Roosevelt war ein großer Architekt, vielleicht wird Truman ein guter Zimmermann
J. Robert Oppenheimer
Donnerstag, den 12. April 1945 nachmittags, genau zwei Jahre nach der Eröffnung des Labors: Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von Roosevelts Tod. Die Arbeit ruhte, und Oppenheimer ließ allen mitteilen, man werde sich am Fahnenmast beim Verwaltungsgebäude versammeln; eine Gedenkfeier werde am kommenden Sonntag stattfinden. »Am Sonntagmorgen war die Mesa tiefverschneit«, so Phil Morrison, »der nächtliche Schneefall hatte die rohen Holzhäuser der Siedlung bedeckt und eine friedliche Stille über ihre Geschäftigkeit gesenkt. Dem Auge bot sich nur ein einheitliches sanftes Weiß, darüber schien hell die Sonne, die hinter den Gebäuden tiefblaue Schatten warf. Die Szenerie passte nicht zur Trauer, versprach aber, was wir alle bitter nötig hatten: eine Geste des Trostes. Alle kamen zum Theater, wo Opje zwei oder drei Minuten lang aus seinem und unseren Herzen sprach.« 636
Oppenheimer hatte eine aus drei kurzen Abschnitten bestehende Gedenkansprache aufgesetzt. »Wir haben böse Jahre und viel Terror erlebt«, eine Zeit, in der Roosevelt »in einem alten, unverdorbenen Sinn unser Führer war«. Um dies zu erläutern, nahm Oppenheimer einmal mehr die Bhagavad Gita zu Hilfe: »Der Mensch ist ein Geschöpf, dessen Wesen der Glaube ist. Was sein Glaube ist, das ist er.« Roosevelt habe Millionen Menschen auf der ganzen Welt den Glauben gegeben, dass die furchtbaren Opfer, die dieser Krieg fordere, »eine bewohnbarere Welt« zur Folge haben würden. Darum, schloss Oppenheimer, »sollten wir an der Hoffnung festhalten, dass seine guten Taten mit seinem Tod nicht beendet sind.« 637 Oppenheimer hoffte noch immer, dass nicht nur Roosevelt, sondern auch seine Umgebung Bohrs Auffassung teilten, dass die neue furchtbare Waffe, die sie bauen ließen, eine radikal neue Offenheit verlange. »Nun ja«, sagte er nach der Feier zu David Hawkins, »Roosevelt war ein großer Architekt, vielleicht wird Truman ein guter Zimmermann.« 638
Als Harry Truman das Weiße Haus bezog, war der Krieg in Europa fast gewonnen, der Pazifikkrieg dagegen steuerte seinem blutigen Höhepunkt entgegen. In der Nacht vom 9. auf den 10. März 1945 warfen Bomber vom Typ B-29 hochexplosive Sprengbomben und tonnenweise Brandbomben (Napalm) über Tokio ab. Dabei kamen (nach Schätzungen) hunderttausend Menschen ums Leben, fast 41 Quadratkilometer der Stadtfläche gingen im Feuersturm unter. 639 Die Flächenbombardements wurden bis Juli 1945 fortgesetzt, bis auf fünf lagen alle japanischen Großstädte in Schutt und Asche, und weitere Hunderttausende Zivilisten kamen ums Leben. Das war totaler Krieg, ein Angriff, der nicht auf die Zerstörung militärischer Ziele, sondern auf die vollkommene Zerstörung eines Landes gerichtet war. Die Flächenbombardements waren kein Geheimnis, jeder Amerikaner konnte die Zeitungsberichte lesen. Nachdenkliche Menschen zweifelten, ob das strategische Bombardieren ethisch zu rechtfertigen sei. 640
Am 30. April 1945 beging Hitler Selbstmord, acht Tage später kapitulierte Deutschland. »Wir kommen zu spät«, war Emilio Segrès erste Reaktion; in seinen Memoiren schrieb er: »Als die Bombe nicht mehr gegen die Nationalsozialisten eingesetzt werden konnte, erhoben sich Zweifel.« 641 Nicht nur für ihn war der Kampf gegen Hitler die einzige Rechtfertigung für die Arbeit am »Gadget«.
Leo Szilard vom Metallurgischen Labor der Universität Chicago war außer sich. Die Zeit lief davon. Die Atombomben waren fast fertig, und er rechnete damit, dass sie gegen japanische Städte eingesetzt würden. Er war einer der Ersten gewesen, die Präsident Roosevelt drängten, ein Atombombenprogramm zu initiieren, und nun versuchte er unablässig, den Einsatz der Bombe zu verhindern. Zunächst schrieb er ein Memorandum für Roosevelt – eingeleitet durch einen weiteren Brief Einsteins –, in dem er warnte, »unsere ›Demonstration‹ von Atombomben« werde ein Wettrüsten mit den Sowjets provozieren. Szilard hat Roosevelt vor dessen Tod nicht mehr getroffen, doch es gelang ihm, für den 25. Mai einen Termin beim neuen Präsidenten Harry Truman zu bekommen. In der Zwischenzeit schrieb er Oppenheimer: »Wenn ein Wettlauf um die Produktion von Atombomben unvermeidlich ist, dann hat dieses Land keine guten Aussichten.« Solange es keine eindeutige politische Absicht gebe, ein derartiges Wettrüsten zu verhindern, frage er sich, »ob es sinnvoll ist, unsere Hand zu erheben und die Atombombe gegen Japan einzusetzen«. Er habe mit Befürwortern des Einsatzes der Bombe gesprochen, doch ihre Argumente »waren nicht stark genug, meine Zweifel zu zerstreuen«. Oppenheimer antwortete nicht. 642
Am 25. Mai erschien Szilard mit zwei Kollegen – Walter Bartky von der University of Chicago und Harold Urey von der Columbia University – im Weißen Haus. Truman, so hörten sie, habe sie an James F. Byrnes verwiesen, den designierten Außenminister. Also fuhren sie zu Byrnes nach Spartanburg, South Carolina. Die Unterredung mit ihm endete, freundlich gesagt, ohne Ergebnis. Denn Byrnes vertrat die Auffassung, der Einsatz der Atombombe gegen Japan werde die Russen zum Abzug ihrer Truppen aus Osteuropa bewegen, wenn der Krieg zu Ende sei. Fassungslos fragte sich Szilard, »wie man nur glauben könne, dass ein Rasseln mit der Bombe die Russen gefügiger machen werde«. Auch eine weitere Bemerkung Byrnes’ – »Sie sind aus Ungarn, Ihnen würde bestimmt nicht gefallen, wenn die Russen auf unabsehbare Zeit in Ungarn blieben« – konnte Szilard keineswegs beruhigen; später schrieb er: »Meine große Sorge damals war, dass … wir ein Wettrüsten zwischen Amerika und Russland in Gang setzen, das mit der Zerstörung beider Länder endet. Da machte ich mir doch keine Sorgen darüber, was mit Ungarn geschehen würde.« Ernüchtert reiste Szilard ab.
