Diese Politik bringt Dich in eine Lage, in der Du eine äußerst schwierige Arbeit mit drei auf dem Rücken zusammengebundenen Händen tun musst.
Dr. Edward Condon an Oppenheimer
In seine erste Krise als Projektleiter geriet Oppenheimer noch im Frühjahr 1943. Mit General Groves’ Zustimmung hatte er seinen ehemaligen Göttinger Studienkollegen Edward U. Condon zum »Associate Director« ernannt. Dieser sollte ihn bei der Verwaltungsarbeit entlasten und als Verbindungsmann zum militärischen Befehlshaber von Los Alamos fungieren. Condon, zwei Jahre älter als Oppenheimer, war sowohl ein hervorragender Physiker als auch ein erfahrener Labororganisator. Nachdem er 1926 in Berkeley promoviert hatte, setzte er seine Studien in Göttingen und München fort, lehrte an mehreren Universitäten und schrieb das erste Lehrbuch der Quantenmechanik. 1937 wurde er Associate Director der Forschungsabteilung von Westinghouse Electric. Condon war also, zumindest was seine Erfahrungen anbetraf, für die Leitung der Labors in Los Alamos weitaus qualifizierter als Oppenheimer. Und im Unterschied zu diesem war Condon in den 1930er Jahren weder politisch tätig gewesen, noch hatte er der KP nahegestanden. Er sah sich als »liberalen« Anhänger des New Deal und als loyalen Demokraten; er hatte für Franklin Roosevelt gestimmt. Als Idealist mit sehr striktem Verständnis der bürgerlichen Freiheiten war er überzeugt, dass diese, in Form des freien Gedankenaustauschs, auch auf wissenschaftlichem Gebiet Geltung haben sollten. Daher setzte er sich energisch für reguläre Kontakte zwischen den Physikern in Los Alamos und den anderen Labors in Amerika ein. 503
Wie zu erwarten, dauerte es nicht lange, bis er heftig mit General Groves aneinandergeriet. Denn der erfuhr Ende April 1943 zu seinem Ärger, dass Oppenheimer zur University of Chicago gefahren war, um mit dem Leiter des metallurgischen Labors im Manhattan-Projekt (Met Lab), dem Physiker Arthur Compton, den Zeitplan für die Herstellung des Plutoniums zu besprechen. Der General hielt dies für eine Verletzung der Sicherheitsvorschriften, für die er Condon verantwortlich machte. Er kam nach Los Alamos, stürmte in Oppenheimers Büro und stellte die beiden Männer zur Rede. Condon stand zu seinen Beweggründen, zu seinem Erstaunen jedoch gab ihm Oppenheimer keine Rückendeckung. Noch in der nämlichen Woche reichte Condon seinen Rücktritt ein. Er hatte bis zum Projektabschluss bleiben wollen, nun ging er nach gerade sechs Wochen wieder. »Was mich am meisten aufregt, ist die außerordentlich enge Sicherheitspolitik«, schrieb er Oppenheimer in seinem Rücktrittsgesuch. Er sei »so schockiert gewesen, dass ich meinen Ohren nicht traute, als General Groves uns abmahnte. … diese Politik bringt Dich in eine Lage, in der Du eine äußerst schwierige Arbeit mit drei auf dem Rücken zusammengebundenen Händen tun musst.« Wenn er und Oppenheimer sich nicht mit einem Mann wie Compton treffen könnten, ohne Sicherheitsvorschriften zu verletzen, dann sei »die wissenschaftliche Lage des Projekts hoffnungslos«. Er jedenfalls ziehe daraus den Schluss, dass er mehr für die Kriegsanstrengungen tun könne, wenn er zu Westinghouse zurückkehre und an der Radartechnik weiterarbeite. Er scheide enttäuscht und ohne Verständnis für Oppenheimers offenkundig fehlende Bereitschaft, Groves entgegenzutreten. 504 Allerdings wusste Condon nicht, dass Oppenheimer noch immer keine Q Clearance besaß. Die Sicherheitsbürokratie der Army versuchte weiterhin, dies zu hintertreiben, und er wusste, dass er in Sicherheitsfragen keinen Druck auf Groves ausüben konnte – wenn er denn seinen Posten behalten wollte.
