21.
»Die Auswirkungen des ›Gadget‹ auf die Zivilisation«

Ich hielt Oppenheimer zu dieser Zeit für einen engelgleichen, treuen und ehrlichen Menschen, der nichts Unrechtes tun konnte. … Ich glaubte an ihn.
Robert Wilson

Oppenheimer war für alle präsent. Im Army-Jeep oder mit seinem großen schwarzen Buick fuhr er über das Gelände und schaute unangemeldet in den verstreut liegenden Laborbüros vorbei. Gewöhnlich saß er hinten im Raum und verfolgte, Kette rauchend und schweigend, die Diskussion. 606 »Vicki« Weisskopf wunderte sich, wie oft Oppenheimer persönlich anwesend war, wenn irgendwo im Projekt ein neuer Durchbruch gelang: »Er war dabei, wenn im Labor oder im Seminarraum ein neuer Effekt gemessen oder eine neue Idee entwickelt wurde. Nicht, dass er selbst viele Ideen beisteuerte oder Vorschläge machte, natürlich, manchmal auch das, sein eigentlicher Einfluss aber entsprang seiner ständigen und intensiven Präsenz, die bei uns den Eindruck einer direkten Beteiligung erweckte.« Hans Bethe erinnerte sich an den Tag, an dem Oppenheimer in eine Sitzung gekommen sei, die metallurgische Probleme zum Thema hatte. Die Debatte galt der Frage, wie ein feuerfester Behälter beschaffen sein müsse, damit man Plutonium darin schmelzen kann. Die Debatte führte zu keinem Ergebnis, doch Oppenheimer habe alle Argumente angehört und die Diskussion dann zusammengefasst: Das sei kein direkter Lösungsvorschlag gewesen, doch als er den Raum verließ, war allen klar, wo die Lösung lag. 607

General Groves’ Besuche dagegen waren immer Unterbrechungen – manchmal auf eine sehr komische Art. Einmal führte ihn Oppenheimer in einem Labor herum, und der General trat mit seinem beträchtlichen Gewicht auf einen der drei Gummischläuche, durch die heißes Wasser in eine Ummantelung geleitet wurde. »Der Schlauch riss aus der Wand«, wie McAllister Hull dem Historiker Charles Thorpe berichtete, »und ein Strahl fast kochendheißen Wassers schoss durch den Raum. Und wenn Sie jemals ein Bild von Groves gesehen haben, können Sie sich vorstellen, wer den Strahl abbekam.« Oppenheimer, mit Blick auf den triefnassen General: »Na bitte, da haben wir den Beweis, dass Wasser nicht komprimierbar ist.« 608

Manchmal kamen die Dinge nur voran, wenn Oppenheimer direkt intervenierte. Vor allem der spärliche Nachschub an spaltbarem Material bremste den Fortgang und die rasche Fertigstellung einer einsatzfähigen Waffe. Daher war er ständig auf der Suche nach Mitteln und Wegen, um die Produktion dieses Materials zu beschleunigen. Anfang 1943 hatten sich Groves und sein S-1-Exekutivausschuss für zwei der Verfahren entschieden, mit denen sich spaltbare Uranisotope aus natürlichen Uranvorkommen abscheiden ließen: für die fraktionierte Diffusion und für die elektromagnetische Trennung. Eine weitere mögliche Technik, die Thermodiffusion, hatten sie als unpraktikabel verworfen. Im Frühjahr 1944 las Oppenheimer jedoch alte Berichte über dieses Verfahren und erkannte, dass es ein Fehler gewesen war, dieses nicht weiterzuentwickeln. Denn er sah darin einen relativ kostengünstigen Weg, um partiell angereichertes Uran zu produzieren, das man dann im elektromagnetischen Verfahren weiter bearbeiten konnte. Im April 1944 schrieb er an Groves, eine Anlage für flüssige Thermodiffusion könnte eine mögliche Notlösung sein: Das auf diese Weise produzierte, leicht angereicherte Uran könne der elektromagnetischen Diffusion zugeführt werden, was die Herstellung von spaltbarem Material beschleunigen werde. Er hoffe, »dass der Ausstoß der [elektromagnetischen] Y-12-Anlage um 30 bis 40 Prozent gesteigert werden könnte und wir den für die K-25-Produktion [die gasförmige Diffusion] festgesetzten Termin einige Monate früher erreichen könnten.« 609 Nachdem Groves einen Monat über dieser Empfehlung Oppenheimers gebrütet hatte, willigte er ein, dieses Verfahren auszuprobieren. Schnell wurde eine Fabrikationsanlage hochgezogen, und im Frühjahr 1945 produzierte sie so viel zusätzliches teilangereichertes Uran, dass bis Ende Juli genug spaltbares Material für den Bau einer Bombe vorhanden war.

