Einen Steinwurf weit von der Verzweiflung.
J. Robert Oppenheimer
Nach der Rückkehr nach Los Alamos schienen alle in Feierstimmung. Der immer überschwängliche Richard Feynman saß auf der Kühlerhaube eines Jeeps und schlug auf seine Bongotrommeln ein. »Aber ein Mann, Bob Wilson, daran kann ich mich erinnern, machte eine saure Miene«, schrieb Feynman später.
»Warum«, fragte er ihn, »machen Sie so eine saure Miene?«
»Es ist etwas Furchtbares, was wir da gemacht haben.«
Gleichwohl, auch die Euphorie ist verständlich. Jeder, der nach Los Alamos gekommen war, so Feynman, hatte dies aus guten Gründen getan. »Und dann arbeitet man sehr hart, um etwas zustande zu bringen, und das macht Spaß, es ist aufregend. Und man hört auf zu denken, nicht wahr; man hört einfach auf . Bob Wilson war der Einzige, der in diesem Moment noch darüber nachdachte.« 678
Feynman irrte sich. Auch Oppenheimer war nachdenklich. In den Tagen nach Trinity begann sich seine Stimmung zu ändern. Die meisten in Los Alamos jedoch entspannten sich, es war eine lange anstrengende Zeit gewesen, die sie im Labor verbracht hatten. Mit Trinity aber war das »Gadget« zur Waffe geworden, und für Waffen war das Militär zuständig. Anne Wilson, Oppenheimers Sekretärin, erinnerte sich an eine Reihe von Sitzungen mit Offizieren der Army Air Force 679 : »Sie suchten Ziele aus.« Oppenheimer kannte die Namen der japanischen Städte, die als Ziele in Frage kamen – und dieses Wissen war ernüchternd. »Robert ist sehr still geworden in diesen zwei Wochen, nachdenklich«, so Wilson, »sicher auch, weil er wusste, was geschehen würde, und weil er wusste, was das bedeutete.« Bald nach Trinity verblüffte Oppenheimer seine Sekretärin mit einer traurigen, ja mürrischen Bemerkung. »Er fühlte sich sehr schlecht. Mir ist sonst niemand aufgefallen, der in einer solchen Stimmung war. Er ging immer zu Fuß von seinem Haus zum Technik-Gelände, und ich kam vom Wohnbereich der Krankenschwestern, und da liefen wir uns oft über den Weg. An einem Morgen sog er an seiner Pfeife und sagte: ›Diese armen kleinen Menschen, diese armen kleinen Menschen‹ – er meinte die Japaner.« Mit einem Hauch von Resignation habe er das gesagt. Und mit todsicherem Wissen.
Und doch arbeitete Oppenheimer auch noch in dieser Woche hart daran, dass die Bombe zuverlässig und wirkungsvoll über diesen »armen kleinen Menschen« explodierte. Am Abend des 23. Juli traf er sich mit General Thomas Farrell und dessen Adjutanten Oberstleutnant John F. Moynahan, die den Abwurf auf Hiroshima von der Insel Tinian aus leiten sollten. Es war eine kühle und sternenklare Nacht. Nervös, eine Zigarette nach der anderen rauchend, ging Oppenheimer in seinem Büro auf und ab, wollte ganz sicher sein, dass die Militärs seine Anweisungen für den Abwurf genau verstanden. Moynahan, ein ehemaliger Journalist, hat 1946 einen anschaulichen Bericht von diesem Abend veröffentlicht: »›Lassen Sie die Bombe nicht durch Wolken oder einen bewölkten Himmel abwerfen‹ [sagte Oppenheimer]. Er war emphatisch, gespannt, seine Nerven sprachen. – ›Sie müssen das Ziel sehen. Kein Radar, die Abwurfstelle muss zu sehen sein.‹ Lange Schritte, die Fußspitzen nach außen gekehrt, die nächste Zigarette. – ›Es macht natürlich nichts aus, den Abwurf mit Radar zu kontrollieren, aber der Abwurf muss bei guter Sicht erfolgen.‹ Wieder lange Schritte. – ›Wenn Sie bei Nacht abwerfen, sollte der Mond scheinen, das wäre am besten. Natürlich darf sie nicht bei Regen oder Nebel abgeworfen werden. … Auch sollte sie nicht in zu großer Höhe detonieren. Die verabredete Position ist genau richtig. In größerer Höhe sollte die Bombe nicht losgehen, sonst richtet sie nicht so viel Schaden an.‹« 680
Oppenheimer hatte den Bau der Atombomben organisiert, jetzt sollten sie eingesetzt werden. Doch würden sie, zumindest redete er sich das ein, so eingesetzt, dass dies nicht zu einem Wettrüsten mit der Sowjetunion führte. Kurz nach dem Trinitytest hörte er zu seiner Erleichterung von Vannevar Bush, das Interimskomitee habe seine Empfehlung, die Russen über die Bombe und ihren bevorstehenden Einsatz gegen Japan zu informieren, einstimmig angenommen. Er ging davon aus, dass diese offene Diskussion noch in Potsdam, während der Konferenz zwischen Truman, Churchill und Stalin, stattfinden würde. Bestürzt erfuhr er später, was bei diesem Treffen der Großen Drei tatsächlich geschehen war. 681 Anstatt offen zur Sprache zu bringen, um welche Art Waffe es sich handelte, beschränkte sich Truman wortkarg auf einen kryptischen Hinweis: »Am 24. Juli«, so heißt es in seinen Erinnerungen, »sagte ich ganz beiläufig zu Stalin, dass wir jetzt über ein neues Kampfmittel von außergewöhnlicher Zerstörungskraft verfügten. Er zeigte kein besonderes Interesse, sondern bemerkte lediglich, er hoffe, wir würden es mit gutem Nutzen gegen Japan einsetzen.« 682 Das war entschieden weniger, als Oppenheimer erwartet hatte.