Zurück in Washington unternahm er einen weiteren Versuch, den Einsatz der Bombe zu verhindern. Als er hörte, Oppenheimer werde am 30. Mai in der Hauptstadt sein, um mit Kriegsminister Stimson zu sprechen, rief Szilard in General Groves’ Büro an, um für den 30. Mai vormittags eine Verabredung zu treffen. Oppenheimer, der Szilard für jemanden hielt, der sich ungefragt in Dinge einmischte, beschloss dennoch, ihn anzuhören.
Oppenheimer sagte, nachdem Szilard seine Argumente vorgetragen hatte: »Die Atombombe ist ein Scheiß.«
»Was meinen Sie damit?«
Oppenheimer: »Nun, sie ist eine Waffe ohne militärische Bedeutung. Sie verursacht einen großen Knall – einen sehr großen Knall –, aber für einen Krieg ist sie nicht zu gebrauchen.« Doch wenn sie zum Einsatz käme, sollten die Russen vorher davon in Kenntnis gesetzt werden.
Szilard erwiderte, die bloße Information Stalins werde kaum ausreichen, ein Wettrüsten nach dem Krieg zu verhindern.
Oppenheimer: »Aber denken Sie nicht, dass die Russen es verstehen werden, wenn wir ihnen sagen, was wir vorhaben, und die Bombe tatsächlich gegen Japan einsetzen?«
Szilard: »Sie werden es nur zu gut verstehen.«
Mit diesem unbefriedigenden Gespräch war Szilards dritter Versuch gescheitert, den Einsatz der Bombe zu verhindern.
Am nächsten Tag, dem 31. Mai, nahm Oppenheimer an einem entscheidenden Treffen des sogenannten Interimskomitees teil, einer ad hoc zusammengestellten Gruppe von Regierungsbeamten, die Kriegsminister Stimson im Hinblick auf die künftige Atompolitik beraten sollten. 643 Stimson führte den Vorsitz – die Frage, ob die Bombe gegen Japan eingesetzt werden sollte, stand nicht auf seiner Tagesordnung. Dies war im Grunde bereits entschieden. Noch mehr beruhigte Oppenheimer und seine Kollegen Stimsons Bemerkung, er und die anderen Mitglieder des Interimskomitees betrachteten die Bombe »nicht bloß als eine neue Waffe, sondern als eine revolutionäre Veränderung des Verhältnisses zwischen den Menschen und dem Universum«. Die Atombombe könne ebenso gut »ein Frankenstein werden, der uns verschlingt«, wie den Weltfrieden sichern. Ihr Gewicht gehe in beiden Fällen »weit über die Notwendigkeiten des gegenwärtigen Krieges hinaus«. 644 Gleichwohl fragte er nach der zukünftigen Entwicklung von Atomwaffen. Oppenheimer berichtete: Man brauche drei Jahre, dann werde man Bomben mit einer Sprengkraft von 10 bis 100 Millionen Tonnen TNT bauen können. Ernest Lawrence pflichtete ihm bei und empfahl den Aufbau eines Arsenals an Bomben und anderem Material, auch die Uranfabriken müssten ausgebaut werden, damit das Land »an der Spitze bleibe«. Das Protokoll hält Stimsons Zustimmung fest, gibt dann Oppenheimers Zweifel wieder. Man solle, um »wissenschaftliche Sterilität« zu vermeiden, das Manhattan-Projekt auflösen und die Wissenschaftler, sobald der Krieg zu Ende sei, in ihre Universitäten und Laboratorien zurückschicken. Er fand Zustimmung bei Vannevar Bush, Fermi und Arthur Compton, nicht aber bei Lawrence. Immerhin hatte er für die weiteren Diskussionen um die Waffenlabore Pflöcke eingerammt.
Nun fragte Stimson nach den nichtmilitärischen Potentialen des Projekts, und noch einmal dominierte Oppenheimer die Diskussion. Bislang habe ihre »unmittelbare Sorge der Verkürzung des Krieges« gegolten. Doch solle man bedenken, dass »das grundsätzliche Wissen« über die Atomphysik »in der Welt so weit verbreitet« sei, dass er es für klug halte, wenn die Vereinigten Staaten einen »freien Informationsaustausch« über die friedliche Nutzung der Atomenergie anböten. Anschließend an sein Gespräch mit Szilard vom Vortag sagte er: »Wenn wir uns vor einem Einsatz der Bombe zu einem solchen Informationsaustausch bereit erklärten, wäre unsere moralische Position deutlich gestärkt.« Stimson griff das auf, lenkte die Diskussion auf die Frage, welche Aussichten »eine Politik der Selbstbeschränkung« haben könne, sprach auch von der Möglichkeit, eine internationale Organisation ins Leben zu rufen, um »vollständige wissenschaftliche Freiheit« zu gewährleisten. Die Bombe könne vielleicht durch ein »internationales Kontrollorgan« mit Inspektionsrecht in Schach gehalten werden. Die anwesenden Wissenschaftler nickten. Plötzlich ergriff der bis dahin schweigsame General George C. Marshall das Wort und warnte vor zu viel Vertrauen in die Wirksamkeit von Inspektionsmechanismen. Russland sei in dieser Hinsicht von »ausschlaggebender Bedeutung«.