Zur Zündung der Kettenreaktion setzte Oppenheimer stets auf Neutronenbeschuss – das sogenannte »Gun-Design«, bei dem eine solche Menge spaltbaren Materials in anderes ebenfalls spaltbares Material geschossen wird, dass der kritische Zustand entsteht, der zu einer unkontrollierten Kettenreaktion, sprich: zur Kernexplosion führt. Aber im Frühjahr 1944 sah er sich einer Krise gegenüber, an der alle Bemühungen, eine Plutoniumbombe zu entwickeln, zu scheitern drohten. Einerseits hatte er Seth Neddermeyer die Genehmigung erteilt, Testexplosionen durchzuführen – Versuche, die die Entwicklung einer Implosionsbombe vorantreiben sollten. Bei diesem Zündungsverfahren geht es darum, eine Kugel aus locker gepacktem spaltbarem Material auf einen Schlag so zusammenzupressen, dass der »kritische« Punkt erreicht wird. Andererseits hoffte er noch immer, dass sich das Gun-Design als gangbarer Weg zur Plutoniumbombe erweisen würde. Im Juli 1944 jedoch zeigte sich bei Versuchen mit den ersten kleinen Plutoniummengen, dass eine wirkungsvolle Plutoniumbombe mit diesem Verfahren nicht gezündet werden konnte: Statt zu einer Kettenreaktion würde der Beschuss zu einer Frühdetonation im Inneren der Plutonium-»Gun« führen. 610

Eine Lösung wäre vielleicht gewesen, das Plutoniummaterial noch gründlicher zu separieren, um ein stabileres Element herzustellen. »Man hätte die schlechten Plutoniumisotope von den guten trennen können«, erklärte John Manley, »aber dazu hätten wir die doppelte Separationskapazität gebraucht – also noch einmal so viele Fabrikationsanlagen –, und dafür fehlte die Zeit. Wir hätten das alles aufgeben müssen, die Entdeckung der Kettenreaktion, die Plutonium produziert, die Investitionen an Zeit und Arbeit in die Anlage von Hanford [Washington], es sei denn, jemand wäre mit einer Idee gekommen, wie man das Plutonium in eine Waffe mit Explosionswirkung hätte packen können.« 611

Für den 17. Juli 1944 berief Oppenheimer eine Krisensitzung in Chicago ein, an der auch Groves, Conant, Fermi und andere teilnehmen sollten. Conant empfahl, mit einer Mischung aus Uran und Plutonium eine weniger wirkungsvolle Implosionsbombe zu bauen. Eine solche Waffe hätte immer noch die Wirkung von mehreren Hundert Tonnen TNT gehabt. Erst nach einem erfolgreichen Test einer solchen Bombe, meinte Conant, könne das Labor die Entwicklung einer größeren Waffe mit einiger Zuversicht fortsetzen. Oppenheimer lehnte ab: Dieser Vorschlag verzögere alles. Als Serber die Idee mit der Implosion aufbrachte, war er skeptisch gewesen; jetzt aber argumentierte er, man müsse alles auf den Bau einer Plutoniumbombe mit Implosionszündung setzen – ein riskantes Spiel. Im Frühjahr 1943 hatte sich Seth Neddermeyer daran gemacht, diese Methode experimentell zu untersuchen, doch ihm waren seither nur geringe Fortschritte gelungen. Im Herbst 1943 dann holte Oppenheimer den Mathematiker John von Neumann aus Princeton nach Los Alamos, und nach dessen Berechnungen schien eine Implosion zumindest theoretisch möglich. Oppenheimer war bereit, darauf zu setzen. Am 18. Juli 1944 fasste Oppenheimer seine Überlegungen für Groves zusammen: »Die Methode, der absoluter Vorrang zu geben ist, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Methode der Implosion.« 612

