19.
»Möchtest du sie nicht adoptieren?«

Hier in Los Alamos fand ich den Geist von Athen, von Platon und seinem idealen Staat.
James Tuck, englischer Physiker in Los Alamos

In Los Alamos war nichts wie an anderen Orten. Kaum jemand war älter als fünfzig, das Durchschnittsalter lag bei fünfundzwanzig Jahren. »Wir hatten keine Invaliden, keine Verschwägerten, keine Arbeitslosen und keine untätigen Reichen, keine Armen«, so Bernice Brode in ihren Erinnerungen. 560 Ihre Führerscheine zeigten weder Nummern noch Namen, ihre Adresse lautete schlicht P.O. Box 1663. Von Stacheldraht umgeben, war Los Alamos eine geschlossene Gemeinschaft von Wissenschaftlern, die von der amerikanischen Armee finanziert und bewacht wurde. Als sie in Los Alamos angekommen sei, so erinnerte sich Ruth Marshak, habe sie das Gefühl gehabt, »als falle eine große Tür hinter uns zu. Die Welt der Freunde und Verwandten, die ich kannte, existierte nicht mehr.« 561

Im ersten Winter, 1943/44, begann es früh zu schneien, und der Schnee blieb lange liegen. »Nur die ältesten Leute im Pueblo«, schrieb ein langjähriger Bewohner, »können sich an eine derart lange Schneeperiode erinnern.« 562 Als der Schnee endlich geschmolzen war, begannen Lavendel, Mormonentulpen und andere Wildblumen zu blühen. Im Frühling und Sommer zogen von den Bergen her fast jeden Nachmittag schwere Gewitter auf, tobten ein, zwei Stunden lang und kühlten den Boden ab. Schwärme von Drosseln, Winter- und kalifornischen Grundammern ließen sich in den frühlingsgrünen Pappelwäldern um Los Alamos nieder. »Wir lernten, den Schnee auf den Sangres zu beobachten und im Water Canyon nach Wild Ausschau zu halten. … Da waren unsere Nachbarn, die Puebloindianer, und die Höhlen von Otowi, die uns daran erinnerten, dass schon andere Menschen in diesem trockenen Land nach Wasser suchten«, schrieb Phil Morrison; sein lyrischer Ton lässt die emotionale Bindung an das Land erkennen, die viele Bewohner entwickelten.


Los Alamos war ein Army Camp – und hatte doch manche Eigenschaften eines Erholungsortes im Gebirge. Robert Wilson hatte kurz vor seiner Ankunft Thomas Manns Zauberberg gelesen, und manchmal fühlte er sich in dieses Zauberreich versetzt. Eine Insel in den Wolken sei es gewesen, fanden manche, nannten den Ort auch Shangri-La. Der englische Physiker James Tuck sprach von einer »goldenen Zeit«, er habe in Los Alamos den »Geist von Athen, von Platon und seinem idealen Staat« gefunden. 563

Im Lauf weniger Monate entwickelten die Bewohner ein Gemeinschaftsgefühl, was viele Ehefrauen Oppenheimer zuschrieben. Schon bald setzte er, im Sinne demokratischer Partizipation, einen Stadtrat ein, der später sogar gewählt wurde; zwar hatte er formal keine Befugnisse, trat aber regelmäßig zusammen und sorgte auch dafür, dass Oppenheimer den Kontakt zur Gemeinschaft und ihren Bedürfnissen nicht verlor. Immer wieder gab er zu verstehen, dass er die Opfer, die alle brachten, wohl zu schätzen wusste. Es gab wenig Privatheit, die Lebensbedingungen waren spartanisch, häufig fehlten Milch und Wasser, sogar der Strom fiel manchmal aus. Doch immer wieder gelang es Oppenheimer, die Menschen in Los Alamos mit seinem Humor und seinem Elan anzustecken. »In deinem Haus sind alle ziemlich verrückt«, habe er einmal zu Bernice Brode gesagt: »Ihr müsstet doch gut miteinander auskommen.« (Die Brodes wohnten über Cyril und Alice Kimball Smith und Edward und Mici Teller.) Als die Theatergruppe Joseph Kesselrings Komödie Arsen und Spitzenhäubchen aufführte, konnte sich das Publikum nicht halten vor Vergnügen: Oppenheimer wurde, mit Mehl gepudert und steif wie eine Leiche, auf die Bühne getragen und zu den anderen Opfern auf den Boden gelegt. 564

