Um die Atombombe zu bauen, hätten sie mich nicht gebraucht.
Niels Bohr
Der »Wettlauf« um die Atombombe kam mehr oder weniger auf Umwegen in Gang. Einige Wissenschaftler, fast alle Emigranten aus Europa, gerieten 1939 in Panik, als sich die Möglichkeit abzeichnete, dass ihre früheren Kollegen in Deutschland die Entdeckung der Kernspaltung als Erste für militärische Zwecke nutzen könnten. Sie wiesen eindringlich auf die Gefahr hin, die amerikanische Regierung berief daraufhin Konferenzen ein und finanzierte kleinere Atomforschungsvorhaben; wissenschaftliche Komitees wurden eingesetzt, erstellten Studien und Berichte. Erst im Frühjahr 1941, über zwei Jahre nach der Entdeckung der Kernspaltung in Deutschland, entwickelten Otto Frisch und Rudolph Peierls, emigrierte deutsche Physiker, die in Großbritannien arbeiteten, ein Konzept, mit dem es möglich schien, eine Atombombe rechtzeitig für einen Einsatz im Krieg zu bauen. Von diesem Zeitpunkt an hatten alle, die am amerikanisch-britisch-kanadischen Atombombenprojekt arbeiteten, nur ein Ziel: Sie wollten den tödlichen Wettlauf gewinnen. 582 Gedanken darüber, welche Folgen die atomare Bewaffnung für die Welt nach dem Krieg haben könnte, hatte sich bis Dezember 1943, als Niels Bohr nach Los Alamos kam, niemand gemacht.
Oppenheimer war hocherfreut, Bohr an seiner Seite zu wissen. Der siebenundfünfzigjährige dänische Physiker war in der Nacht des 29. September 1943 an Bord einer Motorbarkasse aus Kopenhagen herausgeschmuggelt worden. Das Boot erreichte die schwedische Küste ohne Zwischenfälle, und Bohr wurde nach Stockholm gebracht. Weil, wie es hieß, deutsche Agenten einen Mordanschlag auf ihn planten, wurde er am 5. Oktober im Bombenschacht einer britischen Mosquito ohne Hoheitszeichen versteckt. Er überstand die gefährliche Reise – als die Maschine in Schottland landete, sagte er, er habe gut geschlafen. Tatsächlich war er wegen des Sauerstoffmangels ohnmächtig geworden, die Anweisung, eine Sauerstoffmaske aufzusetzen, hatte er überhört.
Auf dem Flugplatz wurde er von seinem Freund und Kollegen James Chadwick begrüßt, anschließend nach London gebracht und in das britisch-amerikanische Bombenprojekt eingeweiht. Seit 1939 war Bohr nicht nur bewusst, dass die Entdeckung der Kernspaltung auch den Bau einer Atombombe möglich gemacht hatte, sondern auch, dass es nur mit großem technischem Aufwand möglich war, genügend spaltbares Uran-235 zu gewinnen. Nun erfuhr er, dass die Amerikaner ihre enormen industriellen Kapazitäten für genau diesen Zweck einsetzen wollten. »Bohr kam das alles absolut phantastisch vor«, schrieb Oppenheimer später. 583
Eine Woche nach seiner Ankunft in London traf Bohr mit seinem einundzwanzigjährigen Sohn Aage zusammen, einem vielversprechenden Physiker, der später ebenfalls den Nobelpreis erhalten sollte. In den folgenden sieben Wochen wurden Vater und Sohn über alle Einzelheiten von »Tube Alloys«, wie das Bombenprojekt mit britischem Codenamen hieß, informiert. Bohr erklärte sich bereit, für die Briten als Berater tätig zu werden, und wurde in dieser Funktion nach Amerika entsandt. Anfang Dezember gingen er und sein Sohn an Bord eines Schiffes nach New York. General Groves war nicht glücklich über Bohrs Beteiligung, aber angesichts des hohen Ansehens, das der Däne in Physikerkreisen genoss, genehmigte er widerstrebend Bohrs Besuch in der geheimnisvollen »Site Y« in der Wüste New Mexicos. 