Oppenheimer hatte viel in seine Beziehung zu Groves investiert. Im Herbst zuvor hatten sich die beiden Männer wechselseitig taxiert, hatten, nicht ohne Selbstüberschätzung, gedacht, sie könnten den jeweils anderen dominieren. Nach Groves’ Überzeugung war der charismatische Physiker für den Erfolg des Projekts von zentraler Bedeutung. Er wusste von Oppenheimers linker Vergangenheit und gedachte, eben dies zu nutzen, um ihn zu lenken. Oppenheimers Kalkül war nicht weniger direkt. Wenn er seinen Posten behalten wollte, musste Groves bei seiner Meinung bleiben, Oppenheimer sei der weit und breit beste Projektleiter, den er haben könne. Groves hatte wegen dessen kommunistischen Verbindungen eine gewisse Macht über Oppenheimer, und der wusste das und hoffte zugleich, wenn er seine außergewöhnliche Kompetenz beweise, werde ihn der General das Labor irgendwann nach eigenem Gutdünken führen lassen.
Rückblickend betrachtet, waren die beiden gewiss ein ideales Team, um die Deutschen im Wettlauf um Atomwaffen zu schlagen. Oppenheimer erreichte den nötigen Konsens mit seiner charismatischen Autorität, Groves dagegen übte seine Autorität durch Einschüchterung aus. 505 Sie habe, so Oppenheimers Sekretärin Priscilla Greene Duffield, nie vergessen, wie der General an ihrem Schreibtisch vorbeistolzierte und ihr nicht etwa »Guten Morgen« zurief, sondern grobe Bemerkungen wie: »Ihr Gesicht ist ungewaschen.« 506 Dieser Umgangston war Gegenstand der meisten Klagen auf der Mesa und lenkte von kritischen Einwänden gegen Oppenheimer ab. In Oppenheimers Gegenwart allerdings verhielt sich Groves anders, und Oppenheimers Macht zeigte sich darin, dass er sich gewöhnlich durchsetzen konnte.
Er tat, was nötig war, um Groves zu besänftigen, und wurde zu einem geschickten und effizienten Projektleiter – so wie ihn der General wollte. In Berkeley war sein Schreibtisch normalerweise vollgepackt gewesen mit hohen Papierstapeln. Dr. Louis Hempelmann, ein Physiker, der aus Berkeley nach Los Alamos kam und zum guten Freund der Oppenheimers wurde, hat beobachtet, dass Robert auf der Mesa »stets einen leeren Schreibtisch hatte. Nie lagen irgendwelche Papiere herum.« Auch äußerlich habe er sich verändert, seine struppige Mähne schneiden lassen: »Er trug seine Haare nun so kurz, dass ich ihn kaum wiedererkannte.«
Condon musste gehen, gleichwohl aber brach Groves’ Politik der getrennten Aufgabenbereiche zusammen. Möglicherweise hätte Oppenheimer es nicht auf eine Auseinandersetzung über dieses heikle Thema ankommen lassen, aber sie war gar nicht nötig, weil sich diese Politik als Augenwischerei und als praktisch unmöglich erwies. Je weiter die Arbeit voranschritt, desto wichtiger wurde, dass die Wissenschaftler mit der »weißen Dienstmarke« ihre Ideen und Probleme frei miteinander besprechen konnten. Selbst Edward Teller begriff, dass rigide Arbeitsteilung effiziente Forschung nur behindern kann. Anfang März 1943 erklärte er Oppenheimer, er habe einen offiziellen Brief an ihn geschrieben, in dem er »von seiner alten Angst: zu viel Geheimnistuerei« spreche. Und dies, so fügte er hinzu, nicht »um Dich zu ärgern, sondern um Dir die Möglichkeit zu geben, diese Äußerung zu nutzen, wenn sie Dir dienlich erscheint«. 