Einem Mann von Marshalls Format widersprach man nicht so ohne weiteres. Aber Oppenheimer hatte einen Plan – Bohrs Plan – im Sinn und brachte den angesehenen General ruhig, aber bestimmt auf seine Seite. Ja, man wisse tatsächlich nicht, was die Russen auf dem Gebiet der Atomwaffen täten. Doch er hoffe, »dass die gemeinsame Interessenlage der Wissenschaftler hilfreich sein könnte, um eine Lösung zu finden«. Immerhin sei »Russland den Naturwissenschaften gegenüber stets aufgeschlossen« gewesen. Vielleicht könne man durchaus versuchen, vorsichtig eine Diskussion mit den Russen zu eröffnen, und ihnen, »ohne Einzelheiten über unsere Produktion mitzuteilen«, erklären, was Amerika bisher getan habe.
»Wir könnten sagen, dass unser Land im Zusammenhang mit diesem Projekt große Anstrengungen auf sich genommen hat, und unserer Hoffnung Ausdruck geben, dass wir auf diesem Gebiet zusammenarbeiten könnten.« Abschließend plädierte Oppenheimer dafür, »Vorurteile über die Einstellung der Russen in dieser Angelegenheit« fallen zu lassen.
Überraschenderweise veranlassten Oppenheimers Äußerungen Marshall zu einer ausführlichen Verteidigung der Russen. Die Beziehungen zwischen Moskau und Washington seien gekennzeichnet von einer langen Geschichte wechselseitiger Vorwürfe. Aber »die meisten dieser Anschuldigungen erwiesen sich als unbegründet«. Zum Problem der Atombombe sagte Marshall, er sei »sicher, dass wir keine Angst zu haben brauchen, dass die Russen, wenn sie über das Projekt im Bilde sind, dieses Wissen an die Japaner weitergeben würden«. Man solle die Bombe vor den Russen nicht geheim halten, sondern »in Erwägung ziehen, zwei prominente russische Wissenschaftler zum Test der Bombe einzuladen«.
Oppenheimer kann sich nur gefreut haben, als er Amerikas ranghöchsten Soldaten so argumentieren hörte. Umso größer die Ernüchterung, als sich James F. Byrnes, Trumans persönlicher Vertreter im Interimskomitee, zu Wort meldete. Er nämlich protestierte heftig: Stalin werde verlangen, am Atomprojekt beteiligt zu werden. Byrnes dachte bereits daran, die Bombe als diplomatische Waffe einzusetzen. Darum wischte der designierte Außenminister Oppenheimers und Marshalls Argumente beiseite und sekundierte Lawrence mit der Forderung, »die atomare Produktion und Forschung so schnell wie möglich voranzutreiben, um sicherzugehen, dass wir die Führung behalten, und zugleich alle Anstrengungen zu unternehmen, unsere politischen Beziehungen zu Russland zu verbessern.« Das Protokoll verzeichnet, dass Byrnes’ Auffassung »die grundsätzliche Zustimmung aller Anwesenden fand«. Gleichwohl war Oppenheimer und einigen anderen klar, dass man nicht beides würde haben können: die Führung auf dem Gebiet der atomaren Forschung und Rüstung und Verständigung (statt Rüstungswettlauf) mit Russland. Kurz vor der Mittagspause versuchte Compton dieses Dilemma (Bohr hätte von Komplementarität gesprochen) zu verkleistern, indem er vorschlug, Amerikas Führungsposition durch »Freiheit der Forschung« zu erhalten und zugleich eine »kooperative Verständigung« mit Russland zu erreichen.
Während des Mittagessens kam die Frage auf, ob die Bombe gegen Japan eingesetzt werden solle und welchen Nutzen das haben könne. Diese Debatte wurde nicht protokolliert, aber nach dem offiziellen Wiederbeginn der Sitzung drehte sich die Diskussion um die Folgen der bevorstehenden Bombardierung. Stimson, der stets die politischen Konsequenzen einer Entscheidung im Auge hatte, ließ diese Diskussion zu. Einer der Teilnehmer meinte, eine einzige Bombe hätte keine größere Wirkung als die massiven Luftangriffe gegen japanische Städte im Frühjahr. Oppenheimer schien dem beizupflichten, fügte aber hinzu, dass »der visuelle Effekt eines Atombombenabwurfs gewaltig ist. Der die Detonation begleitende Lichtblitz wird eine Höhe von 3000 bis 7000 Metern erreichen. Der Neutroneneffekt der Explosion ist innerhalb eines Radius von mindestens einem Kilometer lebensgefährlich.«
Daraufhin wurde über »verschiedene Ziele und Wirkungen, die hervorgerufen werden sollen«, diskutiert. Stimson fasste zusammen, was offenbar allgemeine Zustimmung gefunden hatte: »… dass wir die Japaner nicht warnen können, dass wir uns nicht auf ein ziviles Gebiet konzentrieren können, dass wir aber versuchen, so viele Einwohner wie möglich psychologisch tief zu beeindrucken.« Zustimmend berief sich Stimson auf James Conant: »Das wünschenswerteste Ziel« sei »ein wichtiger Rüstungsbetrieb mit vielen Arbeitern und vielen Arbeiterwohnungen in unmittelbarer Umgebung«. Mit derart heiklen Euphemismen bestimmte der Präsident der Harvard University Zivilisten zum Ziel für die erste Atombombe der Welt.