Zu Hause war Oppenheimer der Koch. Er schwärmte immer noch für exotische, scharf gewürzte Speisen wie Nasi Goreng, genauso gerne aß er aber auch Steaks mit frischem Spargel und Kartoffeln, und vor dem Essen gab stets es einen Gin Sour oder einen Martini. Am 22. April 1943 ließ er die erste große Party auf The Hill steigen – zur Feier seines neununddreißigsten Geburtstags. Er verwöhnte seine Gäste mit trockenen Martinis und, obwohl die Lebensmittelversorgung in Los Alamos stets etwas prekär war, mit erlesenen Speisen. »Auf 2700 Metern Höhe wirkt der Alkohol stärker«, so Dr. Louis Hempelmann, »darum fühlten sich alle unbeschwert, selbst so abstinente Leute wie Rabi. Alle tanzten.« Oppie tanzte den Foxtrott auf seine gewohnte europäische Art, mit steif gehaltenem Arm.

Wie Anne Wilson Marks erzählte, weigerte sich Kitty Oppenheimer, die gesellschaftliche Rolle der Ehefrau des Direktors zu spielen: »Sie trug immer Jeans und Hemden von Brooks Brothers.« Anfangs arbeitete sie halbtags als Labortechnikerin bei Dr. Hempelmann, der die radioaktive Strahlung und ihre gesundheitlichen Risiken untersuchte. »Schrecklich rechthaberisch« sei sie gewesen. Nur gelegentlich lud sie von sich aus Freunde aus Berkeley zum Essen, veranstaltete auch nur selten Hauspartys. Dabei wollte Oppenheimer, dass alle, wenn sie denn schon so hart arbeiteten, ebenso gründlich feierten. »Samstags hauten wir auf den Putz«, so Bernice Brode, »am Sonntag unternahmen wir Ausflüge, und die Woche über arbeiteten wir.« Samstagabends wurde im Gartenhaus häufig Square Dance getanzt, die Männer in Jeans, Cowboystiefeln und bunten Hemden, die Frauen in langen, mit Petticoats aufgebauschten Kleidern. Die wildesten Partys ließen natürlich die Junggesellen steigen, das Lieblingsgetränk war ein eisgekühltes Gebräu aus Laboralkohol und Pampelmusensaft. Auch Klavier- und Geigenkonzerte fanden an den Samstagabenden statt. Bei solchen Anlässen erschien Oppenheimer in einem seiner feinen Tweedanzüge. Unweigerlich stand er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. »In einem großen Saal«, so Dorothy McKibbin, »bildete sich die größte Menschenansammlung stets um Oppenheimer. Er war wunderbar auf Partys, die Frauen liebten ihn.« 565

Der Sonntag gehörte den Wanderungen in die Berge und den Picknicks; es standen Pferde in den Ställen der Los Alamos Ranch School, die gemietet werden konnten. Oppenheimer allerdings ritt sein eigenes Pferd, den schönen, vierzehn Jahre alten Fuchs Chico, meistens auf einer Route, die nach Westen, zu den Gebirgspfaden, führte. Noch auf den rauesten Wegen konnte er Chico im Passgang gehen lassen. Unterwegs grüßte er jeden, dem er begegnete, schwenkte seinen lehmfarbenen Porkpie, begann ein kurzes Gespräch. Auch Kitty Oppenheimer war »sehr gut zu Pferd, ausgebildet im europäischen Stil«, ihr Pferd Dixie war in Albuquerque Trabrennen gelaufen. Später bekam sie ein Vollblut. Bei ihren Ausritten folgten ihnen stets bewaffnete Wachposten.