507 Groves erkannte bald, wogegen er ankämpfte. Sosehr er sich bemühte, nicht einmal die verantwortlichsten und dienstältesten Wissenschaftler bekam er dazu, mit ihm an einem Strang zu ziehen. Als Lawrence einmal nach Los Alamos kam, um mit einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern über bestimmte Fragen zu diskutieren, nahm Groves den Physiker beiseite und instruierte ihn kurz, was er seinen Zuhörern nicht sagen dürfe. Und nur Minuten später erlebte er zu seinem Entsetzen, wie Lawrence vor der Tafel stand und sagte: »Ich weiß, dass General Groves nicht möchte, dass ich das sage, aber …« 508 Offiziell änderte sich nichts, praktisch jedoch wurde die Trennung der einzelnen Forschungsbereiche und Wissenschaftler immer laxer gehandhabt. Groves musste hinnehmen, dass in Los Alamos die Regeln der Wissenschaft über die Prinzipien militärischer Sicherheit triumphierten. Im Mai 1943 leitete Oppenheimer eine Versammlung, auf der beschlossen wurde, jeden Dienstagabend ein allgemeines Kolloquium abzuhalten, das Teller vorbereiten sollte. Groves erklärte, er sei »beunruhigt« über die weitschweifenden Themen der Diskussionen, doch Oppenheimer blieb standhaft: Er sei »verpflichtet«, diese Kolloquien abzuhalten. Sein einziges Zugeständnis war, nur Wissenschaftler teilnehmen zu lassen. Aber er setzte durch, dass Wissenschaftler von anderen Standorten des Manhattan-Projekts nach Los Alamos kommen konnten, Fermi zum Beispiel. 509
Im Spätsommer 1943 erläuterte Oppenheimer einem Sicherheitsbeamten des Manhattan-Projekts seine Sicht des Sicherheitsproblems: »Meine Meinung zu dieser leidigen Angelegenheit ist, dass die grundsätzlichen Dinge, an denen wir arbeiten, wahrscheinlich allen Regierungen bekannt sind, die sich die Mühe machen, das herauszufinden. Die Informationen über unsere Arbeit sind für andere wahrscheinlich ohne Nutzen, weil alles so verdammt kompliziert ist.« Nicht, dass technische Informationen über die Bombe in andere Länder durchsickerten, sei gefährlich. Das eigentliche Geheimnis seien »die Intensität unserer Bemühungen« und die Höhe der »Investitionen der verschiedenen Länder in ein solches Projekt«. Wüssten andere Regierungen, mit welchem Aufwand die Vereinigten Staaten an das Projekt herangingen, würden sie dies möglicherweise nachahmen. Informationen dieser Art hätten seiner Meinung nach »keine Auswirkungen auf Russland«, sie könnten jedoch »eine sehr große Wirkung auf Deutschland haben, davon bin ich ebenso überzeugt … wie alle anderen«. 510
Am 21. August 1943 schrieben Hans Bethe und Edward Teller einen Brief an Oppenheimer, in dem sie ihm ihre Enttäuschung über das Tempo des Projekts darlegten. »Nach jüngsten Berichten sowohl in der Presse als auch aus Geheimdienstkreisen gibt es Anzeichen, dass die Deutschen im Besitz einer mächtigen neuen Waffe sind, die zwischen November und Januar einsatzbereit sein soll.« Die neue Waffe sei vermutlich »Tube-Alloys« – der britische Codename für eine Atombombe. »Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, welche Konsequenzen es hätte, sollten diese Nachrichten zutreffen.« 511 Oppenheimer teilte ihre Besorgnis. Auch er befürchtete, dass sie hinter die Deutschen zurückfielen, und so arbeitete er noch härter und mahnte seine Leute, es ihm gleichzutun.