Oppenheimer zeigte sich in dieser kritischen Diskussion unentschieden. Nachdrücklich vertrat er Bohrs Vorstellung, dass die Russen möglichst bald über die neue Waffe in Kenntnis gesetzt werden sollten; sogar General Marshall hatte er überzeugen können. Und als diese Option durch Byrnes’ Intervention kippte, hielt es Oppenheimer offenbar für ratsam zu schweigen. Er nahm hin, dass General Groves seine Absicht bekanntgab, andersdenkende Wissenschaftler wie Szilard zu entlassen, und setzte auch Conants euphemistischer Definition des »militärischen« Ziels keine Alternative, geschweige denn Kritik entgegen. Er hat Bohrs Idee der Offenheit nachdrücklich ins Spiel gebracht, am Ende aber nichts erreicht und sich in alles gefügt. Die Sowjets würden über das Manhattan-Projekt nicht angemessen informiert, die Bombe würde ohne Vorwarnung gegen eine japanische Stadt zum Einsatz kommen.
Die Wissenschaftler in Los Alamos, die fieberhaft daran arbeiteten, die Plutoniumbombe und ihren Implosionszünder so bald wie möglich zu testen, hatten wenig Zeit, darüber nachzudenken, ob und wie ihr »Gadget« in Japan eingesetzt werden sollte. Sie verließen sich auf Oppenheimer. 645 Eines Tages rief er Robert Wilson in sein Büro: Er sei, so teilte er ihm mit, einer der wissenschaftlichen Teilnehmer des Interimskomitees gewesen, das Stimson beraten sollte, wie die Bombe zu verwenden sei. Nun wolle er Wilsons Meinung hören: »Er ließ mir etwas Zeit zum Nachdenken. … Ich kam zurück und sagte, sie sollte nicht eingesetzt werden, und die Japaner sollten auf irgendeine Weise gewarnt werden.« In ein paar Wochen werde ein Test stattfinden, warum nicht die Japaner auffordern, eine Beobachterdelegation zu schicken?
Gut, habe Oppenheimer gesagt: »Und was ist, wenn sie nicht zündet?«
Wilson fuhr heraus: »Na, wir können sie ja auch alle umbringen.« Sekunden später habe er, der Pazifist, diese blutrünstige Antwort bereut. Es habe ihm wohlgetan, dass Oppenheimer seine Meinung hören wollte, und ihn zugleich enttäuscht, dass seine Ansicht keinen Einfluss auf dessen Einstellung hatte. »Er hätte überhaupt nicht mit mir darüber reden sollen, aber er wollte eben einen Rat von jemandem, und er mochte mich, und ich mochte ihn.« 646
Mitte Juni berief Oppenheimer in Los Alamos eine Sitzung des Wissenschaftlerausschusses ein – dem er selbst, Lawrence, Arthur Compton und Enrico Fermi angehörten –, um über die abschließenden Empfehlungen des Interimskomitees zu reden. Die vier Wissenschaftler diskutierten freimütig über den »Franck Report«, den eine Gruppe von Naturwissenschaftlern unter Vorsitz des Nobelpreisträgers James Franck Anfang des Monats im Metallurgischen Labor in Chicago erstellt hatte. Dieser Bericht, den Compton für sie zusammenfasste, plädierte – und das war von besonderem Interesse – für eine nicht tödliche, gleichwohl drastische Demonstration der Atombombe und ihrer Zerstörungskraft. Wieder verhielt sich Oppenheimer ambivalent: »Ich erklärte meine eigenen Befürchtungen und die bestehenden Argumente … gegen den Gebrauch der Bombe …, aber ohne Stellung zu nehmen.« 647
Am 16. Juni 1945 unterzeichnete Oppenheimer ein kurzes Memorandum, mit dem der Wissenschaftlerausschuss »den sofortigen Einsatz von Atomwaffen« empfahl. Das zurückhaltend formulierte Dokument war adressiert an Minister Stimson. Zunächst und vor Einsatz der Bombe, so der Ausschuss, solle Washington Großbritannien, Russland, Frankreich und China mitteilen, dass die Vereinigten Staaten über Atomwaffen verfügten, und um Vorschläge bitten, »wie wir zusammenarbeiten können, damit diese Entwicklung zur Verbesserung der internationalen Beziehungen beiträgt«. Im Hinblick auf den Ersteinsatz dieser Waffen, so Oppenheimers Bericht, bestehe keine Einigkeit im Ausschuss. Als Alternative zum militärischen Einsatz schlügen manche seiner Erbauer eine Demonstration des »Gadget« vor: »Die Befürworter einer rein technischen Demonstration möchten, dass der Einsatz von Atomwaffen verboten wird, und befürchten, dass mit einem Einsatz jetzt unsere Position in künftigen Verhandlungen vorentschieden wird.« Obwohl Oppenheimer sicher wusste, dass die meisten seiner Kollegen in Los Alamos und im Chicagoer Metallurgischen Labor eine solche Demonstration favorisierten, stärkte er die Position derjenigen, die eine Chance sahen, »durch den sofortigen militärischen Einsatz das Leben von Amerikanern zu schonen …«
Wie kam er dazu? So merkwürdig das klingen mag: Er hat sich von Bohrs Argumenten so wenig entfernt wie die Befürworter einer demonstrativen Testexplosion. Er ging nun davon aus, dass der militärische Einsatz der Bombe in diesem Krieg zukünftige Kriege ausschließen dürfte. Manche seiner Kollegen, so heißt es in seinem Bericht, glaubten, der Einsatz der Bombe in diesem Krieg werde »die internationalen Beziehungen insofern verbessern, als die Beteiligten sich mehr um die Verhinderung eines Krieges kümmern werden als um die Abschaffung dieser besonderen Waffe. Wir stehen dieser letzten Auffassung näher; wir halten es nicht für wahrscheinlich, dass eine technische Demonstration den Krieg beenden wird; wir sehen keine annehmbare Alternative zu einem direkten militärischen Einsatz.« Damit hatte der Ausschuss zur Frage des »militärischen Einsatzes« eindeutig Stellung bezogen; keine einhellige Meinung jedoch herrschte in der Frage, wie der »militärische Einsatz« zu definieren sei. Das berichtete Compton später auch an Groves: Die Mitglieder des Ausschusses »konnten sich … nicht auf eine Erklärung darüber einigen, wie oder unter welchen Bedingungen der Einsatz erfolgen sollte.« Oppenheimer schloss den Bericht mit einer merkwürdigen Verzichterklärung: Als Wissenschaftler hielten sie sich nicht für befugt und »nicht für kompetent, die politischen, sozialen und militärischen Probleme zu lösen, die das Aufkommen der Atomenergie mit sich bringt.« 648 Ein seltsamer Schluss – Oppenheimer sollte bald davon abrücken.