Die Ausdauer, die Oppenheimer beim Reiten oder Wandern in den Bergen an den Tag legte, erstaunte seine Begleiter stets aufs Neue, auch Freund Hempelmann: »Er wirkte immer so zart. Er war dünn, andererseits aber auch sehr stark.« Im Sommer 1944 sei er mit Oppenheimer durch die Berge des Sangre de Cristo nach Perro Caliente geritten: »Es brachte mich fast um. Er ritt gemütlich im Passgang, während mein Pferd in einem starken Trab gehen musste, damit ich den Anschluss nicht verlor. Am ersten Tag müssen wir um die sechzig Kilometer geritten sein, ich war fast tot.« Oppenheimer war zwar selten krank, aber er hatte seinen Raucherhusten; vier bis fünf Päckchen rauchte er täglich. Zur Pfeife habe er nur gegriffen, wie sich eine seiner Sekretärinnen erinnerte, »um das Kettenrauchen zu unterbrechen«. Manchmal erlitt er lange, unkontrollierbare Hustenanfälle und sein Gesicht lief rot an, wenn er versuchte, während des Hustens weiterzureden. So wie er seine Martinis in einer besonderen Zeremonie mixte, so rauchte er auch seine Zigaretten auf spezielle Weise. Er schlug die Asche nicht mit dem Zeigefinger ab, sondern mit der Spitze seines kleinen Fingers. Durch diese etwas manierierte Angewohnheit hatten sich dunkle Schwielen gebildet, der kleine Finger sah fast aus wie verkohlt. 566

Mit der Zeit wurde das Leben auf der Mesa bequemer, luxuriös jedoch nie. Die Soldaten schlugen Brennholz, brachten es in die Häuser, heizten die Schmelzöfen der Labors mit Kohle, holten den Müll ab. Auch für den täglichen Transport von Pueblo-Indianerinnen aus der nahe gelegenen Siedlung San Ildefonso sorgte die Army. Die Pueblofrauen mit ihren Wildlederstiefeln, den bunten Schals, dem Türkis- und Silberschmuck, die als Hausangestellte arbeiteten, waren ein vertrauter Anblick in der Siedlung. In Los Alamos lebte immer ein ungewöhnlich hoher Anteil an Singles, und die Army schaffte es natürlich nicht immer, die Geschlechter getrennt zu halten. Einmal verfügte die Militärpolizei die Schließung eines Frauenwohnheims und die Entlassung seiner Bewohnerinnen. Weinend kamen die Frauen zu Robert Wilson, dem damaligen Vorsitzenden des Stadtrats, unterstützt von einer entschlossenen Gruppe Junggesellen: Der Stadtrat solle die Entscheidung anfechten. »Wie es aussah, hatten die Mädchen ein florierendes Geschäft aufgezogen, um den Bedürfnissen unserer jungen Männer gegen Bezahlung entgegenzukommen. Die Army zeigte Verständnis, als es jedoch zu Krankheiten kam, schritten sie ein.« Der Stadtrat fand, man müsse das Ganze, da nur wenige Frauen diesem Gewerbe nachgingen, nicht aufbauschen, aber für bessere Hygiene sorgen. Das Wohnheim wurde nicht geschlossen. 567


Die meisten Ehefrauen in Los Alamos kamen mit dem extremen Klima, der Abgeschiedenheit und dem Tagesablauf auf der Mesa erstaunlich gut zurecht. Kitty Oppenheimer dagegen fühlte sich zunehmend eingesperrt. Sie sah, was Los Alamos ihrem Mann bedeutete, und sie gönnte ihm das – aber sie selbst, eine kluge Frau, Botanikerin mit eigenen beruflichen Ambitionen, fühlte sich im Abseits. Nach einem Jahr Blutkörperchenzählen für Dr. Hempelmann gab sie den Posten auf. Auch sozial fühlte sie sich isoliert. War sie guter Laune, konnte sie durchaus charmant und herzlich sein, zu Freunden wie zu Fremden. Aber jeder merkte bald, dass sie auch scharfe Kanten hatte. Oft erschien sie verkrampft und unglücklich. Sie verstand sich auf den »small talk« bei geselligen Ereignissen, suchte aber, wie Pat Sherr erzählte, doch eher »big talk«. Priscilla Greene Duffields Stellung als Oppenheimers Sekretärin erlaubte es ihr, auch Kitty näher zu beobachten: »Sie war eine sehr intensive, sehr intelligente, sehr vitale Person«, im Umgang aber oft auch »sehr schwierig«. 568 Auch Pat Sherr, Nachbarin und Ehefrau eines Physikers, war zunächst sehr angetan von Kittys Persönlichkeit: »Sie zeigte sich sehr aufgekratzt und fröhlich, und es ging viel Wärme von ihr aus. Später spürte ich, dass diese Wärme nicht wirklich anderen Menschen galt, sondern mit ihrem unglaublichen Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zuneigung zu tun hatte.«

