. Für ein solches »Gadget« benötige man hochangereichertes Uran. Ein Kern aus Uran, etwa von der Größe einer Melone, habe ein Gewicht von etwa sechzehn Kilo. Auch aus dem noch schwereren Element Plutonium ließe sich eine Waffe bauen – dieses Element gewinne man durch Beschuss von U-238 mit Deuteronen. Eine Plutoniumbombe benötige eine viel geringere kritische Masse, der Bombenkern aus Plutonium müsse nur etwas über fünf Kilo wiegen und wäre nicht größer als eine Orange. In jedem Fall müsse der Bombenkern mit einem dicken Mantel aus gewöhnlichem Uran umgeben werden, eine Kugel etwa so groß wie ein Basketball. In beiden Bauweisen werde das »Gadget« nicht mehr als eine Tonne wiegen und könne von herkömmlichen Flugzeugen abgeworfen werden. 498
Theoretisch kannten die meisten der anwesenden Wissenschaftler die Möglichkeiten bereits, die in der neuen Physik steckten, aufgrund der Arbeitsteilung aber tappten sie, was die Details anging, im Dunkeln. Nur wenige wussten, wie viele der grundsätzlichen Fragen bereits zumindest in Umrissen beantwortet waren. 499 Serber führte ihnen vor, dass die Probleme, die bis zur Herstellung einer einsatzfähigen Waffe zu lösen blieben, groß, aber zu überwinden waren. Auch manche physikalischen Aspekte der Konstruktion einer Atombombe seien noch ungeklärt, die eigentlichen Unwägbarkeiten jedoch lägen auf technischem und militärtechnischem Gebiet. Die Herstellung von ausreichenden Mengen von Uran-235 oder Plutonium (U-239) erfordere enorm leistungsfähige Industrieanlagen. Und selbst wenn man genug bombentaugliches Material erzeugen könnte, bliebe die Frage ungelöst, wie eine Atombombe konstruiert sein müsse, damit sie auch wirkungsvoll detonieren würde. (Selbst der anfangs skeptische Bethe war, wie er später sagte, zuversichtlich: »Hatte man erst einmal das Plutonium, dann konnte man auch eine Atombombe bauen.« 500 )
Das eigentlich Neue für Serbers Zuhörer lag weniger im wissenschaftlich-technischen Bereich als vielmehr in der Tatsache, dass er ihnen die Mission vermittelte, die sie hatten, nämlich einen enormen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen zu leisten. Diese Überzeugung hob die Moral in Los Alamos. Und mit seinem Vortrag erreichte Serber, was Oppenheimer wollte: Die Wissenschaftler sollten das Bewusstsein ihrer Mission entwickeln und erkennen, dass sie auch die Mittel hatten, um den Lauf der Geschichte zu ändern. Doch war es möglich, die technischen Probleme vor den Deutschen lösen? Konnten sie wirklich dazu beitragen, den Krieg zu gewinnen? In den folgenden zwei Wochen hielt Serber vier weitere lange Vorträge, um den schöpferischen Dialog zu stimulieren, auf den es Oppenheimer ankam. Unter anderem stellte Serber die mechanischen Vorgänge dessen dar, was er »Schießen« nannte – es ging darum, die kritische Masse des Urans oder Plutoniums so zusammenzubringen, dass eine Kettenreaktion ausgelöst wurde. Die damals naheliegende Implosionsmethode stellte Serber vor: Das kritische Stadium und damit die Explosion ließen sich erreichen, indem eine gewisse Menge Uran in eine andere Masse von U-235 geschossen wird. Anhand einer Zeichnung diskutierte er die Frage, ob nicht »die Stücke auf einen Ring montiert werden sollten … Wenn explosives Material auf dem Ring verteilt und gezündet wird, werden die Stücke nach innen gesprengt und eine Kugel bilden.« Dies machte den Physiker Seth Neddermeyer hellhörig. Er schlug Oppenheimer vor, dieser Idee genauer nachzugehen. Mit einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern experimentierte er in einem Cañon nahe Los Alamos mit implosiven Sprengstoffen. Ed Condon fasste Serbers Vorträge zu einer vierundzwanzigseitigen Broschüre zusammen: The Los Alamos Primer wurde zu einer Art Handbuch für jeden neu eintreffenden Wissenschaftler.
Eines Tages unterbreitete Enrico Fermi seinem Chef unter vier Augen einen anderen Vorschlag, wie man Deutsche in großer Zahl töten könne: nämlich mit radioaktiven Spaltprodukten, mit denen man Lebensmittel vergiften könne. Oppenheimer hat den Vorschlag wohl ernst genommen. Er bat Fermi, die Sache für sich zu behalten, sprach dann mit General Groves, später auch mit Edward Teller darüber. Dieser soll ihm erläutert haben, man könne Strontium-90 aus einer im Reaktor gestarteten Kettenreaktion separieren. Doch im Mai 1943 entschloss sich Oppenheimer, den Vorschlag erst einmal hintanzustellen – mit einer haarsträubenden Begründung. »Ich denke«, schrieb er Fermi, »dass wir einen solchen Plan nur verfolgen sollten, wenn wir genug Lebensmittel vergiften könnten, um eine halbe Million Menschen zu töten, denn es besteht kein Zweifel, dass diese Zahl wegen der ungleichmäßigen Verteilung viel geringer wäre.« Man ließ diese Idee fallen, doch nur deshalb, weil sie ungeeignet war, die feindliche Bevölkerung in großer Zahl zu vergiften! 501
Der Krieg brachte viele kultivierte Menschen dazu, über Dinge nachzudenken, die zuvor unvorstellbar erschienen. Ende Oktober 1942 erhielt Oppenheimer einen Brief mit dem Vermerk »geheim«. Sein Freund und Kollege Victor Weisskopf berichtete von alarmierenden Nachrichten, die er gerade von Wolfgang Pauli, damals Physiker in Princeton, erhalten habe: Werner Heisenberg, ihr früherer Kollege und Nobelpreisträger, sei gerade zum Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts, einer Einrichtung zur Erforschung der Kernenergie in Berlin, ernannt worden. Zudem werde er, wie zu erfahren war, einen Vortrag in der Schweiz halten. In dieser Hinsicht sei er mit Bethe einer Meinung: Man müsse sofort etwas unternehmen. Das »in dieser Situation« Beste sei, »Heisenberg in der Schweiz zu entführen. Genau das würden die Deutschen tun, wenn Du oder Bethe in der Schweiz auftauchten.« Weisskopf bot sich sogar selbst für diese Aufgabe an.
Oppenheimer dankte Weisskopf umgehend für seinen »interessanten« Brief. Auch er habe von Heisenbergs Besuch in der Schweiz gehört und mit »zuständigen Stellen« in Washington gesprochen. Groves hat den Plan, Heisenberg zu entführen oder zu töten, später ernsthaft verfolgt. 1944 schickte er Moe Berg, einen Agenten des US-Geheimdienstes OSS, in die Schweiz. Im Dezember 1944 machte sich der ehemalige Baseballspieler an den deutschen Physiker heran, zu einem Mordversuch hat er sich jedoch nicht entschlossen. 502