Denn wie er später sagte, gab es zu jenem Zeitpunkt eine Menge Dinge, die er nicht wusste: »Wir hatten keine Ahnung von der militärischen Lage in Japan. Wir wussten nicht, ob die Japaner nicht auch durch andere Mittel zur Kapitulation gezwungen werden konnten, ob also eine Invasion wirklich unumgänglich war. Davon allerdings gingen wir aus; dass die Invasion unvermeidlich war, das hatte man uns gesagt.« Ebenso wenig wusste er, dass der militärische Geheimdienst in Washington Funksprüche aus Japan abgefangen und entschlüsselt hatte, wonach die japanische Regierung inzwischen begriffen hatte, dass der Krieg verloren war, und annehmbare Kapitulationsbedingungen suchte. 649
So etwa drängte der stellvertretende Kriegsminister John J. McCloy seinen Chef Stimson am 28. Mai, doch zu empfehlen, den Begriff »bedingungslose Kapitulation« aus den amerikanischen Forderungen an die Japaner zu streichen. 650 Aus den abgefangenen Funksprüchen der Japaner wussten McCloy und andere hohe Beamte, dass die Regierung in Tokio einen Weg suchte, den Krieg zu beenden, und dabei die amerikanischen Bedingungen weitgehend akzeptierte. Allen Dulles etwa, damals Agent des OSS in der Schweiz, berichtete McCloy: »Sie wollten ihren Kaiser und die Verfassung behalten, weil sie befürchteten, dass eine bedingungslose Kapitulation den Zusammenbruch jeder Ordnung und Disziplin zur Folge hätte.« 651 Am 18. Juni erklärte McCloy dem Präsidenten, seiner Meinung nach sei die militärische Position der Japaner so verzweifelt, dass man sich fragen müsse, »ob wir die Russen tatsächlich brauchen, um Japan zu schlagen«. Bevor eine Invasion oder der Einsatz der Atombombe endgültig beschlossen werde, sollte man politisch-diplomatische Schritte unternehmen, die eine vollständige Kapitulation Japans sicherstellen könnten. Man müsse ihnen erklären, »dass sie den Kaiser behalten und sich eine Regierungsform aussuchen dürfen, die ihren Wünschen entspricht. … Außerdem sollten wir ihnen mitteilen, dass wir noch über eine andere Waffe von unvorstellbarer Zerstörungskraft verfügen, die einzusetzen wir uns gezwungen sähen, sollten sie nicht kapitulieren.« 652
Schließlich schien auch Präsident Truman überzeugt, dass die Japaner kurz vor der Kapitulation stünden. In seinem persönlichen Tagebuch erwähnt er unter dem 18. Juli 1945 eine gerade abgefangene Nachricht, in der eine Botschaft des Kaisers an den japanischen Gesandten in Moskau als »Telegramm des japanischen Kaisers mit der Bitte um Frieden« zitiert wurde. Weiter hieß es: »Das einzige Friedenshindernis ist die bedingungslose Kapitulation …« Truman hatte Stalin die Zusage abgerungen, dass die Sowjetunion Japan bis zum 15. August den Krieg erklären würde, was er und auch viele Militärplaner für entscheidend hielten. Stalin, schrieb Truman am 17. Juli in sein Tagebuch, »wird ab 15. August im Japankrieg dabei sein. Fini Japs, wenn es so weit ist.« 653
Truman und seine Umgebung wussten, dass die Invasion der japanischen Inseln nach den Planungen auf keinen Fall vor dem 1. November stattfinden konnte, und fast alle Berater des Präsidenten waren der Meinung, der Krieg werde sowieso früher zu Ende sein: entweder wegen des Schocks der sowjetischen Kriegserklärung oder aufgrund des politischen Angebots an die Japaner, das Grew, McCloy, Leahy und andere im Sinn hatten. Sie schlugen vor, die Forderung der Abdankung des Kaisers aus den Kapitulationsbedingungen zu streichen. Aber Truman sah – ebenso wie sein engster Berater, Außenminister James F. Byrnes –, dass sich mit der einsatzfähigen Atombombe noch eine weitere Option öffnete. Wie Byrnes später sagte: »Ich hielt es immer für sehr wichtig, den Krieg zu beenden, bevor die Russen dazukämen.« Am 3. August notierte Walter Brown, Byrnes’ Assistent für Sonderaufgaben, in sein Tagebuch: »Der Präsident, Leahy, JFB [Byrnes] übereinstimmend der Meinung, dass die Japs Frieden wollen. (Leahy erhielt einen weiteren Bericht aus dem Pazifik.) Präsident fürchtet, sie werden durch Russland um Frieden bitten statt durch ein Land wie Schweden.«
In der Abgeschiedenheit von Los Alamos hatte Oppenheimer von alldem keine Ahnung, wusste nichts von der leidenschaftlich geführten Debatte um die Kapitulationsbedingungen und auch nicht, dass der Präsident und sein Außenminister auf die Atombombe setzten: Sie wollten den Krieg vor der Intervention der Sowjetunion beenden und ohne die Frage der bedingungslosen Kapitulation klären zu müssen. Wir wissen nicht, wie Oppenheimer reagiert hätte, wäre ihm zu Ohren gekommen, dass der Präsident vor der geplanten Bombardierung Hiroshimas wusste, dass die Japaner Frieden wollten und dass der militärische Einsatz von Atombomben gegen Städte eine Option, aber keine Notwendigkeit war, um den Krieg noch im August zu beenden. Aber wir wissen, dass er nach dem Krieg zu der Auffassung gelangte, er sei irregeführt worden. Und mit dieser Einsicht machte er es sich zur Pflicht, Mitteilungen von Regierungsleuten künftig mit Skepsis zu betrachten.