Wie Robert neigte auch Kitty Oppenheimer dazu, Menschen mit Geschenken zu überhäufen. Als sich Pat Sherr einmal über den Kerosinofen in ihrer Hütte beklagte, schenkte ihr Kitty einen alten Elektroofen. »Mit ihren Geschenken wickelte sie mich total ein.« Andere Frauen empfanden Kittys wechselhaftes Verhalten oft als fast beleidigend. Auch viele Männer empfanden dies, obwohl sich Kitty in männlicher Gesellschaft wohler zu fühlen schien. »Aber sie ist auch eine der wenigen Frauen, über die ich Männer – und sehr nette Männer – als von einer ›Bitch‹ reden hörte.« Doch sie wusste auch, dass ihr Chef seiner Frau vertraute und sie bei allen möglichen Gelegenheiten um ihre Meinung fragte. »Er bewertete ihr Urteil ebenso hoch wie das anderer, deren Rat er einholte.« Wie sich ein enger Freund erinnerte, hatte Kitty keine Bedenken, ihren Mann zu unterbrechen: »Aber ihm schien das nichts auszumachen.«


Anfang 1945 brachte Priscilla Greene Duffield ein Kind zur Welt, und Oppenheimer brauchte eine neue Sekretärin. Groves präsentierte ihm mehrere erfahrene Sekretärinnen, aber Oppenheimer konnte sich für keine entscheiden, bis er eines Tages erklärte, er wolle Anne T. Wilson, eine hübsche Zwanzigjährige, blond und blauäugig, die er in Groves’ Büro in Washington kennengelernt hatte. Oppenheimer »blieb vor meinem Schreibtisch stehen, der sich direkt vor der Tür des Generals befand, und unterhielt sich mit mir. Ich war wie vom Donner gerührt, denn da stand nun plötzlich diese legendäre Figur vor mir, zu deren Ruf unter anderem gehörte, dass alle Frauen weiche Knie bekamen, wenn sie ihn sahen.« Wilson, geschmeichelt von seiner Frage, erklärte sich bereit, nach Los Alamos zu kommen. Bevor sie abreiste, machte ihr John Lansdale, Groves’ Mann für die Gegenspionage, ein Angebot: Er werde ihr 200 Dollar monatlich zahlen, wenn sie ihm jeden Monat einen Brief schriebe und berichtete, was sich in Oppenheimers Büro zutrage. Schockiert lehnte sie rundweg ab: »Ich sagte: Lansdale, ich möchte, dass Sie so tun, als hätten Sie so etwas nie zu mir gesagt.«

Als sie in Los Alamos eintraf, erfuhr sie, dass Oppenheimer mit Windpocken und starkem Fieber im Bett lag. »Unser dünner asketischer Direktor«, so die Frau eines Physikers, »wirkte mit seinen fiebrigen Augen, die aus einem mit roten Flecken und Bartstoppeln bedeckten Gesicht starrten, wie das Bildnis eines Heiligen aus dem 15. Jahrhundert.« 569 Bald nachdem er wiederhergestellt war, lud Oppenheimer Anne Wilson auf einen Cocktail in sein Haus. Wie üblich servierte der Gastgeber einen und dann noch einen seiner berühmten Martinis, und da sie sich noch nicht an die Höhe gewöhnt hatte, stieg ihr die starke Mixtur schnell zu Kopf. Den Heimweg habe sie nur in Begleitung geschafft.

Anne Wilson war fasziniert von ihrem charismatischen Chef, bewunderte ihn über alles, ein weitergehendes Interesse an dem verheirateten, doppelt so alten Mann hatte sie nicht. Dennoch, sie war eine schöne junge Frau, klug und nicht auf den Mund gefallen. Mehrere Wochen lang bekam die Neue von einem Blumengeschäft in Santa Fe alle drei Tage eine einzelne Rose – ohne Karte. »Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte, ich lief herum, und in meiner kindlichen Art erzählte ich allen: Ich habe einen unbekannten Liebhaber. Wer schickt mir nur diese herrlichen Rosen? Ich habe es nie herausgefunden. Schließlich sagte jemand: Es gibt nur einen, der so was tut, und das ist Robert. Nein, sagte ich, das ist lächerlich.« Wie es in so einer kleinen Stadt schnell geschieht, kursierten bald Gerüchte über eine Affäre zwischen Oppenheimer und der Wilson. Dazu aber sei es, wie sie sagte, nie gekommen: »Ich war einfach zu jung, um mich in ihn zu verlieben. Wahrscheinlich dachte ich damals, ein Mann mit vierzig ist ein alter Mann.« Es konnte nicht ausbleiben, dass auch Kitty Oppenheimer von den Gerüchten hörte, und eines Tages ging sie zu Anne Wilson und fragte sie geradeheraus, ob sie irgendwelche Absichten hege. Anne war perplex: »Sie kann mein Erstaunen nicht missverstanden haben.«