Oppenheimers Assistent David Hawkins erklärte später: »Die Implosion war nicht die einzige Hoffnung [für eine Plutoniumbombe], und nach allem, was wir jetzt wissen, auch keine sehr gute.« Neddermeyer und seine Leute in der militärtechnischen Abteilung erzielten nach dem Implosionskonzept kaum Fortschritte. Neddermeyer, ein scheuer und zurückgezogener Mann, arbeitete gern allein und sehr systematisch. Wie er später sagte, habe sich Oppenheimer »im Frühjahr 1944 … höchst unzufrieden« mit ihm gezeigt. 613 Im Spätsommer 1944 erreichte die Krise um das Implosionskonzept ihren Höhepunkt; Oppenheimer reagierte, indem er eine umfangreiche Reorganisation des Labors ankündigte.

Anfang 1944 hatte Oppenheimer George »Kisty« Kistiakowsky, einen Sprengstoffexperten aus Harvard, überredet, nach Los Alamos zu kommen. Der Mann war eigensinnig und willensstark und hatte zahlreiche Zusammenstöße mit seinem Vorgesetzten, Navy-Captain »Deke« Parsons. Auch mit Neddermeyer, der ihm viel zu zögerlich erschien, kam er nicht zurecht. Anfang Juni 1944 ließ er Oppenheimer eine Aktennotiz zukommen, in der er mit Kündigung drohte. Daraufhin rief Oppenheimer Neddermeyer zu sich und sagte, Kistiakowsky werde ihn ablösen. Verärgert und gekränkt verließ Neddermeyer das Büro. Obwohl er »dauerhaft verbittert« blieb, ließ er sich doch überreden, als hochrangiger technischer Berater in Los Alamos zu bleiben. In dieser Krisensituation kam Isidor Rabi zu einem seiner Besuche nach Los Alamos. Später erinnerte er sich vor allem an eine Sitzung in gedrückter Stimmung: Noch immer suchten die Spitzenwissenschaftler nach dem Weg zu einer funktionierenden Plutoniumbombe. Und so habe sich das Gespräch bald dem Feind zugewandt: »Wer waren die deutschen Wissenschaftler? Wir kannten sie alle. Was taten sie? Wir kamen schließlich zu dem Ergebnis, dass sie ebenso weit sein könnten wie wir, vielleicht sogar weiter. Wir spürten den Ernst der Lage. Man wusste nicht, was der Feind in der Hand hatte. Man wollte keinen einzigen Tag verlieren, keine einzige Woche, gar einen Monat – das wäre ein riesengroßes Unglück gewesen.« Auch Philip Morrison beschrieb diese Stimmung: »Den Krieg konnten wir nur auf eine Weise verlieren, nämlich indem wir unsere Arbeit nicht taten.« 614

Nach der Reorganisation gelang es auch der Gruppe um Kistiakowsky bis Ende 1944 nicht, Sprengkörper, wie sie für panzerbrechende Waffen entwickelt worden waren und die wegen der erwünschten konzentrierenden Wirkung auch Sprengstofflinsen genannt wurden, so weiterzuentwickeln, dass ihre nach innen gerichtete Explosion eine pampelmusengroße, lose mit Plutonium gepackte Kugel auf eine Kugel von Golfballgröße verdichtet hätte. Dies musste unbedingt und vollständig symmetrisch geschehen, um eine vorzeitige innere Explosion zu verhindern. Anders konnte das Implosions-Design nicht funktionieren. Captain Parsons war so pessimistisch, dass er mit dem Vorschlag zu Oppenheimer kam, die Versuche mit den Sprengstofflinsen aufzugeben und einen Implosionstyp zu konstruieren, der ohne Linsen arbeitete. Darüber entbrannten im Januar 1945 heiße Debatten zwischen Parsons und Kistiakowsky; Groves und Oppenheimer verfolgten den Streit, ohne einzugreifen. Kistiakowsky beharrte: Ohne Sprengstofflinsen werde es zu keiner Implosion kommen. Und er stellte in Aussicht, dass seine Leute bald so weit seien; Oppenheimer schloss sich seiner Meinung an. Und tatsächlich: Kistiakowsky und sein Team fanden die Lösung. Im Mai 1945 war Oppenheimer zuversichtlich, dass das Plutonium-Gadget funktionieren würde. 615