Zwei Wochen nachdem Oppenheimer das Memorandum mit der zusammenfassenden Stellungnahme des Wissenschaftlerausschusses verfasst hatte, zeigte ihm Edward Teller die Kopie einer Petition, die in den Einrichtungen des Manhattan-Projekts zirkulierte. Entworfen von Leo Szilard, formulierte sie die dringende Bitte an Präsident Truman, keine Atomwaffen zum Einsatz zu bringen, ohne eine öffentliche Erklärung zu den Kapitulationsbedingungen abgegeben zu haben: »Die Vereinigten Staaten sollten den Einsatz von Atombomben in diesem Krieg nicht in Erwägung ziehen, bevor die Bedingungen, die Japan auferlegt werden sollen, öffentlich bekanntgegeben worden sind und Japan eine Kapitulation in Kenntnis dieser Bedingungen abgelehnt hat.« 654 Szilards Petition wurde von 155 Wissenschaftlern des Manhattan-Projekts unterschrieben; eine Gegenpetition bekam nur zwei Unterschriften. Eine davon unabhängige Umfrage der Army unter 150 Naturwissenschaftlern ergab am 12. Juli 1945, dass 72 Prozent der Befragten einer Testexplosion den Vorrang gaben vor einem militärischen Einsatz ohne vorherige Warnung. Gleichwohl zeigte sich Oppenheimer verärgert, als ihm Teller Szilards Petition zeigte: »Was wissen die von der japanischen Psychologie? Woher wollen sie wissen, wie der Krieg zu beenden ist?« Also sollten sie politisch-militärische Entscheidungen besser Männern wie Stimson oder General Marshall überlassen. Die Unterhaltung sei kurz gewesen, so Teller in seinen Memoiren. »Dass er so brüsk über meine Freunde sprach, seine Ungeduld und Heftigkeit empörten mich sehr. Doch bereitwillig akzeptierte ich seine Entscheidung …«
In seinen Memoiren behauptete Teller auch, er habe den Einsatz der Bombe ohne Vorwarnung oder Test für »ziemlich unnütz und moralisch armselig« gehalten. Anders liest sich, was er Szilard am 2. Juli 1945 schrieb. Das »Gadget« sei in der Tat »eine schreckliche Waffe«, aber der Menschheit bliebe immerhin eine Hoffnung: Man müsse »jeden überzeugen, dass der nächste Krieg fatal wird«. Mit keinem Wort deutete er an, dass er einen demonstrativen Test oder eine Vorwarnung für notwendig hielt. Vielmehr heißt es: »Der Zufall, dass wir dieses fürchterliche Ding geschaffen haben, verschafft uns wohl kaum die Kompetenz, darüber mitzubestimmen, wie sie eingesetzt wird.« 655
Kaum anders hatte sich Oppenheimer am 16. Juni in seinem Memorandum an Stimson geäußert. Seiner Meinung nach gab es für die Wissenschaftlergemeinschaft nichts mehr zu tun. Er beschleunigte die Petition nicht, indem er sie direkt nach Washington schickte, sondern ließ sie den normalen Dienstweg der Army nehmen: So kam sie zu spät. 656 Oppenheimer informierte Groves über Szilards Petition, und zwar in geringschätzigem Ton: »Der beigelegte Brief [von Szilard an Creutz] ist eine weitere Episode in den Entwicklungen, die Sie mit Interesse beobachtet haben.« 657 Oberst Nichols rief seinen Vorgesetzten General Groves noch am selben Tag an, und während des Gesprächs über Szilards Petition »fragte Nichols, warum man nicht den Löwen [Szilard] in die Wüste jagt, worauf der General sagte, derzeit unmöglich«. Groves wusste, dass eine Entlassung oder Verhaftung Szilards eine Revolte unter den Wissenschaftlern auslösen würde. Da auch Oppenheimer über Szilards Vorgehen verärgert war, vertraute Groves darauf, das Problem unter Kontrolle halten zu können, bis die Bombe fertig war.