Im folgenden Jahr heiratete Anne, Kitty entspannte sich, und die beiden wurden gute Freundinnen. Wenn Robert wirklich etwas für Anne empfand, dann war die anonyme Rose eine stilvolle, feine Geste. Er gehörte nicht zu den Männern, die auf sexuelle Eroberungen aus sind. Wie Wilson selbst beobachtete, machte Oppenheimer »einen starken Eindruck« auf Frauen: »Er war wirklich ein Frauentyp. Das konnte ich sehen und habe es auch immer wieder gehört.« Zugleich aber sei er scheu gewesen, wie von einer anderen Welt. »So enorm einfühlsam, ich glaube, das war das Geheimnis, darum flogen Frauen auf ihn. Es war fast, als könne er Gedanken lesen – das haben mir viele Frauen gesagt. Es gab Schwangere in Los Alamos, die sagten: Der Einzige, der uns versteht, ist Robert. Er war ungeheuer einfühlsam.« Und selbst wenn er sich zu anderen Frauen hingezogen fühlte, blieb er ein hingebungsvoller Ehemann. »Sie waren sich ganz nahe«, sagte auch Hempelmann über Kitty und Robert Oppenheimer, »wann immer er konnte, kam er abends nach Hause. Ich glaube, sie war stolz auf ihn, hätte aber selbst gern mehr im Mittelpunkt gestanden.«


Das Sicherheitsnetz, das Oppenheimer umgab, erfasste natürlich auch seine Frau. Bald begann Oberst Lansdale sie vorsichtig auszufragen. Er ging geschickt und einfühlsam vor und war rasch überzeugt, dass Kitty ihm wichtige Informationen über ihren Mann verschaffen könnte. »Ihre Vergangenheit war nicht ganz sauber«, gab er später zu Protokoll, »deshalb nutzte ich, sooft ich konnte, die Gelegenheit, mit Mrs. Oppenheimer zu reden.« Sie habe ihm Martinis angeboten, sie sei eben »nicht die Art Frau, die Tee serviert«, vielmehr »eine starke Frau mit starken Überzeugungen …« Im Laufe ihrer Gespräche, die sich um alles Mögliche drehten, sei ihm klar geworden, dass Kittys stärkste Loyalität ihrem Mann galt. Er habe auch gespürt, dass sie ihre Rolle zwar höflich spielte, aber »sie hasste mich und alles, was ich vertrat«. 570 Die weitschweifigen Gespräche wurden zu einer Art Tanz. »Wie wir in unserem Kauderwelsch sagen, sie wollte mich aufs Kreuz legen, so wie auch ich sie hereinlegen wollte«, sagte Lansdale später. »Ich war mir sicher, dass sie eine Kommunistin gewesen ist, und unsicher, ob sich ihre theoretischen Überzeugungen seither wesentlich geändert hatten. … Es war ihr gleichgültig, was ich über ihr Leben vor der Bekanntschaft mit Oppenheimer wusste oder wie ich darüber dachte. Allmählich sah ich ein, dass nichts in ihrer Vergangenheit, auch der frühere Gatte nicht, ihr im Vergleich zu Oppenheimer etwas bedeutete. Ich kam zu der Überzeugung, dass er ihr mehr bedeutete als der Kommunismus und dass ihr auch seine Zukunft wichtiger war als irgendeine Partei. Diesen Gedanken versuchte sie mir mit allen Mitteln einzuflößen, und es gelang ihr.« 1954 sagte er in einem Kreuzverhör unter Eid: »Ich glaube, dass ihre Charakterstärke, besser vielleicht Willensstärke, so starken Einfluss hatte, dass sie Doktor Oppenheimer von dem fernhalten konnte, was wir gefährliche Gesellschaft nannten.« 571 Innerhalb des Stacheldrahtzauns fühlte sich Kitty manchmal, als lebe sie unter einem Mikroskop.