Die Konstruktion der Bombe hatte mehr mit technischen Fragen zu tun als mit theoretischer Physik. Doch Oppenheimer besaß ein einzigartiges Geschick, Menschen in seiner Umgebung zu motivieren; das galt für die an technischen Problemen arbeitenden Wissenschaftler ebenso wie für die Studenten in Berkeley, die er zu neuen theoretischen Einsichten treiben konnte. Dazu Hans Bethe: »Los Alamos wäre vielleicht auch ohne ihn erfolgreich gewesen, aber sicher unter viel größeren Belastungen, mit weniger Begeisterung und geringerem Tempo. So wie das Projekt lief, war es eine unvergessliche Erfahrung für alle Mitglieder des Labors. Es gab auch andere sehr leistungsfähige kriegsrelevante Labors. … Doch in keiner anderen Einrichtung habe ich unter den Mitarbeitern ein solches Zusammengehörigkeitsgefühl beobachtet wie hier, nirgendwo ein solches Bedürfnis, sich immer wieder an die Zeit im Labor zu erinnern, in keinem anderen Team das Gefühl, dass die Zeit in Los Alamos die größte ihres Lebens gewesen sei. Und das war in erster Linie Oppenheimer zuzuschreiben. Er war eine Führungsfigur.« 616


Im Februar 1944 kam eine Gruppe britischer Wissenschaftler nach Los Alamos; ihr Leiter war der in Deutschland geborene Rudolf E. Peierls. Oppenheimer hatte diesen so glänzenden wie bescheidenen theoretischen Physiker 1929 kennengelernt, als sie beide bei Wolfgang Pauli studierten. Peierls war Anfang der 1930er Jahre nach England emigriert und hatte 1940 zusammen mit Otto R. Frisch »On the Construction of a Superbomb« geschrieben, das Papier, das die britische und die amerikanische Regierung von der Möglichkeit überzeugte, eine Atomwaffe zu bauen. 617 Oppenheimer entschloss sich, Peierls die Aufgaben zu übertragen, die eigentlich Edward Teller hätte lösen sollen, nämlich eine Reihe komplizierter Berechnungen für die Implosionsbombe durchzuführen. Der sprunghafte Ungar war besessen von der theoretischen Herausforderung, die sich mit einer thermonuklearen »Superbombe« (Fusionsbombe) stellte. An einer Bombe, die nach dem Prinzip der Kernspaltung funktionierte, hatte Teller kein Interesse. Im Juni 1943 entschied Oppenheimer, wegen der Zwänge der Kriegszeit den Plan einer Superbombe zurückzustellen, und seither hatte sich Teller immer unkooperativer verhalten. Gesprächig, wie er war, redete er unentwegt über die Wasserstoffbombe. Zugleich wurmte ihn, dass er unter Bethe arbeiten musste, und das konnte er kaum verbergen: »Ich war nicht glücklich darüber, dass er mein Chef war.« 618 Bethes Kritik machte seinen Groll nicht kleiner. Jeden Morgen kam Teller mit einer neuen Idee, wie man eine H-Bombe bauen könnte, und über Nacht bewies Bethe, dass sie unsinnig war. Eine besonders aufreibende Begegnung mit Teller kommentierte Oppenheimer mit dem Aperçu: »Gott schütze uns vor dem Feind draußen und den Ungarn drinnen.« 619 Verständlich, dass Oppenheimer Tellers Benehmen immer ärgerlicher fand. In Frühjahr 1944 weigerte sich Teller, einige Berechnungen zu übernehmen, die Bethe für seine Arbeit am Implosionsprojekt benötigte, und verließ die Sitzung der Sektionsleiter. Maßlos verärgert beklagte sich Bethe bei Oppenheimer: »Recht besehen, ist Edward in Streik getreten.« Als Oppenheimer Teller auf den Vorfall ansprach, bat dieser schließlich darum, von allen Pflichten im Zusammenhang mit der Fissionsbombe entbunden zu werden. Oppenheimer akzeptierte. 620