Der Sommer 1945 oben auf der Mesa war ungewöhnlich heiß und trocken. Oppenheimer trieb die Männer in der Tech Area zu längeren Arbeitszeiten, alle gerieten an den Rand ihrer Kräfte. Selbst Miss Warner unten im Tal bemerkte eine Veränderung: »Es herrschte eine gespannte und hektische Atmosphäre auf The Hill. … Wie uns schien, wurden die Explosionen auf der Hochebene zunächst immer häufiger, dann hörten sie auf.« Auch dass der Verkehr auf der Straße nach Alamogordo zunahm, entging ihr nicht. 658
Anfangs hatte Groves den Vorschlag abgelehnt, die Implosionsbombe zu testen: Es gebe so wenig Plutonium, dass man es nicht vergeuden solle. Oppenheimer überzeugte ihn, dass ein Großversuch wegen der »Unvollständigkeit unseres Wissens« absolut notwendig sei. 659 Kenneth Bainbridge, Experimentalphysiker aus Harvard, wählte eine Wüstengegend knapp hundert Kilometer nordwestlich von Alamogordo für den Test. Die Spanier hatten das Gebiet Jornada del Muerto genannt, »Tagesreise des Toten«. Hier steckte die Army eine Fläche von rund dreißig mal vierzig Kilometern ab, ließ einige Farmen räumen und errichtete ein Feldlabor sowie Betonbunker zur Beobachtung des ersten Atombombentests. Oppenheimer nannte den Testplatz »Trinity« – einige Jahre später wusste er allerdings nicht mehr so recht, warum er diesen Namen gewählt hatte. 660
Groves trieb zur Eile, nicht zur Perfektion. Er wollte, dass Truman über eine getestete und einsatzfähige Bombe verfügte, bevor die Potsdamer Konferenz zu Ende ging. Im Frühjahr hatte sich Oppenheimer mit dem 4. Juli als Zieltermin einverstanden erklärt. Das erwies sich als unrealistisch. Ende Juni, Groves hatte weiter Druck gemacht, verkündete Oppenheimer, man solle sich auf den 16. Juli einstellen. 661
Oppenheimer hatte Ken Bainbridge die Leitung der Vorbereitungen für das Trinity-Gelände übertragen und seinen Bruder Frank zu dessen wichtigstem Verwaltungsassistenten gemacht – er war zu Roberts großer Freude Ende Mai in Los Alamos eingetroffen. Kurze Zeit später zog Frank hinaus auf das Trinity-Gelände. Die Lebensbedingungen waren, milde gesagt, spartanisch. Die Männer schliefen in Zelten und schufteten in einer Hitze von über 35 Grad. Als der Termin näher rückte, hielt es Frank für klug, sich auch auf eine Katastrophe vorzubereiten: »Mehrere Tage lang suchten wir Fluchtwege durch die Wüste und fertigten kleine Landkarten für eine mögliche Evakuierung an.« 662
Am Abend des 11. Juli verabschiedete sich Robert von Kitty. Wenn der Test erfolgreich verlaufen sei, werde er ihr eine Nachricht schicken mit den Worten: »Du kannst die Laken wechseln.« Als Talisman schenkte sie ihm ein vierblättriges Kleeblatt aus ihrem Garten. 663
Zwei Tage vor dem anberaumten Testtermin checkte Oppenheimer im Hilton in Albuquerque ein, wo Vannevar Bush, James Conant und andere S-1-Verantwortliche zu ihm stießen, die von Washington eingeflogen waren, um den Test zu beobachten. »Er war sehr nervös«, so der Chemiker Joseph O. Hirschfelder. Und als sei die Spannung nicht schon hoch genug gewesen, ergab eine letzte Testzündung des Implosionssprengstoffs (noch ohne Plutonium), dass man auch mit einem Zündversagen rechnen musste. Man habe ihn, so Kistiakowsky, mit Fragen bestürmt: »Oppenheimer war so aufgeregt, dass ich mit ihm um ein Monatsgehalt gegen zehn Dollar wettete, dass unsere Implosionsladung funktionieren würde.« 664
Die folgende Nacht auf dem Trinity-Gelände schlief Robert nur vier Stunden. General Thomas Farrell, Groves’ verantwortlicher Stellvertreter, der in einer Koje im Nachbarzimmer zu schlafen versuchte, hörte ihn fürchterlich husten. Oppenheimer erwachte an diesem Sonntag, dem 15. Juli, erschöpft und noch deprimiert von den Nachrichten des Vortags. Doch als er im Basislager frühstückte, erreichte ihn ein Anruf Bethes, der ihm meldete, der Implosionstest sei nur wegen eines Kurzschlusses gescheitert. Kein Grund also, warum Kistiakowskys Konstruktion nicht funktionieren sollte. Erleichtert wandte Oppenheimer seine Aufmerksamkeit dem Wetter zu. An diesem Morgen war der Himmel über Trinity klar, doch der Meteorologe Jack Hubbard sagte voraus, dass der Wind auf dem Gelände auffrischen werde. In einem Telefongespräch mit Groves, kurz bevor dieser aus Kalifornien losflog, teilte er diesem mit: »Das Wetter ist launisch.« 665
Als am späten Nachmittag Gewitterwolken aufzogen, fuhr Oppenheimer zum Trinity-Tower, um einen letzten Blick auf sein »Gadget« zu werfen. Er stieg allein auf den Turm und begutachtete sein Werk, eine hässliche, mit Zündkapseln und Drähten versehene Metallkugel. Es schien alles in Ordnung, und nachdem er noch einen Blick über die Landschaft geworfen hatte, kletterte er hinunter, stieg in sein Auto und fuhr hinüber zur McDonald-Ranch, wo der letzte der Männer, die die Bombe zusammengebaut hatten, sein Werkzeug zusammenpackte. Ein heftiges Gewitter zog auf.