Im PX der Army konnte man Lebensmittel und manches andere oft nur auf Bezugsschein bekommen. Im Kino waren pro Woche zwei Filme zu sehen, für nur 15 Cent Eintritt. Die medizinische Versorgung war kostenlos. Daher bekamen viele junge Paare Kinder – im ersten Jahr wurden etwa achtzig Geburten verzeichnet, danach ungefähr zehn pro Monat –, und das kleine Krankenhaus mit nur sieben Zimmern hieß bald »RFD« für »rural free delivery« (»kostenloses Landentbindungsheim«). Als sich General Groves über die vielen Babys beklagte, gab Oppenheimer zurück, ein wissenschaftlicher Direktor sei nicht für Geburtenkontrolle zuständig. 572 Das galt auch für die Oppenheimers, denn zu diesem Zeitpunkt war auch Kitty wieder schwanger. Am 7. Dezember 1944 brachte sie in der Barackenklinik von Los Alamos eine Tochter zur Welt, die sie Katherine und mit Kosenamen »Tyke« nannten. »Oppenheimer« stand auf einem Schild über dem Bettchen, und mehrere Tage lang defilierten Neugierige vorbei, um einen Blick auf das Töchterchen ihres Chefs zu werfen. 573

Vier Monate später kündigte Kitty Oppenheimer an, sie müsse »sofort nach Hause fahren, um ihre Eltern zu besuchen«. Ob wegen einer postnatalen Depression, wegen zu vieler Martinis oder wegen des Zustands ihrer Ehe – Kitty war am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Pat Sherr glaubte, das habe »damit begonnen, dass sie zu viel trank«. Zudem seien Kitty und Robert mit ihrem zwei Jahre alten Sohn nicht gut zurechtgekommen. Kleinkinder seien anstrengend, Kitty jedoch, so Pat Sherr, eine ausgebildete Psychologin, sei »sehr, sehr ungeduldig mit ihm« gewesen, ihr fehlte »jedes Verständnis für Kinder«. Impulsiv und sprunghaft konnte Kitty, wie ihre Schwägerin Jackie erzählte, durchaus zu einer »mehrtägigen Einkaufsreise« verschwinden, »nach Albuquerque oder sogar an die Westküste, und die Kinder einem Dienstmädchen überlassen«. Wenn sie zurückkam, brachte sie Peter ein riesengroßes Geschenk mit: »Sie muss sich schuldig und sehr unglücklich gefühlt haben, die arme Frau.« 574


Im April 1945 reiste Kitty nach Pittsburgh und nahm Peter mit. Ihr vier Monate altes Töchterchen ließ sie in der Obhut ihrer Freundin Pat Sherr, die gerade eine Fehlgeburt erlitten hatte. Dr. Henry Barnett, der Kinderarzt von Los Alamos, glaubte, es werde Pat gut tun, wenn sie sich um ein Kind kümmerte. So kam »Tyke« – oder Toni, wie sie später genannt wurde – ins Haus der Sherrs. Kitty und der kleine Peter blieben dreieinhalb Monate weg, bis in den Juli 1945 hinein. Robert arbeitete bis spät in die Nacht und kam nur zweimal die Woche, um sein Töchterchen zu sehen. 575

Die Belastung, der Oppenheimer in diesen zwei unglaublich intensiven Jahren ausgesetzt war, verlangte ihren Preis. Körperlich war dies nicht zu übersehen: Er hustete unausgesetzt, wog nur noch 52 Kilo, der ein Meter achtundsiebzig große Mann war nur mehr Haut und Knochen. Seine Energie ließ nicht nach, aber er schien buchstäblich zu schwinden, Tag für Tag ein bisschen mehr. Größer, wenn auch weniger sichtbar war der psychische Preis, den er zu zahlen hatte. Robert hatte sein Leben lang mit seelischen Spannungen zu kämpfen. Aber seit Tykes Geburt und Kittys Abreise war er noch empfindlicher als sonst. Dazu Pat Sherr: »Es war alles sehr seltsam. Er kam, setzte sich und unterhielt sich mit mir, das Baby wollte er nicht sehen. Es hätte sonst wo sein können, nie fragte er nach ihm. Schließlich sagte ich: Möchtest du deine Tochter denn gar nicht sehen? Sie ist schon ordentlich gewachsen. Er sagte nur: Ja, ja.« Zwei Monate vergingen, und eines Abends habe Robert gesagt: »Dir ist Tyke wohl sehr lieb geworden?« Sie antwortete in sachlichem Ton: »Ja, ich mag Kinder, und wenn man sich um ein Baby kümmert, ob es nun das eigene ist oder das von jemand anderem, wird es Teil des eigenen Lebens.« Und dann – sie habe ihren Ohren nicht getraut – hörte sie Oppenheimer fragen: »Möchtest du sie nicht adoptieren?«

»Auf keinen Fall, sie hat zwei wunderbare Eltern.« Warum er denn so etwas sage?