Der gekränkte Teller ließ durchblicken, dass er darüber nachdachte, Los Alamos endgültig zu verlassen. Niemand wäre überrascht gewesen, wenn Oppenheimer ihn hätte gehen lassen. Die meisten empfanden Teller als »Primadonna«, Bob Serber nannte ihn gar »ein Verhängnis für jede Organisation«. 621 Doch anstatt Teller zu entlassen, gab ihm Oppenheimer, was er wollte, nämlich die Freiheit, über die Möglichkeiten zur Herstellung einer thermonuklearen Bombe zu forschen. Er erklärte sich sogar bereit, ihm einmal in der Woche eine Stunde seiner kostbaren Zeit zu opfern und über alles zu sprechen, was Teller gerade bewegte. Aber noch nicht einmal dieses außerordentliche Entgegenkommen stellte Teller zufrieden; er glaubte, sein Freund sei ein »Politiker« geworden. Und Oppenheimers Kollegen fragten sich, warum er sich überhaupt mit Teller abgab. Peierls hielt ihn für »etwas wild, eine Zeitlang verfolgt er eine Idee, und dann stellt sich heraus, dass sie Unsinn ist«. Mit Dummköpfen konnte Oppenheimer ungeduldig werden, doch Teller war kein Dummkopf. Er tolerierte ihn, weil er am Ende möglicherweise doch etwas zum Projekt beitragen mochte. Als Oppenheimer im Spätsommer einen Empfang für Churchills Sonderbeauftragten Lord Cherwell (Frederic A. Lindemann) gab, stellte er nachträglich fest, dass er aus Versehen Rudolf Peierls nicht eingeladen hatte. Am nächsten Tag entschuldigte er sich bei Peierls mit einem Witzwort: »Es hätte schlimmer kommen können – wenn es Teller gewesen wäre.« 622


Obwohl Oppenheimer in seiner Verwaltungsarbeit schier versank, fand er Zeit, persönliche Briefe zu schreiben. So etwa im Frühjahr 1944 an eine Emigrantenfamilie aus Deutschland, deren Flucht er ermöglicht hatte. Sie waren völlig Fremde, doch 1940 hatte er den Meyers – einer Mutter mit vier Töchtern – die Kosten für die Überfahrt nach Amerika bezahlt. Vier Jahre später erstatteten die Meyers das Geld zurück und teilten Oppenheimer stolz mit, sie seien amerikanische Staatsbürger geworden. Er verstehe, so heißt es in seinem Antwortbrief, ihren »Stolz« und dankte für die Rückzahlung: »Ich hoffe, es war nicht zu hart für Sie …« Sofern sie das Geld doch brauchten, werde er es umgehend zurücküberweisen. 623 Die Rettung der Meyers vor der Nazipest war für Oppenheimer in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Zum einen war es eine politisch unbedenkliche Weiterführung seiner antifaschistischen Aktivitäten – und das gab ihm ein gutes Gefühl. Zweitens erinnerte ihn diese wenn auch kleine Geste der Großzügigkeit daran, warum er sich so abhetzte, eine derart schreckliche Waffe zu bauen.

Und er hetzte sich ab. Er war ein ruheloser Charakter – was auch Freeman Dyson auffiel, einem jungen Physiker, der Oppenheimer nach dem Krieg kennen und bewundern lernte. Doch Dyson sah in dieser Unruhe auch Oppies tragische Schwäche: »Seine Rastlosigkeit trieb ihn zu seiner höchsten Leistung an, der Erfüllung seiner Mission in Los Alamos, ohne Pausen, weder zur Erholung noch zur Reflexion.« Nur einer habe sich Pausen gegönnt, so Dyson, »und das war Joseph Rotblat aus Liverpool«. 624