Um sich zu entspannen, organisierten einige Wissenschaftler eine Wettkasse – der Einsatz für eine Prognose der tatsächlichen Sprengkraft betrug einen Dollar. Teller, typisch für ihn, wettete sehr hoch: 45000 Tonnen TNT; Oppenheimer dagegen setzte seinen Dollar auf niedrige 3000 Tonnen; Rabi auf 20000 Tonnen, und Fermi sorgte für Unruhe unter den Wachposten der Army, als er nebenher Wetten darüber anbot, ob die Bombe die Atmosphäre entzünden würde oder nicht. 666
Die wenigen Wissenschaftler, die in dieser Nacht zumindest ein wenig Schlaf fanden, wurden von ungewöhnlichem Lärm geweckt. »Alle Frösche der Gegend hatten sich in einem kleinen Tümpel versammelt«, so Frank Oppenheimer, »quakten und kopulierten die ganze Nacht.« Oppenheimer hing im Kasino des Base Camp herum, trank hastig schwarzen Kaffee, drehte sich nervös eine Zigarette nach der anderen. Hin und wieder zog er einen Band Baudelaire aus der Tasche und las in aller Ruhe Gedichte. Ein heftiger Regenguss trommelte auf das Blechdach. Als Blitze durch die Dunkelheit zuckten, befürchtete Fermi, dass sie später aufgrund des starken Windes von radioaktivem Regen durchnässt werden könnten. »Das könnte eine Katastrophe werden«, warnte er und plädierte für eine Verschiebung. 667
Doch Oppenheimers Chefmeteorologe Hubbard versicherte, das Gewitter werde vor Sonnenaufgang abziehen. Er schlug vor, die Explosion um eine Stunde zu verschieben, von vier auf fünf Uhr morgens. Groves, der aufgeregt im Kasino auf und ab lief, voller Sorge, die vorsichtigeren Wissenschaftler könnten Oppenheimer überreden, den Test zu verschieben, entführte ihn schließlich zum Kontrollzentrum South Shelter, etwa drei Kilometer vom Base Camp, neun Kilometer von Ground Zero entfernt. 668
Um halb drei Uhr morgens fegten Wind und heftige Gewittergüsse mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern über das Gelände hinweg. Doch Jack Hubbard und seine Mitarbeiter blieben bei ihrer Vorhersage, das Gewitter werde in der Morgendämmerung abziehen. Oppenheimer und Groves liefen vor South Shelter auf und ab, schauten alle paar Minuten zum Himmel, ob sie eine Wetteränderung erkennen konnten. Um drei Uhr fuhren sie zurück zum Base Camp. Beide hätten einen Aufschub nicht ertragen. »Wenn wir den Test verschieben«, sagte Oppenheimer, »werde ich meinen Leuten nicht noch einmal diesen Einsatz zumuten können.« Groves wollte sowieso nur eines: Der Test musste stattfinden, und zwar jetzt. Schließlich gaben sie bekannt: Um 5:30 Uhr wird die Detonation ausgelöst. Und sie wünschten allen das Beste. Eine Stunde später klarte der Himmel auf, der Wind legte sich. Sam Allison, der Chicagoer Physiker, übernahm den Countdown. Um 5:10 Uhr tönte seine Stimme durch den Lautsprecher außen am Kontrollzentrum: »Es ist jetzt Zero minus zwanzig Minuten.« 669
Frank Oppenheimer lag neben seinem Bruder auf dem Boden, als das »Gadget« explodierte: »Das Licht des ersten Blitzes reflektierte vom Boden und drang durch die Augenlider. Als wir aufschauten, sahen wir den Feuerball und unmittelbar danach diese unirdisch schwebende Wolke. Sie war sehr hell und tief purpurrot.« Vielleicht, so schoss ihm durch den Kopf, »driftet sie über das Gelände hinweg und verschlingt uns«. Dass die Hitze des Blitzes auch nur annähernd so stark sein würde, hatte er nicht erwartet. Einige Momente später hörte man die Druckwelle im weit entfernten Gebirge donnern. »Am schrecklichsten aber war eigentlich diese glänzend pupurrote Wolke, die schwarz war von radioaktivem Staub, die hing dort, und du wusstest nicht, steigt sie auf oder kommt sie auf dich zu.« 670
Die beiden lagen etwa 9000 Meter südlich von Ground Zero. Als der Countdown die Zwei-Minuten-Marke erreichte, murmelte Oppenheimer noch: »Herr, diese Dinge liegen schwer auf dem Herzen.« Während die letzten Sekunden gezählt wurden, schaute ein Armeegeneral zu ihm hinüber: »Dr. Oppenheimer … wurde immer angespannter, als die letzten Sekunden verstrichen. Er atmete kaum. … Während der letzten Sekunden starrte er geradeaus, und dann, als der Zähler ›Jetzt!‹ schrie und dieses mächtige Licht hervorbrach und der tief tosende Donner der Explosion folgte, da entspannte sich sein Gesicht mit dem Ausdruck ungeheurer Erleichterung.« 671
Wir wissen natürlich nicht, was ihm in diesem folgenschweren Augenblick durch den Kopf ging. Sein Bruder meinte später: »Ich glaube, wir sagten nur: Es hat geklappt.« 672 Rabi, der Oppenheimer etwas später und auch nur von weitem zu sehen bekam, sagte, es sei etwas an seinem Gang gewesen – diese lockere Haltung eines Mannes, der sein Schicksal im Griff zu haben glaubt –, das ihm, Rabi, einen Schauer über den Rücken laufen ließ: »Ich werde nie vergessen, wie er ging und wie er aus dem Auto stieg … wie in High Noon … dieser stolze Gang. Er hatte es geschafft.« 673
Am späteren Vormittag bat William L. Laurence, ein Journalist der New York Times, den Groves für die Berichterstattung eingebunden hatte, Oppenheimer um einen Kommentar. Auf sehr nüchterne Art habe dieser seine Gefühle beschrieben: Die Wirkung der Explosion sei »erschreckend« gewesen, »nicht ohne Bedrückung«, und nach einer kurzen Pause habe er hinzugefügt: »Viele Jungs, die noch nicht erwachsen sind, werden ihr das Leben verdanken.« 674
Viel später, in einer NBC-Fernsehdokumentation von 1965, sagte Oppenheimer, beim Anblick der unirdischen pilzförmigen Wolke, die über Ground Zero in den Himmel stieg, seien ihm Verse aus der Bhagavad Gita in den Sinn gekommen: »Wir wussten, dass die Welt nicht mehr dieselbe sein würde. Manche lachten, manche weinten. Die meisten schwiegen. Das war dieser Vers aus der Bhagavad Gita, der heiligen Schrift der Hindus. Vishnu versucht den Fürsten zu überzeugen, seine Pflicht zu tun, und um ihm Eindruck zu machen, nimmt er ihn in seine vielen Arme und sagt: ›Nun bin ich der Tod geworden, der alles raubt, Erschütterer der Welten.‹ Ich nehme an, wir alle dachten irgendetwas in der Art.« Freund Abraham Pais freilich meinte, dieses Zitat klinge wie eine von »Oppies priesterlichen Übertreibungen«. 675
Als er das Kontrollzentrum verließ, schüttelte er Ken Bainbridge die Hand, dieser blickte ihm in die Augen und murmelte: »Jetzt sind wir alle Schweinehunde.« 676 Zurück im Base Camp trank Oppenheimer einen Brandy mit seinem Bruder und General Farrell. Dann soll er, so ein Historiker, in Los Alamos angerufen und seine Sekretärin gebeten haben, seiner Frau etwas auszurichten: »Sagen Sie ihr, sie kann die Laken wechseln.« 677