Robert: »Weil ich sie nicht lieben kann.«

Sherr beruhigte ihn: Solche Gefühle seien nicht ungewöhnlich, wenn Eltern von ihrem Kind getrennt seien; doch bald werde auch er an seinem Kind hängen.

»Nein, ich bin keiner, der an etwas hängt.«

Ob er darüber mit Kitty gesprochen habe?

»Nein, nein, nein, ich habe mir erst ein Urteil über deine Gefühle gebildet, denn es ist sehr wichtig für dieses Kind, dass es ein liebevolles Heim hat. Und das hast du ihm gegeben.«

Sherr war peinlich berührt und empört. Und umso überraschter, als sie merkte, dass hinter dieser absurden Idee wahre Gefühle und Zweifel standen. »Ich hielt ihn für einen sehr gewissenhaften Menschen, und dass er so etwas zu mir sagen konnte … er war sich seiner Gefühle sehr bewusst, und er fühlte sich schuldig, wollte, dass dieses Kind eine Chance bekam, die er ihm nicht geben konnte.«

Als Kitty Oppenheimer schließlich im Juli 1945 nach Los Alamos zurückkehrte, überschüttete sie Pat Sherr auf ihre typische Art mit Geschenken. Die Stimmung in Los Alamos fand sie sehr gespannt. Die Männer arbeiteten noch länger, die Frauen fühlten sich noch isolierter als zuvor. Kitty machte es sich zur Gewohnheit, täglich ein paar Frauen zum Cocktail einzuladen. Jackie Oppenheimer, die 1945 nach Los Alamos kam, berichtete darüber. »Es war bekannt, dass wir uns nicht gut verstanden, aber sie schien darauf versessen, dass wir zusammen gesehen wurden. Einmal lud sie mich zu Cocktails ein – um vier Uhr nachmittags. Als ich eintraf, waren nur Kitty und vier oder fünf andere Frauen da – Trinkgenossinnen –, und wir saßen herum und redeten kaum – wir tranken bloß. Es war furchtbar. Ich ging nie wieder hin.« 576

Damals, so Pat Sherr, habe sie Kitty nicht für eine Alkoholikerin gehalten. »Sie trank schon, nahm um vier ihren ersten Cocktail und dann noch ein paar mehr, aber sie redete immer klar.« Später wurde das Trinken ein Problem für Kitty, aber sie trank, wie Hempelmann sagte, »nicht mehr als alle anderen in Los Alamos auch«. Alkohol floss reichlich auf der Mesa, und mit den Monaten litten viele unter der Abgeschiedenheit der Siedlung. »Anfangs hatten wir alle viel Spaß«, sagte Hempelmann, »aber dann wurden die Leute müde und nervös und reizbar, das war nicht so gut. Man saß einander auf der Pelle.«


Abwechslung brachten die regelmäßigen Nachmittagsausflüge nach Santa Fe, erlaubt waren auch die Abendessen in Edith Warners Lehmhaus in Otowi – dem »Ort, an dem das Wasser Lärm macht« – am Rio Grande, etwa 30 Kilometer die gewundene Straße hinunter. 577 Oppenheimer hatte Edith Warner kennengelernt, als er mit Frank und Jackie vom Frijoles Canyon aus mit Packpferden unterwegs gewesen war; eines der Pferde brach aus, und Oppenheimer jagte hinter ihm her. So kam er zu »Miss Warners Teehaus«. Die damals dreißigjährige Tochter eines Geistlichen aus Philadelphia war 1922, nach einem Nervenzusammenbruch, das erste Mal auf die Pajarito-Hochebene gekommen. Zusammen mit ihrem Lebensgefährten, einem älteren Indianer namens Atilano Montoya – im Pueblo Tilano genannt –, führte sie auf der rauen Mesa ein einfaches Leben. Die Teestube für Durchreisende betrieb sie in ihrem Wohnhaus. 578