Diesen polnischen Physiker hatte es bei Kriegsbeginn nach England verschlagen. James Chadwick holte ihn ins britische Bombenprojekt, und so kam er Anfang 1944 nach Los Alamos. Eines Abends im März 1944 erlebte er eine »unangenehme Überraschung«. General Groves sei, wie er erzählte, zum Essen bei den Chadwicks gewesen, man unterhielt sich über dieses und jenes, und plötzlich sagte Groves: »Ihnen ist sicher klar, dass der Hauptzweck dieses Projekts ist, die Russen unterzukriegen.« Rotblat war entsetzt. Nicht dass er sich Illusionen über Stalin gemacht hätte – immerhin hatte der sowjetische Diktator sein geliebtes Polen überfallen. Doch täglich fielen Tausende Russen an der Ostfront, Rotblat sah in Groves’ Ansichten so etwas wie Verrat. »Bis dahin hatte ich gedacht, unsere Arbeit diente dazu, einen Sieg der Nazis zu verhindern, und jetzt hörte ich, dass die Waffe, die wir bauten, gegen die Menschen eingesetzt werden sollte, die für eben dieses Ziel die größten Opfer brachten.« Ende 1944, sechs Monate nach der Landung der Alliierten in der Normandie, war klar, dass der Krieg in Europa bald zu Ende sein würde. Rotblat sah keinen Sinn mehr darin, die Arbeit an einer Waffe fortzusetzen, wenn diese nicht mehr gebraucht wurde, um die Deutschen zu schlagen. Nachdem er auf einer Abschiedsparty Oppenheimer auf Wiedersehen gesagt hatte, verließ er Los Alamos am 8. Dezember 1944. 625


Im Herbst 1944 erhielt die Sowjetführung den ersten einer ganzen Reihe von Geheimberichten direkt aus Los Alamos. Zu den Spionen, deren Tätigkeit der Spionageabwehr der US Army entgangen war, gehörten Klaus Fuchs, ein deutscher Physiker mit britischer Staatsangehörigkeit, und Ted Hall, ein brillanter, frühreifer Neunzehnjähriger mit einem Harvard-Bachelor in Physik. Ende Januar 1944 war er nach Los Alamos gekommen, Fuchs im August mit Peierls’ Gruppe. Dieser, 1911 geboren, war in einer deutschen Quäkerfamilie aufgewachsen. Der lernbegierige und idealistische Student trat 1931 in Leipzig in die SPD ein. Im gleichen Jahr beging seine Mutter Selbstmord. 1932, aufgeschreckt durch die wachsende Stärke der Nationalsozialisten, brach Fuchs mit den Sozialdemokraten und trat der KPD bei, die Hitler seiner Meinung nach entschiedener Widerstand entgegensetzte. Im Juli 1933 floh er aus Hitlerdeutschland nach England; viele seiner Familienangehörigen wurden in den folgenden Jahren von den Nazis umgebracht. Fuchs hatte jeden Grund, den Nationalsozialismus zu hassen. 626 1937 promovierte er in Bristol in Physik, erhielt ein Forschungsstipendium und begann bei Max Born ein Postgraduiertenstudium. Dem britischen Innenministerium war seine kommunistische Vergangenheit bekannt, dennoch arbeitete Fuchs seit Frühjahr 1941 mit Peierls und anderen britischen Wissenschaftlern am hochgeheimen Projekt Tube Alloys. 627 Im Juni 1942 erhielt er die britische Staatsangehörigkeit – und bereits zu dieser Zeit ließ er den Sowjets Informationen über das britische Atombombenprogramm zukommen.

Als Fuchs in Los Alamos eintraf, hatte weder Oppenheimer noch sonst jemand einen Verdacht, dass er ein sowjetischer Spion sein könnte. 628 Nach seiner Verhaftung im Jahr 1950 erklärte Oppenheimer dem FBI, er habe Fuchs für einen Christdemokraten gehalten, jedenfalls nicht für einen »politischen Fanatiker«. 1943 ließ Fuchs den Sowjets detaillierte Informationen darüber zukommen, welche Probleme und Vorteile die Implosionszündung gegenüber dem Gun-Design hatte. Dass sich die Sowjets diese Informationen von einem anderen Mitarbeiter in Los Alamos bestätigen ließen, wusste er nicht.