Am 6. August 1945, um 8:14 Uhr, warf ein Bomber vom Typ B-29 eine ungetestete Gun-Design-Uranbombe auf Hiroshima ab. Der Bomber trug den Namen der Mutter des Piloten Paul Tibbets: Enola Gay . Um 14:00 Uhr griff General Groves in Washington zum Telefon und ließ sich mit Oppenheimer in Los Alamos verbinden. Der General war in Glückwunschlaune: »Ich bin stolz auf Sie und auf alle Ihre Leute.«
»Ging es gut?«, fragte Oppenheimer.
»Offensichtlich ging sie mit einem furchtbaren Knall los …«
»Alle hier sind ziemlich zufrieden, und ich möchte Ihnen auch meine herzlichen Glückwünsche aussprechen. Es war ein weiter Weg.«
»Ja, ein weiter Weg, und ich finde, die Wahl des Leiters von Los Alamos gehört zum Klügsten, was ich je getan habe.«
»Nun, da bin ich nicht so sicher, General Groves.«
»Ach was, Sie wissen doch, dass ich Ihre Bedenken nie geteilt habe.« 683
Später wurde die Nachricht in Los Alamos über Lautsprecher bekannt gegeben: »Achtung, Achtung. Eine unserer Einheiten ist soeben erfolgreich auf Japan abgeworfen worden.« Frank Oppenheimer stand auf dem Gang vor dem Büro seines Bruders, als er die Nachricht vernahm. Seine erste Reaktion: »Gott sei Dank, kein Blindgänger!« – aber in Sekundenschnelle, so erinnerte er sich, »überfiel mich der Horror wegen der vielen Opfer.« 684
Abends drängten sich viele in einen Hörsaal. Sam Cohen, damals ein junger Physiker, erinnerte sich, wie er mit den anderen auf Oppenheimer wartete, freudig erregt trampelten sie mit den Füßen auf den Boden. Alle dachten, er werde wie gewöhnlich von der Seite her auf die Bühne kommen. Doch er hatte sich zu einem feierlichen Auftritt entschlossen und schritt von hinten durch den Mittelgang des großen Saales nach vorn. Auf der Bühne angekommen, schob er die Hände ineinander, hob sie über den Kopf und schüttelte sie wie ein Preisboxer. Dann sagte er der ausgelassenen Menge, es sei »zu früh, genau festzustellen, welche Wirkung die Bombe hatte, aber er sei sicher, dass die Japaner sie nicht mochten«. Die Menge klatschte Beifall und bekundete lautstark Zustimmung, als Oppenheimer von seinem Stolz auf die gemeinsame Leistung sprach. Nur eines täte ihm leid, nämlich dass »wir die Bombe nicht rechtzeitig fertigbekommen haben, um sie gegen die Deutschen einzusetzen. Da brach ein Lärm los, der fast das Dach angehoben hätte.« 685 Ganz offenkundig spielte er eine Rolle dort auf der Bühne, eine Rolle allerdings, die nicht zu ihm passte. Wissenschaftler sind keine Generäle, die Eroberungen machen. Doch auch Oppenheimer war nur ein Mensch, und er wird den Kitzel des Erfolgs gespürt haben. Außerdem wollte ihn das Publikum überschwänglich und als Sieger sehen. Für den Augenblick erfüllte er diese Erwartung.