Oppenheimers Autorität als wissenschaftlicher Leiter von Los Alamos war nahezu absolut. Formell teilte er sich die Macht mit dem Befehlshaber des militärischen Stützpunkts, doch er berichtete direkt an General Groves. 512 Ein ständiges Ärgernis waren die Sicherheitsvorschriften. Das begann vor seiner Haustür: Vor Oppenheimers Haus in der »Bathtub Row« standen bewaffnete Posten der Militärpolizei: Wer ins Haus wollte, musste den Ausweis vorzeigen, auch Kitty Oppenheimer. Doch wenn sie ausging, vergaß sie häufig, ihren Ausweis mitzunehmen, und man ließ sie nach ihrer Rückkehr nicht ins Haus. Immer wieder kam es zu heftigen Auftritten. Gleichwohl war sie nicht nur unglücklich über ihr Leben in Los Alamos. Nie verlegen, eine Gelegenheit beim Schopf zu packen, machte sie die Militärpolizisten manchmal zu Babysittern für Peter. Als der zuständige Unteroffizier dahinterkam, zog er die Posten ab. 513
Um General Groves entgegenzukommen, hatte sich Oppenheimer bereit erklärt, einen dreiköpfigen Sicherheitsausschuss einzusetzen. Als Mitglieder benannte er seine Assistenten David Hawkins und John Manley sowie den Chemiker Joe Kennedy. Sie waren verantwortlich für die Sicherheit der Labors in der T-Sektion hinter dem inneren Stacheldrahtzaun. Militärpolizei und Soldaten hatten dort keinen Zutritt. Die Tätigkeit des Sicherheitsausschusses war ziemlich prosaisch, zu den Pflichten gehörte etwa die allabendliche Kontrolle, ob die Wissenschaftler, bevor sie ihre Büros verließen, die Aktenschränke auch abgeschlossen hatten. Wer abends ein geheimes Dokument auf seinem Schreibtisch liegenließ, bekam den Rundgang aufgebrummt, konnte also am nächsten Abend zusehen, ob er einen Kollegen bei der gleichen Verfehlung erwischte. Wie Serber berichtete, war er eines Tages Zeuge eines Streits zwischen Hawkins und Emilio Segrè. Dieser hatte ein geheimes Papier liegenlassen, sollte also den Rundgang machen. Segrè wehrte sich: »Auf diesem Papier ist doch alles falsch, es hätte den Feind nur verwirrt.« 514
Oppenheimer hatte permanent darum zu kämpfen, seine Leute vor dem Sicherheitsapparat zu schützen. Häufig habe er mit Serber darüber gesprochen, wie bestimmte Mitarbeiter, denen die Entlassung drohte, zu »retten« seien. Hätte man den Sicherheitsdienst gewähren lassen, so Serber, »wäre irgendwann keiner mehr dort gewesen«. Tatsächlich haben die Sicherheitsermittler der Army im Oktober 1943 empfohlen, Robert und Charlotte Serber aus Los Alamos zu entfernen. Das FBI erhob, mit der üblichen Übertreibung, den Vorwurf, sie seien »vollgestopft mit kommunistischen Überzeugungen, und alle ihre Freunde und Bekannten … sind bekannte Radikale«. Den Unterlagen ist nicht genau zu entnehmen, wie die Army überstimmt wurde, vermutlich aber verbürgte sich Oppenheimer persönlich für die Loyalität der Serbers. Eines Tages konfrontierte Hauptmann Peer de Silva, oberster Sicherheitsoffizier vor Ort, Oppenheimer mit Serbers politischer Vergangenheit, doch der tat das ab, es sei ohne Bedeutung: »Oppenheimer teilte ungefragt mit, er habe gewusst, dass Serber früher an kommunistischen Aktivitäten beteiligt war, das habe ihm dieser selbst gesagt.« Und er habe Serber, bevor er ihn nach Los Alamos mitnahm, erklärt, er müsse seine politischen Aktivitäten aufgeben. »Serber versprach, das zu tun. Darum vertraue ich ihm.« De Silva glaubte, nicht richtig gehört zu haben, und nahm diese Antwort als weiteren Beweis für Oppenheimers Naivität oder für Schlimmeres. 515
Das Verhältnis zwischen den Army-Leuten und den Wissenschaftlern und ihren Familien war stets gespannt. Den Ton gab General Groves vor. Seinen Leuten gegenüber nannte er die Zivilisten von Los Alamos nur »die Kinder«. Einem seiner Verantwortlichen trug er auf: »Sehen Sie zu, dass dies unzuverlässige Volk zufrieden ist. Sie dürfen nicht zulassen, dass sie durch Lebensumstände, Familienprobleme oder sonst etwas von ihrer Arbeit abgelenkt werden.« Die meisten Zivilisten fanden Groves »widerlich« – und er gab zu verstehen, wie wenig ihn kümmerte, was sie dachten. 