Seit September 1944 führte Ted Hall Kalibrierungstests für die Implosionsbombe durch. Als ein Implosionsversuch vorbereitet wurde, hörte Oppenheimer, dass Hall sich als einer der besten jungen Techniker auf der Mesa hervortat. Doch dieser äußerst intelligente Mann bewegte sich an einem intellektuellen Abgrund. Er war Sozialist und ein Bewunderer der Sowjetunion, aber kein Kommunist, und er war auch weder verärgert noch unglücklich über seine Arbeit und Lebenssituation. Niemand hatte versucht, ihn anzuwerben. Doch von »älteren« Wissenschaftlern – sie waren Ende zwanzig, Anfang dreißig – hörte er viel über deren Befürchtungen wegen eines Wettrüstens nach dem Krieg. Und er war zugegen, als Niels Bohr in Fuller Lodge sein Konzept einer »offenen Welt« erläuterte. In der Überzeugung, ein nukleares Monopol der Vereinigten Staaten werde zu einem erneuten Krieg führen, entschloss sich Hall im Oktober 1944 zu handeln: »Ich hielt ein amerikanisches Monopol für gefährlich und dachte, es müsse verhindert werden. Mit dieser Ansicht stand ich nicht allein unter den Wissenschaftlern.« Während eines vierzehntägigen Urlaubs fuhr er mit dem Zug von Los Alamos nach New York, suchte ein sowjetisches Handelsbüro auf und übergab einem sowjetischen Beamten einen handgeschriebenen Bericht über Los Alamos. In den folgenden Monaten gelang es Hall, den Sowjets viele weitere Informationen zukommen zu lassen, darunter auch wichtige Daten zum Konstruktionsentwurf für die Implosionsbombe. Hall wollte nichts anderes erreichen, als »die Welt zu retten« vor einem nuklearen Krieg. Oppenheimer wusste nichts von seinen Aktivitäten. 629


Seit Ende 1944 begannen verschiedene Wissenschaftler in Los Alamos, ihre wachsenden ethischen Bedenken gegen das »Gadget« zu äußern. Robert Wilson, inzwischen Chef der experimentellen Laborabteilung, führte »lange Debatten mit Oppie über dessen möglichen Einsatz«. 630 Es lag noch Schnee, als Wilson zu Oppenheimer ging und ihm vorschlug, eine formelle Sitzung abzuhalten, um dieses Thema gründlicher zu erörtern: »Er versuchte mir das auszureden und meinte, ich werde Ärger bekommen mit der G-2, den Leuten von der Sicherheit.« Trotz seines Respekts, trotz seiner Verehrung für Oppenheimer hielt Wilson nichts von diesem Einwand. Es müsse doch, erklärte er, wenigstens eine offene Debatte über ein Thema geben, das von so großer Bedeutung sei. Also hängte er überall im Labor die Ankündigung einer öffentlichen Versammlung aus, Thema: »The Impacts of the Gadget on Civilization«. 631

Zu seiner Überraschung kam auch Oppenheimer an jenem Abend und verfolgte die Diskussion. Etwa zwanzig Personen, auch altgediente Physiker wie Victor Weisskopf, nahmen teil. Das Treffen fand in dem Gebäude statt, in dem auch der Teilchenbeschleuniger stand. Wilson erinnerte sich, »wie kalt es dort war. … Wir führten eine intensive Debatte über die Frage, warum wir weiterhin an der Bombe arbeiteten, wenn wir den Krieg [praktisch] gewonnen haben.« 632

Dies war sicher nicht die einzige Gelegenheit, bei der über die moralischen und politischen Aspekte der Atombombe diskutiert wurde. Louis Rosen, ein junger Physiker, der an der Implosionstechnik arbeitete, erinnerte sich an ein drängend volles Kolloquium, das tagsüber im alten Theater stattfand. Oppenheimer habe gesprochen, seine Frage lautete: »Ist Amerika auf dem richtigen Weg, wenn es diese Waffe gegen lebende Menschen zum Einsatz bringt?« Oppenheimer vertrat, und das so eloquent wie überzeugend, den Standpunkt, sie als Wissenschaftler hätten, wenn es um die Bestimmung des »Gadget« gehe, kein größeres Recht, ihre Stimme zu erheben, als andere Bürger. 633 Von einer ähnlichen Diskussion berichtete der Chemiker Joseph O. Hirschfelder. Anfang 1945, an einem kalten Sonntagabend während eines Gewitters, habe Oppenheimer in der kleinen Holzkapelle von Los Alamos mit der für ihn typischen Beredsamkeit die Ansicht vertreten, dass es, selbst wenn alle in ständiger Angst leben müssten, gerade wegen der Bombe möglicherweise zu keinem Krieg mehr kommen werde. Ein Großteil der versammelten Wissenschaftler fand diese Hoffnung, in der Bohrs Worte nachklangen, überzeugend.