584 Geheimdienstberichte, die Bohr als unsicheren Kandidaten darstellten, hatten Groves’ Unwillen geweckt. Tatsächlich konnte am 9. Oktober 1943 jedermann in der New York Times lesen, der dänische Physiker sei »mit Plänen für eine neue Erfindung zur Herbeiführung von atomaren Explosionen« nach London gekommen. Groves geriet außer sich, konnte aber nichts anderes tun, als Bohr scharf im Auge zu behalten – ein, wie sich zeigte, hoffnungsloses Unterfangen. Der Mann ließ sich nicht zügeln. In Dänemark war er einfach zum Tor des Palastes gegangen und hatte geklopft, wenn er den König sprechen wollte. Nicht anders in Washington. Er besuchte den britischen Botschafter Lord Halifax sowie Felix Frankfurter, den Richter am Obersten Gerichtshof und engen Vertrauten Präsident Roosevelts. Was er diesen Männern zu sagen hatte, war deutlich: Der Bau der Atombombe sei ausgemachte Sache; eben darum müsse man sich nun auch Gedanken darüber machen, was passieren würde, wenn es sie gäbe. Seine größte Befürchtung war, dass es zu einem nuklearen Wettrüsten zwischen dem Westen und der Sowjetunion kommen würde. Um das zu verhindern, sei es unbedingt nötig, die Russen über das Bombenprojekt zu informieren und ihnen zu versichern, dass es nicht gegen sie gerichtet sei. 585
Eine Horrorvorstellung für einen Mann wie Groves, der nun alles daransetzte, Bohr nach Los Alamos zu bugsieren, wo er den gesprächigen Physiker zu isolieren gedachte. Schon auf der Reise begann er damit: Der General selbst begleitete Bohr und seinen Sohn auf der Zugfahrt von Chicago. Mit von der Partie war Richard Tolman vom Caltech, Groves’ wissenschaftlicher Berater. Er und Groves hatten vereinbart, den dänischen Besucher abwechselnd zu bewachen, um sicherzugehen, dass er sich nicht aus dem Abteil fortbewegte. Nach einer Stunde mit Bohr jedoch kam Tolman erschöpft zu Groves: »General, ich halte das nicht länger aus. Ich gebe auf, Sie sind der Soldat, übernehmen Sie.« Nun also musste Groves Bohrs charakteristischem »murmelnden Geflüster« zuhören. Vergeblich versuchte er, Bohr zu unterbrechen und ihm die Bedeutung der Arbeitsteilung im Projekt zu erläutern. Das war im Grunde überflüssig, denn Bohr wusste über das Manhattan-Projekt Bescheid, und ihn interessierte viel mehr, welche Folgen die Wissenschaft für die Gesellschaft und die internationalen Beziehungen haben würde. Zudem hatte er bereits im September 1941 seinen ehemaligen Studenten Werner Heisenberg getroffen, der nun das deutsche Atombombenbauprojekt leitete. So wurde Groves über das deutsche Projekt informiert. Er wollte aber auf keinen Fall, dass Bohr mit anderen darüber sprach. »Zwölf Stunden lang habe ich auf ihn eingeredet, um ihm klarzumachen, was er nicht sagen dürfe.« 586
Am späten Abend des 30. Dezember 1943 trafen sie in Los Alamos ein und begaben sich direkt zu Oppenheimer, der einen kleinen Empfang zu Ehren Bohrs organisiert hatte. Später beschwerte sich Groves, dass Bohr schon »fünf Minuten nach seiner Ankunft alles sagte, was er versprochen hatte, nicht zu sagen«. Bohrs erste Frage an Oppenheimer war: »Ist sie wirklich groß genug?« – mit andern Worten: würde die neue Waffe so mächtig werden, dass zukünftige Kriege undenkbar würden? Oppenheimer verstand die Frage sofort. Seit über einem Jahr hatte er seine ganze Energie auf die administrativen Details für Aufbau und Betrieb des neuen Labors gerichtet; in den nächsten Tagen und Wochen jedoch wurde er von Bohr intensiv mit der Frage konfrontiert, welche Folgen die Bombe für die Nachkriegszeit haben würde. »Deshalb bin ich nach Amerika gegangen«, sagte Bohr später, »um die Atombombe zu bauen, hätten sie mich nicht gebraucht.« An diesem Abend berichtete Bohr Oppenheimer, dass Heisenberg intensiv an einem Uranreaktor arbeite, der eine kontinuierliche Kettenreaktion und damit eine ungeheure Explosion herbeiführen könnte. Daraufhin berief Oppenheimer für den nächsten Tag, den letzten Tag des Jahres 1943, eine Sitzung ein, um über Bohrs Sorgen zu sprechen. 587