516 Mit Groves kam Oppenheimer zurecht – die meisten Abwehrleute jedoch fand er beschränkt und beleidigend. Hawkins erzählte, wie eines Tages Hauptmann de Silva, Absolvent von West Point und besonders misstrauisch, in das Meeting platzte, zu dem Oppenheimer jeden Freitagnachmittag alle Gruppenleiter versammelte, und wutschnaubend verkündete: »Ich möchte mich beschweren.« Ein Wissenschaftler sei in sein Büro gekommen, um mit ihm zu sprechen, und der habe sich doch tatsächlich unaufgefordert auf eine Ecke seines Schreibtischs gesetzt: »So etwas schätze ich überhaupt nicht.« Zur Belustigung aller Anwesenden gab Oppenheimer zurück: »In diesem Labor hier, Captain, kann jeder auf dem Schreibtisch von jedem anderen sitzen.«
Als Edward Teller mit der Klage seiner Leute zu Oppenheimer kam, ihre Post werde geöffnet, antwortete dieser bitter: »Was haben die nur? Ich darf noch nicht einmal mit meinem eigenen Bruder reden.« Auch ihn ärgerte, dass er überwacht wurde. »Er beschwerte sich dauernd«, so Robert Wilson, »dass seine Telefongespräche abgehört wurden.« Damals habe er gedacht, Oppenheimer sei »etwas paranoid«, erst viel später erfuhr er, dass die Überwachung tatsächlich fast rund um die Uhr lief. 517 Diesen Job hatte im März 1943 die Spionageabwehr der Army übernommen. Hoover musste den Fall abgeben, ordnete aber an, dass das Büro San Francisco Oppenheimers Bekannte aus dem KP-Umfeld weiterhin beobachtete. Noch bevor Oppenheimer nach Los Alamos kam, waren Offiziere des Counter Intelligence Corps (CIC) der Army verdeckt tätig. Ein Agent namens Andrew Walker fungierte als sein Chauffeur und Begleitschutz. Er hat später bestätigt, dass Oppenheimers Post und sein Telefon zu Hause von Offizieren des CIC überwacht wurden; in seinem Büro habe man eine Telefonabhöranlage installiert. 518
Doch mittlerweile war Oppenheimer selbst sehr sicherheitsbewusst geworden. Man konnte den bis dahin so lässigen Collegeprofessor dabei beobachten, wie er geheime Notizen sorgfältig im Innern seiner Gesäßtasche befestigte, um sie nicht zu verlieren. Und er gab sich Mühe, die Sicherheitsoffiziere bei Laune zu halten, widmete ihnen seine kostbare Zeit und ging auf fast alle ihre Forderungen ein. Doch Arbeitsdruck verbunden mit dem Gefühl, ständig kontrolliert zu werden, und der Angst zu versagen, das und vieles mehr forderte seinen Tribut. Im Sommer 1943, so Robert Bacher, habe ihm Oppenheimer gesagt, er denke daran zu kündigen. Wie von Hunden gehetzt fühle er sich durch das Herumwühlen in seiner Vergangenheit. Außerdem sei er mit Arbeit überlastet. Bacher habe sich die Klagen angehört, aber nichts anderes darauf erwidern können als: »Es gibt niemanden sonst, der das erledigen könnte.« 519
Und Oppenheimer hielt durch. Einmal jedoch, im Juni 1943, tat er etwas, von dem er hätte wissen müssen, dass es das Misstrauen der CIC-Offiziere nur steigern konnte. Zwischen 1939 und 1943, also nachdem er Kitty geheiratet hatte, traf sich Oppenheimer etwa zweimal im Jahr mit Jean Tatlock, in New York, auf Partys in Berkeley und in ihrer Wohnung. »Wir waren einmal sehr verbunden miteinander, und es verbanden uns noch immer tiefe Gefühle, wenn wir uns sahen«, erklärte er später. 520 Ob Oppenheimer seine Liebesbeziehung zu Jean völlig abgebrochen hat oder nicht, wissen wir nicht; wir wissen nur, dass er sie weiterhin sah. 521 1940 hat Robert geheiratet, einige Zeit später besuchte Jean ihre inzwischen verheiratete Freundin Edith Arnstein in deren Wohnung in San Francisco. Jean habe am Fenster gestanden, mit Ediths kleiner Tochter Margaret Ludmilla auf dem Arm, und Edith wollte wissen, ob sie bedaure, dass sie Oppie damals nicht hatte heiraten wollen. »Ja« sei Jeans Antwort gewesen, wäre sie damals »nicht so durcheinander gewesen«, hätte sie ihn wohl geheiratet. 522
Als Oppenheimer im Frühjahr 1943 aus Berkeley wegging, war aus seiner Freundin Dr. Jean Tatlock eine Frau an der Schwelle zu einer aussichtsreichen medizinischen Karriere geworden. Sie war Kinderpsychiaterin am Mount Zion Hospital und behandelte dort vor allem geistig gestörte Kinder. 523 Anscheinend hatte sie den Beruf gefunden, der ihrem Temperament und Wesen entsprach.
