18.
»Selbstmord, Motiv unbekannt«

Mich ekelt alles an …
Jean Tatlock, im Januar 1944

Zwei Monate hatte Oberstleutnant Boris Pash damit verbracht herauszufinden, wer Oppenheimer wegen möglicher Informationen für das sowjetische Konsulat angesprochen haben könnte. Wiederholt, aber vergeblich hatten er und seine Agenten verschiedene Studenten und Dozenten aus Berkeley befragt. Dabei war Pash so stur und so feindselig gegenüber Oppenheimer vorgegangen, dass Groves schließlich zu der Überzeugung gelangte, Pash vergeude Zeit und Mittel der Army für eine Untersuchung, die zu nichts führte. Das letztendlich hat Groves Anfang Dezember 1943 dazu veranlasst, Oppenheimer zu befehlen, den Namen des Kontaktmannes zu nennen. Und nicht weniger entschieden vertrat er nun den Standpunkt, Pashs Talente könnten anderswo besser genutzt werden. So wurde dieser im November zum militärischen Befehlshaber einer Geheimmission ernannt, die den Codenamen Alsos führte: Um festzustellen, wie weit das NS-Regime mit seinem Bombenprogramm vorangekommen war, sollten deutsche Wissenschaftler entführt werden. Pash wurde nach London entsandt, wo er in den kommenden sechs Monaten unter strengster Geheimhaltung eine Gruppe von Wissenschaftlern und Soldaten zusammenstellte, die den alliierten Truppen auf den Kontinent folgen sollten.

Doch auch nach Pashs Abzug hörten seine Freunde vom FBI-Büro San Francisco Jean Tatlocks Telefongespräche weiterhin ab. Das ging über Monate, und sie haben nichts erfahren, was ihren Verdacht, sie sei Oppenheimers (oder sonst jemandes) Kanal für die Weitergabe von Informationen an die Sowjets, hätte bestätigen können. Aus der Washingtoner Zentrale aber kam keine Weisung, die Überwachung abzubrechen.

Anfang 1944, kurz nach den Feiertagen, kämpfte Jean Tatlock mit einer ihrer wiederkehrenden Depressionen. Als sie ihren Vater am Montag, dem 3. Januar, in Berkeley besuchte, fand er sie »bedrückt«. Sie verabschiedete sich mit dem Versprechen, den Vater am nächsten Abend anzurufen. Als er bis Dienstagabend nichts von ihr gehört hatte, versuchte John Tatlock seinerseits, Jean zu erreichen, vergeblich. Mittwoch früh probierte er es erneut, fuhr dann zu ihrer Wohnung. Gegen ein Uhr mittags klingelte er, und als sich nichts rührte, kletterte der siebenundsechzigjährige Tatlock durch ein Fenster in die Wohnung.