Eines Abends, kurz nachdem Oppenheimer auf die Mesa gezogen war, führte er General Groves in die Teestube an der Otowi Bridge. Seit die Ranch School geschlossen und das Benzin wegen des Krieges rationiert war, kamen nicht mehr viele Touristen, und Edith Warner wusste nicht, wie sie ihr Haus halten sollte. Beim Tee kam Groves auf die Idee, ihr die Leitung der Lebensmittelversorgung für The Hill anzubieten, ein umfangreicher und gut bezahlter Auftrag. Edith wollte es sich überlegen. Sie verabschiedeten sich, Robert ging mit Groves zum Auto, kehrte aber noch einmal um und klopfte an Ediths Tür. Mit dem Hut in der Hand, den Mondschein im Gesicht, habe er gesagt: »Tun Sie es nicht.« Damit habe er sich abrupt umgedreht und sei zurück zum Auto gegangen. 579

Einige Tage später erschien Oppenheimer wieder vor Miss Warners Tür und fragte sie, ob sie nicht wöchentlich drei kleine Abendessen, für nicht mehr als zehn Gäste, ausrichten wolle. Damit würde sie den Wissenschaftlern eine kleine Ablenkung vom Leben auf The Hill verschaffen und zugleich einen wirklichen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen leisten. Groves hatte seine Zustimmung gegeben – und für Edith war diese Idee ein Geschenk des Himmels. »Seit April«, schrieb sie Ende des Jahres, »kamen die X’s einmal pro Woche von Los Alamos zum Essen herunter, andere schlossen sich an.« Nachdem sie den ganzen Tag gekocht hatte, setzte sie sich an die Spitze des langen, handgefertigten Holztischs in der Mitte des Esszimmers mit seinen gekalkten Lehmwänden und niedrigen, von Hand behauenen Balken. Die einundfünfzigjährige »Miss Warner« verwöhnte ihre »hungrigen Wissenschaftler« bei Kerzenlicht mit reichlichen Portionen von köstlichem Lammragout, serviert auf indianischen schwarzen Keramiktellern und in Schüsseln der einheimischen Töpferin Maria Martinez. Anschließend setzten sich die Gäste noch kurz an den Kamin, um sich für die lange Rückfahrt hinauf zur Mesa aufzuwärmen. Für einen solchen stimmungsvollen Abend im von Kerzenlicht erleuchteten Lehmhaus verlangte Edith Warner die symbolische Summe von zwei Dollar pro Kopf. Von ihren geheimnisvollen Gästen wusste sie nur, dass sie »an einem geheimen Projekt arbeiteten. … In Santa Fe nennen sie es einen U-Bootstützpunkt – na ja, ist so wahrscheinlich wie alles andere«. Anfang 1944 brachte Oppenheimer den dänischen Nobelpreisträger Niels Bohr mit und stellte ihn Edith Warner als »Mr. Nicholas Baker« vor – ein Deckname, der Bohr auf Veranlassung Oppenheimers zugewiesen worden war. Allgemein hieß der sanfte bescheidene Däne nur »Uncle Nick«. Miss Warner entwickelte eine fast mystische Hochachtung für Bohr und Oppenheimer: »Er [Bohr] hat eine große Stille in sich, eine ruhige unerschöpfliche Quelle. … Robert ist auch so ein Mensch.« 580

Bohr war nicht die einzige prominente Persönlichkeit, die an Miss Warners Tisch speiste. Doch nur eine gerahmte Fotografie hing über ihrer Garderobe aus Philadelphia, das Foto Oppenheimers. Phil Morrison hat gewiss auch im Namen Oppenheimers gesprochen, als er Ende 1945 in einem langen Dankesbrief für die vielen Abende, die er bei ihr verbracht hatte, schrieb: »Zu den schönsten Seiten des Lebens, das wir dort führten, zählten nicht zuletzt Sie, Miss Warner. Die Abende in Ihrem Haus am Fluss, an Ihrem so sauber gedeckten Tisch und Ihrem kunstvollen Kamin gaben uns etwas von Ihrer Zuversicht, gaben uns ein Stück Heimat und entführten uns aus unseren grünen Behelfshäusern und von unseren planierten Straßen. Wir werden Sie nie vergessen. … Ich bin so froh, dass es am Fuß unserer Cañons einen Ort gibt, an dem Bohrs Geist so gut verstanden wird.« 581