Bohr berichtete, dass sein brillanter deutscher Schützling eine Sondererlaubnis des NS-Regimes erhalten hatte, um an einer Tagung im deutsch besetzten Kopenhagen teilzunehmen. Heisenberg sei kein Nationalsozialist, aber ein deutscher Patriot, der bewusst in Deutschland geblieben sei. Zweifellos sei er der hervorragendste deutsche Physiker, insofern komme, wenn die Deutschen denn ein Atombombenprojekt hatten, für dessen Leitung nur Heisenberg in Frage. Tatsächlich haben sich Bohr und Heisenberg in Kopenhagen getroffen; was sich die beiden Freunde allerdings zu sagen hatten, wird wohl auf ewig ein Rätsel bleiben. Heisenberg behauptete später, er habe vorsichtig das Uranproblem angesprochen und die Vermutung geäußert, dass eine Kernwaffe im Prinzip machbar sei, nur sei damit »ein ungeheurer technischer Aufwand verbunden, der, so kann man nur hoffen, in diesem Krieg nicht zu leisten ist«. Er habe damit andeuten wollen, aber – aus Furcht vor deutscher Überwachung und Angst um sein Leben – nicht ausdrücklich gesagt, dass er und andere deutsche Physiker das NS-Regime von der Unmöglichkeit überzeugen wollten, eine solche Waffe für den Einsatz noch in diesem Krieg zu bauen. 588
Wenn Heisenberg eben das mitteilen wollte, dann hatte Bohr nicht zugehört. Er hat nur verstanden, dass es Deutschlands führender Physiker für möglich hielt, eine Atomwaffe zu bauen, und wenn dies gelänge, entschiede die Bombe den Krieg. Beunruhigt und verärgert hat Bohr das Gespräch nach kurzer Zeit beendet. Später allerdings räumte auch Bohr ein, ihm sei nicht ganz klar gewesen, was Heisenberg ihm habe andeuten wollen.1 589 Der Inhalt des Gesprächs der beiden Physiker ist noch immer umstritten. Oppenheimer schrieb später etwas kryptisch: »Bohr hatte den Eindruck, dass sie [Heisenberg und sein Kollege Carl Friedrich von Weizsäcker] weniger gekommen waren, um zu berichten, was sie wussten, als vielmehr um herauszufinden, ob Bohr etwas wusste, was sie nicht wussten. Ich glaube, es kam zu einem Unentschieden.« 590 Eines jedoch ist klar: Bohr verließ dieses Gespräch mit der Angst, die Deutschen würden den Krieg mit einer Atomwaffe beenden. Und eben dies teilte er Oppenheimer und seinem Wissenschaftlerteam in New Mexico mit. Er verwies nicht nur darauf, dass Heisenberg die Existenz eines deutschen Bombenprojekts bestätigt hatte, sondern brachte auch die Zeichnung einer Bombe mit, die angeblich von Heisenberg stammte. Ein Blick darauf genügte den Anwesenden jedoch, um zu sehen, dass es sich nicht um eine Bombe handelte: »Mein Gott«, sagte Bethe, »die Deutschen wollen einen Atomreaktor auf London werfen.« Zwar war die Nachricht, dass die Deutschen tatsächlich eine Atomwaffe bauen wollten, besorgniserregend, beruhigend aber war, zu erfahren, dass sie offenbar einen ziemlich unpraktikablen Weg gewählt hatten. Nach dem Gespräch war auch Bohr davon überzeugt, dass eine solche »Bombe« nicht funktionieren würde. Am nächsten Tag schrieb Oppenheimer an Groves, ein explodierender Uranmeiler sei »eine ziemlich nutzlose Waffe«. 591
Wie die Geschichte gezeigt habe, war es, so Oppenheimer, »auch für gescheite Menschen einfach nicht zu verstehen, wovon Bohr sprach«. 592 Doch ähnlich wie Bohr sagte auch Oppenheimer, was er sagen wollte, nicht immer klar und deutlich. In Los Alamos entstand hin und wieder der Eindruck, die beiden ahmten einander nach. »Es war wunderbar mit Bohr in Los Alamos«, schrieb Oppenheimer, »er zeigte ein lebhaftes Interesse an technischen Fragen. Aber für die meisten von uns war seine eigentliche Funktion nicht technischer Art.« Bohr sei quasi in einer Geheimmission gekommen, er wollte die politische Frage in den Vordergrund rücken, herausfinden, wie sich die Wissenschaft politischen Problemen und Fragen der internationalen Beziehungen öffnen könne. Darin sah er die einzige Hoffnung, ein atomares Wettrüsten in der Nachkriegszeit zu verhindern. Und Oppenheimer war bereit, diese Botschaft aufzunehmen. Im Lauf der Monate war er immer weniger als theoretischer Physiker tätig gewesen, war immer mehr zum Wissenschaftsorganisator geworden. Das hatte ihn intellektuell ausgehungert. Als nun Bohr auf der Mesa erschien