Er fand Jean »auf einem Stapel Kissen vor einem Ende der Badewanne kniend, ihren Kopf in die nicht ganz volle Badewanne getaucht«. Aus welchen Gründen auch immer rief er nicht sofort die Polizei, sondern hob seine Tochter auf und legte sie auf das Sofa im Wohnzimmer. Auf dem Esszimmertisch fand er eine mit Bleistift auf die Rückseite eines Umschlags geschriebene, nicht unterzeichnete Nachricht, in der es unter anderem hieß: »Mich ekelt alles an … Für diejenigen, die mich liebten und mir halfen, alle Liebe und viel Mut. Ich wollte leben und geben, aber irgendwie wurde ich gelähmt. Ich versuchte verzweifelt zu verstehen, aber ich konnte nicht … Ich glaube, ich wäre mein ganzes Leben lang eine Belastung gewesen – so konnte ich wenigstens eine ständig im Kampf befindliche Welt von der Bürde meiner gelähmten Seele befreien.« 545 Die folgenden Worte waren bereits unleserlich. Wie betäubt begann Tatlock, die Wohnung zu durchwühlen. Schließlich fand er einen Packen mit Jeans Privatbriefen und einige Fotos. Die Lektüre der Briefe veranlasste ihn, ein Feuer im Kamin zu entzünden. Während seine tote Tochter neben ihm ausgestreckt auf dem Sofa lag, verbrannte er systematisch ihre Korrespondenz und eine Reihe von Fotografien. Über vier Stunden vergingen. Dann rief er ein Beerdigungsinstitut an, und ein Mitarbeiter dort verständigte schließlich die Polizei. Als Polizei und Gerichtsmediziner um halb sechs Uhr abends in Jeans Wohnung eintrafen, glimmten die Papiere im Kamin noch. Tatlock erklärte der Polizei, Briefe und Fotos seien Eigentum seiner Tochter gewesen. Nach dem Bericht des Gerichtsmediziners war der Tod mindestens zwölf Stunden zuvor eingetreten: Irgendwann im Lauf des Abends vom 4. Januar 1944 ist Jean Tatlock gestorben. Ihr Magen enthielt »eine beträchtliche Menge halbfeste Nahrung, die die Verstorbene kurz vor ihrem Tod zu sich genommen hatte«, und eine unbestimmte Menge Medikamente. Ein Flasche »Abbott’s Nembutal C« wurde in der Wohnung gefunden, zwei Schlaftabletten enthielt sie noch. In einem Briefchen mit der Aufschrift »Codeine ½ gr[ain]« 546 fanden sich Spuren eines weißen Pulvers, in einer Blechdose mit der Aufschrift »Upjohn Racephedrine Hydrochloride, ⅜ grain«, waren elf Kapseln. Eine amtliche Untersuchung des Mageninhalts ergab Spuren von »Barbitursäure, Salicylsäure und eine kleine Spur von Chloralhydrat (nicht bestätigt)«. Als Todesursache wurde ein »akutes Lungenödem mit Lungenverstopfung« festgestellt. Jean hatte sich in ihrer Badewanne ertränkt. 547

Das offizielle Untersuchungsergebnis lautete auf »Selbstmord, Motiv unbekannt«. 548 In Zeitungsberichten hieß es, in ihrer Wohnung sei eine Rechnung ihres Psychoanalytikers Dr. Siegfried Bernfeld über 732,50 Dollar gefunden worden, sie habe also »aufgrund ihrer Beschwerden einen Psychologen aufgesucht«. Doch zu ihrer Ausbildung gehörte auch eine Lehranalyse, die Jean selbst bezahlen musste. Wenn Jean von wiederkehrenden depressiven Anfällen in den Selbstmord getrieben worden ist, dann war dies eine Tragödie. Denn sie hatte, wie Freunde berichteten, zu neuem Halt gefunden und leistete damals Beachtliches. Auch ihre Kollegen am Mount Zion Hospital – Nordkaliforniens bedeutendstem Ausbildungszentrum für psychoanalytische Psychiatrie – bescheinigten ihr einen »herausragenden Erfolg« und konnten nicht fassen, dass sie sich das Leben genommen hatte.

Priscilla Robertson schrieb, nachdem sie von Jeans Tod gehört hatte, der Jugendfreundin einen posthumen Brief, in dem sie zu verstehen suchte, was geschehen war. Sie glaube nicht, dass »persönlicher Kummer« Jean in den Selbstmord getrieben habe: »Denn Du hast nie nach Zuneigung gehungert – Dein unstillbarer Hunger richtete sich auf das Schöpferische. … Du bist in Deiner elften Stunde zur Psychoanalyse zurückgekehrt.« Diese Erfahrung, die Selbstbeobachtung, bringe wohl stets »die Verzweiflung zum offenen Verlauf« und entfache so tiefe seelische Qualen, »dass sie sich nicht mehr besänftigen lassen«. 549