Bevor Robert und Kitty nach Los Alamos aufbrachen, hatte Jean ihn wissen lassen, dass sie »große Sehnsucht« habe, ihn noch einmal zu sehen. 524 Aus irgendeinem Grund lehnte er ab. Sicherheitsbedenken werden das kaum gewesen sein, denn von Steve Nelson beispielsweise hat er sich verabschiedet. Möglicherweise hatte Kitty protestiert. Wie auch immer, er ist abgereist, ohne Jean auf Wiedersehen gesagt zu haben, und machte sich deswegen Vorwürfe. Sie schrieben sich, und Jean erzählte ihren Freunden, seine Briefe hätten etwas Rätselhaftes. In mehreren besorgten Briefen flehte sie ihn an zurückzukehren. Siegfried Bernfeld, ihr Lehranalytiker, wusste, dass sie damals sehr unglücklich war. 525 Als Oppenheimer im Juni 1943 Gelegenheit fand, nach Berkeley zu kommen, rief er Jean an und lud sie zum Essen ein. Während dieses Besuchs wurde er von CIC-Leuten beschattet. »Am 14. Juni 1943«, heißt es in ihrem Bericht an das FBI, »fuhr Oppenheimer mit der Key Railway von Berkeley nach San Francisco …, wo er sich mit Jean Tatlock traf, die ihn zur Begrüßung küsste.« Arm in Arm seien sie zu ihrem Wagen gegangen, einem grünen Plymouth Coupé, Baujahr 1935, und zum Xochimilco Café gefahren, einer billigen Mischung aus Bar, Café und Tanzsaal. Nachts, gegen zehn Uhr dreißig seien sie zu ihrer Wohnung gefahren, im obersten Stock des Hauses 1405, Montgomery Street, San Francisco. Dort seien um halb zwölf die Lichter ausgegangen, und Oppenheimer sei erst am nächsten Tag um halb neun wieder aufgetaucht: Zusammen mit Jean Tatlock habe er das Haus verlassen. 526 Im FBI-Bericht heißt es: »Die Beziehung zwischen Oppenheimer und Tatlock scheint sehr zärtlich und intim zu sein.« Elf Jahre später, während der Anhörung, wurde er gefragt: »Haben Sie herausgefunden, warum sie Sie treffen wollte?« Er antwortete: »Weil sie mich immer noch liebte.« 527
Der Bericht über Oppenheimers Treffen mit Jean Tatlock, bekannt als Mitglied der KP, fand seinen Weg nach Washington, und bald galt sie als mögliche Verbindungsstelle für die Weitergabe von Atomgeheimnissen an den sowjetischen Geheimdienst. Am 27. August 1943, in einer Aktennotiz, die das Anzapfen von Jean Tatlocks Telefonleitung rechtfertigen sollte, stellte das FBI die Vermutung an, dass Oppenheimer »sie möglicherweise als Mittelsperson oder aber ihr Telefon benutzt, um wichtige Anrufe zu tätigen, die die Komintern betreffen …«. 528 Am 29. Juni 1943, zwei Wochen nachdem Oppenheimer die Nacht bei Jean Tatlock verbracht hatte, schrieb Oberstleutnant Boris Pash, Chef der Spionageabwehr an der Westküste, einen Aktenvermerk für das Pentagon mit der Empfehlung, Oppenheimer keine Unbedenklichkeitsbescheinigung auszustellen und ihn zu entlassen. Er unterhalte möglicherweise »immer noch Verbindungen zur Kommunistischen Partei«. Stichhaltige Beweise hatte er nicht, verwies nur auf Oppenheimers Besuch bei Tatlock und auf einen Anruf bei David Hawkins, »einem Parteimitglied, das Kontakte zu Bernadette Doyle und Steve Nelson hat«. 