Über diese einem so empfindlichen Thema gewidmeten Debatten existieren keine offiziellen Unterlagen, nur persönliche Erinnerungen. Der lebendigste dieser uns zugänglichen Berichte stammt von Robert Wilson – und wer ihn kannte, hielt ihn für einen absolut integren Menschen. Victor Weisskopf sprach von verschiedenen politischen Diskussionen über die Bombe, an denen sich unter anderen Willy Higinbotham, Robert Wilson, Hans Bethe, David Hawkins, Phil Morrison und William Woodward beteiligten. Auch an ein Treffen im März 1945 erinnerte er sich, an dem vierzig Wissenschaftler teilnahmen, um über »Die Atombombe in der Weltpolitik« zu diskutieren. Wieder riet Oppenheimer von einer Teilnahme ab: »Wir sollten uns in Fragen der möglichen Anwendung der Bombe nicht einmischen.« Wilson dagegen meinte, es werfe ein schlechtes Licht auf Oppenheimer, wenn er nicht erscheine: »Sie sind der Direktor, fast so etwas wie ein General. Manchmal müssen Sie Ihre Truppen anführen, und manchmal müssen Sie sich hinter ihnen halten.« Oppenheimer kam und »hatte zwingende Argumente, die mich überzeugten«. Wilson brauchte eine solche Überzeugung. Denn inzwischen stand fest, dass das »Gadget« nicht gegen die Deutschen zum Einsatz kommen würde, und er hatte, wie viele andere im Raum auch, seinerseits Zweifel und keine Antworten. »Ich dachte, wir kämpften gegen die Nazis und nicht im Besonderen gegen die Japaner.« Niemand glaubte, dass die Japaner ein Bombenprogramm hatten.

Als Oppenheimer das Wort ergriff und mit seiner sanften Stimme zu sprechen anfing, hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Er habe, so Wilson, die Diskussion »beherrscht«. Sein Hauptargument bezog er aus Niels Bohrs Vision der »Offenheit«. Der Krieg, sagte er, sollte nicht zu Ende gehen, ohne dass die Welt von dieser neuen Waffe wisse. Nichts wäre schlimmer, als wenn das »Gadget« Militärgeheimnis bliebe. Dann nämlich werde der nächste Krieg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit Atomwaffen ausgetragen. Also müsse Los Alamos weitermachen bis zur Testreife der Bombe. Im April 1945 werde die Gründungsversammlung der Vereinten Nationen stattfinden, und die Delegierten müssten ihre Erörterungen über die Neuordnung der Welt nach dem Krieg unbedingt in dem Wissen führen, dass die Menschheit diese neue Massenvernichtungswaffe erfunden habe. »Mir erschien dies«, so Wilson, »als ein sehr gutes Argument.« Vor nicht allzu langer Zeit hatten Bohr und Oppenheimer darüber gesprochen, wie die Bombe die Welt verändern würde. Beide sahen, dass sie eine Neubestimmung des Begriffs nationaler Souveränität erzwingen würde. Im Vertrauen auf Franklin Roosevelt waren sie der Meinung, er rufe die Vereinten Nationen ins Leben, um genau dieses Dilemma anzusprechen. Es werde dann, so erläuterte Wilson diesen Gedanken, »in manchen Bereichen keine Souveränität geben. Diese läge bei den Vereinten Nationen. Kriege, wie wir sie kennen, wären ein für alle Mal vorbei, und das war ein Versprechen. Deshalb konnte ich an dem Projekt weiterarbeiten.« 634 Oppenheimer hatte sich mit dem Argument durchgesetzt, bei Kriegsende müsse die Welt das furchtbare Geheimnis von Los Alamos kennen. Dahinter standen Bohrs Gedanken, und verbunden mit Oppenheimers Charisma hatten sie eine hohe Überzeugungskraft für dessen Kollegen. Wilson war dieser bedeutsame Augenblick auch viel später noch präsent: »Ich hielt Oppenheimer zu jener Zeit für einen engelgleichen, treuen und ehrlichen Menschen, der nichts Unrechtes tun konnte. … Ich glaubte an ihn.« 635