Robertson und viele andere Freunde wussten nicht, dass Jean Tatlock mit ihrer sexuellen Orientierung zu kämpfen hatte. Jackie Oppenheimer berichtete später, Jean habe ihr erzählt, in der Analyse seien latente homosexuelle Neigungen zum Vorschein gekommen. 550 Damals betrachteten freudianische Analytiker in Amerika Homosexualität als etwas Krankhaftes, das zu überwinden sei. Einige Zeit nach Jeans Tod trafen sich ihre Freundin Edith Arnstein Jenkins und Mason Roberson, ein Redakteur von People’s World, zu einem Spaziergang. Roberson, der Jean gut gekannt hatte, erzählte, sie habe ihm anvertraut, sie sei lesbisch und habe, um ihre Neigung zu Frauen zu überwinden, »mit jedem ›Stier‹ geschlafen, den sie finden konnte«. Das erinnerte Jenkins daran, wie sie an einem Wochenende morgens in die Shasta Road gekommen sei und dort Mary Ellen Washburn und Jean Tatlock angetroffen habe: »in Mary Ellens Doppelbett sitzend, rauchend und Zeitung lesend«. Auch Edith Jenkins’ Erinnerungen deuten an, dass sie von einer lesbischen Beziehung wusste: »Jean schien Mary Ellen zu brauchen«, und diese habe ihr gesagt: »Als ich Jean kennenlernte, war ich hingerissen von ihren Brüsten und ihren starken Fesseln.« 551

Oppenheimer empfand Jean Tatlocks Selbstmord als schweren Verlust. Er hatte sich dieser jungen Frau sehr weit geöffnet, sie sogar heiraten wollen, und er war ihr auch nach der Heirat mit Kitty weiterhin ein treuer Freund – und gelegentlicher Liebhaber. Auf endlosen Spaziergängen hatte er versucht, sie aus ihren Depressionen herauszuholen. Jetzt war sie nicht mehr. Er hatte versagt. Einen Tag nach dem Selbstmord schickte Mary Ellen Washburn den Serbers ein Telegramm nach Los Alamos. 552 Als Robert Serber zu Oppenheimer ging, um ihm die traurige Nachricht zu überbringen, wusste Oppenheimer schon Bescheid: »Er war sehr niedergeschlagen.« Kurz darauf sei er zu einem seiner langen einsamen Spaziergänge in die Umgebung von Los Alamos aufgebrochen. 553 So viel, wie er mit den Jahren von Jeans psychischem Zustand erfahren hatte, werden ihn viele schmerzliche und widersprüchliche Gefühle bewegt haben. Trauer, Wut und Enttäuschung, sicher auch Gewissensbisse und Schuldgefühle. Wenn Jean zur »gelähmten Seele« geworden war, dann musste wohl auch seine unentschiedene Präsenz in ihrem Leben zu dieser Lähmung beigetragen haben. Mit seiner Liebe und seinem Mitgefühl war er zu einem starken psychischen Halt für Jean Tatlock geworden – und dann plötzlich verschwunden, ohne das näher erklären zu können. Er hätte die Verbindung gerne aufrechterhalten, aber seit Juni 1943 war ihm klar, dass er die Beziehung nicht fortsetzen konnte, ohne seine Stellung in Los Alamos zu gefährden. Insofern war er ein Gefangener der Umstände, hatte Verpflichtungen der Frau gegenüber, mit der er verheiratet war, die er liebte, und auch seinem Kind gegenüber; und er war für seine Kollegen in Los Alamos verantwortlich. Aus seiner Sicht hatte er vernünftig gehandelt; Jean aber mochte sein Verhalten durchaus als Sieg seines Ehrgeizes über ihre Liebe erlebt haben. Insofern könnte man Jean Tatlock als das erste Opfer von Oppenheimers Stellung in Los Alamos bezeichnen.