529 Pash wollte aus Oppenheimers Beziehung zu Tatlock eine Waffe gegen ihn machen. Ende Juni formulierte er seine Überlegungen in einem langen Vermerk an Groves’ neuen Sicherheitsadjutanten Oberstleutnant John Lansdale, einen tüchtigen, einunddreißig Jahre alten Rechtsanwalt aus Cleveland. Wenn Oppenheimer nicht sofort entlassen werden könne, dann, so Pash, sollte er nach Washington bestellt und persönlich belehrt werden, dass das »Spionagegesetz und alle seine Bestimmungen« gegen ihn angewendet würden. Man müsse ihn damit konfrontieren, dass der militärische Geheimdienst Kenntnis von seinen Beziehungen zur KP habe und dass die Regierung keine undichten Stellen in dieser Richtung dulden werde. Wie General Groves glaubte auch Pash, man könne Oppenheimers Ehrgeiz und Stolz nutzen, um ihn unter Kontrolle zu halten: »Dieses Büro ist der Auffassung, dass die persönlichen Neigungen des Betreffenden darin bestehen, seine Zukunft und sein Ansehen und die hohe Ehre zu schützen, die ihm zuteil würde, wenn seine gegenwärtige Arbeit erfolgreich abgeschlossen wird. Daher besteht die Meinung, dass er sich alle Mühe geben wird, mit der Regierung an jedem Plan mitzuarbeiten, der ihn in seinem Amt belässt.« 530
Zu diesem Zeitpunkt aber hatte Lansdale Oppenheimer bereits kennengelernt, und anders als Pash mochte er ihn und traute ihm. Doch auch ihm war klar, dass Oppenheimer zwar die Schlüsselfigur des Projekts war, in politischer Hinsicht jedoch Anlass zu Besorgnis gab. Kurz nachdem er Pashs Aktenvermerk erhalten hatte, schrieb Lansdale für Groves eine präzise, zwei Seiten umfassende Zusammenfassung der Bedenken und Beweise. Er allerdings riet Groves nicht dazu, Oppenheimer zu entlassen: »Sie sollten Oppenheimer klipp und klar sagen, dass unseres Wissens die Kommunistische Partei … versucht, an Informationen [über das Manhattan-Projekt] heranzukommen … dass uns einige Verräter, die sich an dieser Aktivität beteiligen, bekannt sind …« 531 Lansdales Schreiben an Groves lief darauf hinaus, Oppenheimer im Amt zu belassen, ihn aber zum Informanten zu machen: Man müsse ihm nahelegen, dass und wie die Sicherheitsbedenken ausgeräumt werden könnten.
In den folgenden Monaten und Jahren, solange Oppenheimer für die Regierung tätig war, war er Opfer derartiger Strategien. In Los Alamos wurden ihm Assistenten zugeteilt, die in Wirklichkeit »eigens ausgebildete Agenten des Counter Intelligence Corps« waren, »die nicht nur als Wachpersonal für den Betreffenden dienen, sondern auch als verdeckte Agenten für dieses Büro«. 532 Einer dieser CIC-Agenten war der bereits erwähnte Fahrer und Leibwächter Andrew Walker. Er berichtete direkt an Oberst Pash. Oppenheimers Post wurde überwacht, sein Telefon angezapft und in seinem Büro eine Abhöranlage installiert. Selbst nach dem Krieg noch war er beständig direkter und elektronischer Überwachung ausgesetzt. Seine Vergangenheit wurde wiederholt Gegenstand von Debatten in Kongressausschüssen und im FBI; wiederholt gab man ihm zu verstehen, dass er unter dem Verdacht stehe, Mitglied der Kommunistischen Partei zu sein.