und auf philosophische Weise über die Folgen des Projekts für die Menschheit sprach, fühlte sich Oppenheimer wie verjüngt. Er versicherte Groves, Bohrs Präsenz sei eine große moralische Stütze für das Team. Bis dahin, schrieb er später, sei ihm die Arbeit »häufig makaber« vorgekommen. Bohr jedoch »machte uns Hoffnung in Bezug auf das Unternehmen, an dem viele Zweifel hatten«. Er habe sich voller Verachtung über Hitler geäußert und immer wieder hervorgehoben, welche Rolle Wissenschaftler für seine Niederlage spielen konnten. »Wir waren nur allzu bereit, seine große Hoffnung zu teilen, dass alles gutgehen würde, dass Objektivität und die Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaften eine große Hilfe sein könnten.« 593
Zu Victor Weisskopf hatte Bohr gesagt, »diese Bombe ist furchtbar, aber sie ist vielleicht auch die ›Große Hoffnung‹«. In diesem Frühjahr versuchte Bohr, seine Besorgnis zu Papier zu bringen, es entstanden mehrere Entwürfe für eine Denkschrift, die er Oppenheimer zu lesen gab. In einem der Entwürfe, datiert auf den 2. April 1944, äußerte er die Überzeugung, es sei »jetzt schon zu erkennen, dass wir es mit einem der größten Triumphe von Wissenschaft und Technik zu tun haben, einem Triumph, der die Zukunft der Menschheit aufs Tiefste beeinflussen wird«. Schon sehr bald werde es »eine Waffe mit einer unerhörten Zerstörungskraft« geben, »die alle Bedingungen künftiger Kriegsführung völlig verändern wird«. Das war die gute Nachricht, die Bohr mitzuteilen hatte. Die schlechte dagegen, nicht weniger deutlich, war prophetisch: »Wenn nicht rechtzeitig ein Einverständnis über die Kontrolle der Verwendung der neuen aktiven Materialien erzielt wird, dann wird der Preis für einen momentanen Vorteil, so groß dieser auch sein mag, zur ständigen Bedrohung für die Sicherheit der Menschheit werden.« 594
Für Bohr war die Atombombe bereits eine Tatsache – und um die Kontrolle über diese Bedrohung der Menschheit zu behalten, müssten »die internationalen Beziehungen neu geregelt werden«. Im anbrechenden Atomzeitalter werde es für die Menschheit nur dann Sicherheit geben, wenn das Prinzip der Geheimhaltung außer Kraft gesetzt würde. Die »offene Welt«, die Bohr sich vorstellte, war kein utopischer Traum, sie existierte bereits: in Gestalt der internationalen Wissenschaftlergemeinschaft. Ganz pragmatisch sah Bohr in den Labors in Kopenhagen, Cavendish 595 und anderswo bereits Modelle für diese neue Welt. Nur in einer offenen Welt, die auf den Werten der Wissenschaft gründe, könne die internationale Kontrolle der Atomenergie gelingen. Nur eine gemeinschaftliche Kultur wissenschaftlicher Forschung könne Fortschritt, Rationalität und sogar Frieden hervorbringen. »Wissen ist die Grundlage der Kultur«, schrieb er, »[aber] jede Erweiterung der Grenzen unseres Wissens verlangt, aufgrund der Möglichkeiten, die sie für die Organisation der menschlichen Lebensbedingungen mit sich bringt, jedem Einzelnen und den Völkern eine erhöhte Verantwortlichkeit ab.« Daraus folge, dass nach dem Krieg alle Völker die Gewissheit haben müssten, dass kein potentieller Gegner Atomwaffen horte. Auch das sei nur möglich in einer »offenen Welt«, in der internationale Bevollmächtigte ungehindert Zugang zu militärischen und industriellen Anlagen und allen Informationen über neue wissenschaftliche Entdeckungen hätten. Zum Schluss vertrat Bohr die Ansicht, ein solches neues internationales Kontrollsystem ließe sich nach dem Krieg nur dann auf den Weg bringen, wenn die Sowjetunion sofort an atomtechnischen und atompolitischen Planungen beteiligt würde – bevor es die Bombe wirklich gebe und noch vor Kriegsende. Man müsse Stalin über die Existenz des Manhattan-Projekts informieren und ihm versichern, dass es nicht gegen die Sowjetunion gerichtet sei – anders lasse sich ein atomares Wettrüsten in der Nachkriegszeit nicht verhindern. Die einzige Alternative zu einer Welt voller Atomwaffen bestehe darin, möglichst rasch ein Abkommen zwischen den Alliierten zu schließen, das die internationale Kontrolle der Atomenergie nach dem Krieg regele. Mit eben dieser Auffassung hatte Oppenheimer im August 1943, als er Oberst Pash erklärte, er würde es »begrüßen«, wenn der Präsident die Russen über das Bombenprojekt informiere, die Sicherheitsoffiziere in nicht geringe Aufregung versetzt. 596