Tatlocks Selbstmord füllte die Titelseiten der Presse von San Francisco. Das örtliche FBI-Büro schickte J. Edgar Hoover eine Zusammenfassung der Zeitungsberichte. Das Schreiben schloss mit der Bemerkung: »Wir werden erst einmal nicht direkt tätig, die Öffentlichkeit könnte davon unangenehm berührt sein. Wir werden zu gegebener Zeit diskrete Nachforschungen anstellen und Ihnen berichten.« 554

In den folgenden Jahren haben diverse Historiker und Journalisten zu ergründen versucht, wie es zu diesem Selbstmord kommen konnte. Nach dem Autopsiebericht hatten die Barbiturate weder ihre Leber noch andere lebenswichtige Organe angegriffen. Der Gerichtsmediziner fand »eine schwache Spur von Chloralhydrat« in ihrem Blut. Wird dieses synthetische Schlafmittel zusammen mit Alkohol eingenommen, verwandelt es sich zum aktiven Wirkstoff einer Mischung, die man damals »Mickey Finn« nannte – Knockout-Tropfen. Und so kamen verschiedene Ermittler auf die Idee, dass Jean vielleicht »einen Mickey geschlürft« und sich dann in ihrer Badewanne ertränkt habe. 555

Einige Ermittler, auch Jeans Bruder Dr. Hugh Tatlock, hielten die merkwürdigen Umstände von Jeans Tod noch lange für ungeklärt. 556 1975 kamen neue Verdachtsmomente auf. Vermutet wurde ein Zusammenhang zwischen den in diesem Jahr bekannt gewordenen Anhörungen des Senatsausschusses für kirchliche Angelegenheiten über Mordanschläge der CIA und Tatlocks Selbstmord. Einer der wichtigsten Zeugen war der unvermeidliche Boris Pash. Er hatte nicht nur zu verantworten, dass Jean Tatlocks Telefon angezapft wurde, sondern auch vorgeschlagen, Weinberg, Lomanitz, Bohm und Friedman »auf russische Art« zu vernehmen und ihre Leichen im Meer verschwinden zu lassen. 557 Pash war von 1949 bis 1952 als Chef der Program Branch 7 (PB/7), einer Spezialeinheit im Office of Policy Coordination tätig, einer 1948 gegründeten Agentur für Geheimoperationen der US-Regierung, die 1952 in der CIA aufging. E. Howard Hunt Jr., ein ehemaliger CIA-Beamter, erklärte Reportern der New York Times am 26. Dezember 1975, Mitte der fünfziger Jahre sei er von seinen Vorgesetzten davon unterrichtet worden, dass Boris T. Pash der Leiter einer operativen Spezialeinheit für »Morde an verdächtigen Doppelagenten und anderen untergeordneten Amtsträgern« gewesen sei. Pash bestritt das, der Senatsausschuss kam zu einem anderen Schluss: Pashs Einheit sei in der Tat »verantwortlich« gewesen »für Morde und Entführungen«. 558 So gibt es Dokumente, aus denen hervorgeht, dass Pash, der Anfang der sechziger Jahre in der Technical Services Division der CIA arbeitete, an den Versuchen beteiligt war, für Fidel Castro bestimmte vergiftete Zigarren herzustellen.

Gewiss brachte der 1944 zum Colonel beförderte Boris Pash, ein vehement antibolschewistischer Offizier der Spionageabwehr, alle Voraussetzungen mit, die ein Mörder in einem Spionageroman des Kalten Krieges braucht. 559 Doch trotz seines schillernden Lebenslaufs gibt es keine Beweise für einen Zusammenhang zwischen ihm und Jean Tatlocks Tod. Im Januar 1944 wurde Pash nach London versetzt. Jeans nicht unterzeichnetes Abschiedsschreiben legt die Vermutung nahe, dass sie durch eigene Hand gestorben ist – eine »gelähmte Seele«. Davon ist auch Oppenheimer sein Leben lang ausgegangen.