Niemandem blieb verborgen, welchen Einfluss Bohr auf Oppenheimer hatte. Er »kannte Bohr von früher, und sie standen sich persönlich ziemlich nahe«, erinnerte sich Weisskopf. »Bohr war der Einzige, der über solche politischen und ethischen Probleme mit Oppenheimer ernsthaft diskutiert hat, und wahrscheinlich hat er zu dieser Zeit [Anfang 1944] begonnen, ernsthaft darüber nachzudenken.« Eines Nachmittags in diesem Winter begleiteten Oppenheimer und David Hawkins Bohr zur Fuller Lodge, seinem Gästequartier, als dieser plötzlich unbedingt herausfinden wollte, wie dick das Eis auf dem Ashley Pond war. Der gewöhnlich wagemutige Oppenheimer wandte sich zu Hawkins und rief aus: »Mein Gott, wenn er ausrutscht? Wenn er einbricht? Was soll dann aus uns werden?«
Am nächsten Tag bat Oppenheimer Hawkins in sein Büro, zog einen Ordner aus seinem Sicherheitsschrank und gab ihm einen Brief zu lesen, den Bohr an Franklin Roosevelt geschrieben hatte. Hawkins geht davon aus, dass Oppenheimer großen Wert auf das kostbare Dokument legte und andeuten wollte, »dass Roosevelt das Problem verstanden hat. Das löste große Freude und Optimismus aus. … Es ist schon interessant. Wir alle lebten in Los Alamos bis zum Ende unserer Zeit dort mit der Illusion, dass Roosevelt begriffen hat.« 597
Bohr hatte seine »Kopenhagener Deutung« der Quantenphysik schon länger zu einem philosophischen Prinzip der Weltbetrachtung ausgearbeitet, das er als »Komplementarität« bezeichnete. Er versuchte immer, seine Einsichten in den physikalischen Aufbau der Welt auf die menschlichen Verhältnisse anzuwenden. »Bohr wollte die Idee der Komplementarität nicht auf die Physik begrenzt wissen«, so der Wissenschaftshistoriker Jeremy Bernstein, »sondern er sah sie überall am Werk: Trieb und Vernunft, freier Wille, Liebe und Gerechtigkeit und so weiter.« 598 Verständlicherweise sah er sie auch in Los Alamos am Werk. Das Projekt steckte voller Widersprüche. Dort wurde eine Massenvernichtungswaffe gebaut, mit der man hoffte, den Faschismus schlagen und allen Kriegen ein für alle Mal ein Ende setzen zu können – die aber auch das Ende der Zivilisation bedeuten könnte. Oppenheimer fand Bohrs Ausführungen tröstlich, dass nämlich im Leben Widersprüche (nicht Gegensätze) zusammengehören, also komplementär sind: so wie die beiden Seiten einer Münze nicht gleichzeitig sichtbar sind, aber erst zusammen die Münze ergeben.
Oppenheimer bewunderte Bohr so sehr, dass er es in den kommenden Jahren oft auf sich nahm, dessen Gedanken vielen Menschen verständlich zu machen. Was Bohr mit einer »offenen Welt« meinte, haben nur wenige verstanden, und wenn sie es begriffen, dann erschienen seine Vorschläge vielen Zeitgenossen zu riskant. Im Frühjahr 1944 erhielt Bohr einen Brief, der lange unterwegs war, abgesendet von einem ehemaligen Studenten, dem russischen Physiker Peter Kapitza. Er lud Bohr herzlich ein, nach Moskau zu kommen, »hier würde man alles tun, um Ihnen und Ihrer Familie ein Obdach zu geben, und hier hätten Sie alle Voraussetzungen, um Ihre wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen.« Kapitza übermittelte ihm Grüße anderer ihm bekannter russischer Physiker: Alle wären sie hocherfreut, würde er an ihrer wissenschaftlichen Arbeit teilnehmen. 599 Bohr hielt dies für eine glänzende Gelegenheit und hoffte, Roosevelt und Churchill würden ihm genehmigen, die Einladung anzunehmen.
Da er Kapitza und andere russische Physiker kannte, ging Bohr davon aus, dass sie sehr wohl wussten, welche militärischen Möglichkeiten in der Kernspaltung steckten. Kapitzas Brief glaubte er entnehmen zu können, dass die Sowjets vom britisch-amerikanischen Atomprogramm wussten. Seiner Meinung nach konnte es die Russen nur argwöhnisch machen – mit möglicherweise gefährlichen Folgen –, wenn sie erkannten, dass die neue Waffe ohne sie entwickelt wurde. 600 Auch Physiker aus Los Alamos sahen das so. Robert Wilson erzählte später, er sei Oppenheimer mit der Frage, warum britische, aber keine russischen Physiker in Los Alamos arbeiteten, »auf die Nerven gegangen«: »Für manche von uns war das ein harter Brocken.« Bei Kriegsende war Oppenheimer der gleichen Auffassung, während des Krieges jedoch blieb er vorsichtig: Er wusste, dass er ständig überwacht wurde, und lehnte es daher stets ab, sich auf dieses Thema einzulassen. Entweder habe er gar nicht geantwortet oder nur gebrummt, Wissenschaftler ginge das nichts an. Wilson überlegte sogar, ob Oppenheimer nicht fürchtete, »ich wolle ihn auf die Probe stellen«. 601
Natürlich teilten die Generäle und Politiker, in deren Auftrag die Wissenschaftler arbeiteten, Bohrs Überlegungen keineswegs. General Groves etwa betrachtete die Russen nie wirklich als Verbündete. Ähnliches gilt für Winston Churchill; er geriet außer sich, als ihn der britische Geheimdienst über die Korrespondenz zwischen Kapitza und Bohr unterrichtete. »Wie kommt der dazu?«, schrie er seinen wissenschaftlichen Berater Lord Cherwell an. »Bohr sollte in Gewahrsam genommen, jedenfalls irgendwie darüber belehrt werden, dass er sich am Rande eines Kapitalverbrechens bewegt.« Auch als er Roosevelt und Churchill im Frühjahr und im Sommer 1944 persönlich begegnete, vermochte Bohr die beiden Politiker nicht davon zu überzeugen, dass ein anglo-amerikanisches Monopol auf dem Gebiet der militärischen Nutzung der Atomkraft kurzsichtig sei. 602 Wie Groves später an Oppenheimer schrieb, war Bohr »für alle, die mit ihm zu tun haben, bisweilen ein Dorn im Fleisch …« 603 Merkwürdigerweise aber stieg, während Bohrs Einfluss auf die politische Führung schwand, sein Ruhm unter den Physikern von Los Alamos in neue Höhen. Wieder war Bohr Gott und Oppie sein Prophet.
Aufgeschreckt von dem, was er von Heisenberg über die Möglichkeit einer deutschen Bombe gehört hatte, war Bohr im Dezember 1943 nach Los Alamos gekommen. Er verließ das Labor im Frühjahr 1944, nachdem er aufgrund von Geheimdienstberichten zu der Überzeugung gelangt war, dass die Deutschen höchstwahrscheinlich kein realisierbares Atomprogramm hatten: »… nach allem, was über die Aktivitäten deutscher Wissenschaftler durchsickert, ist es praktisch sicher, dass die Achsenmächte keinen substantiellen Fortschritt gemacht haben.« 604 Wenn Bohr davon überzeugt war, dann wird auch Oppenheimer nicht entgangen sein, dass die deutschen Physiker im Wettlauf um die Bombe aller Wahrscheinlichkeit nach weit zurücklagen. David Hawkins zufolge erfuhr Oppenheimer Ende 1943 von General Groves, dass die Deutschen laut einer deutschen Quelle ihr Bombenprogramm aufgegeben hätten. Groves hielt es für schwierig, diese Nachricht zu bewerten – es könne auch gezielte Desinformation sein. Oppenheimer zuckte nur mit den Schultern. Hawkins kam damals zu der Ansicht, es sei zu spät – die Männer in Los Alamos hätten sich »voll und ganz darauf eingestellt, eine Atombombe zu bauen, ganz unabhängig von den deutschen Fortschritten«. 605