Phil Morrison, der den Transport und das Verladen der Bombe in die Enola Gay begleitet hatte, hörte die Nachricht auf der Insel Tinian: »An diesem Abend feierten alle, die aus Los Alamos waren, kräftig. Es war Krieg, und wir hatten gesiegt, also auch ein Recht zu feiern. Aber ich weiß noch, wie ich da saß … auf dem Rand eines Feldbetts … und mich fragte, wie es wohl auf der anderen Seite aussah, was an diesem Abend in Hiroshima vor sich ging.« 686
In Los Alamos, so sagte Alice Kimball Smith später mit Nachdruck, habe »sicher niemand Hiroshima gefeiert«. »Ein paar Leute« in den Männerwohnheimen hätten schon versucht, eine Party zustande zu bringen, seien aber »kläglich gescheitert«. Viele seien erst gar nicht gekommen, andere zogen sich schnell zurück. Damit waren die Wissenschaftler gemeint, die sich schweigend, überhaupt ganz anders verhielten als die Soldaten. Oppenheimer nahm an einer Party teil, und als er nach Hause ging, sah er, wie sich ein fassungsloser Physiker in einem Gebüsch fürchterlich erbrach. Da wusste er: Es wurde Bilanz gezogen. 687
Robert Wilson war erschüttert über die Nachrichten aus Hiroshima. Er war stets gegen den Einsatz der Bombe gewesen und glaubte mit Grund annehmen zu können, dass sie nicht zum Einsatz kommen werde. Im Januar hatte ihn Oppenheimer überredet weiterzuarbeiten – er tat es, doch nur, weil er davon ausging, die Bombe würde nur zu Demonstrationszwecken gezündet. Oppenheimer hatte an den Diskussionen des Interimskomitees teilgenommen, Wilson wusste das. Und natürlich war ihm klar, dass Oppenheimer ihm nichts hatte versprechen können – die Entscheidung lag bei den Generälen, bei Kriegsminister Stimson und letztlich beim Präsidenten. Doch er sah sein Vertrauen missbraucht: »Ich fühlte mich betrogen, als die Bombe ohne vorherige Diskussion mit den Japanern oder ohne eine friedliche Demonstration ihrer Stärke abgeworfen wurde.« 688
Wilsons Frau Jane war in San Francisco, als sie die Nachricht aus Hiroshima hörte. Sie kehrte eilends nach Los Alamos zurück und begrüßte ihren Mann mit einem glückstrahlenden Lächeln, aber er sei sehr »sehr deprimiert« gewesen. Und dann, drei Tage später, legte eine zweite Bombe Nagasaki in Schutt und Asche. »Die Leute zogen herum mit leeren Bierdosen, die sie aufeinanderschlugen«, so Jane Wilson. »Er nicht, er war gekränkt und unglücklich.« Er sei, so Bob Wilson, »regelrecht krank gewesen, mir war so übel, dass ich dachte, ich müsste mich übergeben …« 689
Nicht nur Wilson ging es so. »In den Tagen danach«, schrieb Alice Kimball Smith, die Frau des Metallurgen Cyril Smith, »wuchsen Schrecken und Abscheu, und selbst die, die der Auffassung waren, das Kriegsende rechtfertige den Abwurf, machten eine intensive persönliche Erfahrung mit der Realität des Bösen.« Nach Hiroshima noch waren die meisten auf der Mesa völlig begeistert gewesen. Nach Nagasaki dann, so Charlotte Serber, war die Stimmung im Labor durchweg gedrückt. Bald machte das Wort die Runde: »Oppie sagt, die Atombombe ist eine so schreckliche Waffe, dass Kriege von jetzt an unmöglich sind.« Ein Informant des FBI berichtete am 9. August, Oppenheimer sei ein »Nervenwrack«. 690
Am 8. August erklärte die Sowjetunion Japan den Krieg, so wie es Stalin auf der Konferenz von Jalta versprochen und in Potsdam bekräftigt hatte. Ein verhängnisvoller Entschluss für die Falken unter den kaiserlichen Beratern, die geglaubt hatten, man könne die Sowjetunion dazu bewegen, bei den Amerikanern mildere Kapitulationsbedingungen zu erwirken. 691 Zwei Tage später – einen Tag, nachdem Nagasaki von der Plutoniumbombe verwüstet worden war – übermittelte die japanische Regierung ein Kapitulationsangebot – mit nur noch einer Bedingung: Der Status des Kaisers dürfe nicht angetastet werden. Am Tag darauf erklärten sich die Alliierten bereit, die Bedingungen der Kapitulation neu zu definieren: Die Regierungsgewalt des Kaisers sollte »dem Oberbefehlshaber der alliierten Mächte unterstellt« sein. Am 14. August gab Radio Tokio bekannt, die Regierung habe diese Klarstellung angenommen. Japan hatte kapituliert, der Krieg war zu Ende – und schon nach wenigen Wochen begannen Journalisten und Historiker darüber zu streiten, ob er unter ähnlichen Bedingungen und etwa zur gleichen Zeit auch ohne die Bomben zu Ende gegangen wäre. Am Wochenende nach der Bombardierung Nagasakis traf Ernest Lawrence in Los Alamos ein. Er fand Oppenheimer müde, wortkarg und voller Skrupel wegen der Bombenabwürfe. 692
Oppenheimer verwandte an diesem Wochenende viel Zeit darauf, den Abschlussbericht des Wissenschaftlerausschusses an Minister Stimson zu schreiben. Er kam zu einem pessimistischen Ergebnis: »Wir sind fest davon überzeugt, dass sich keine militärischen Gegenmaßnahmen werden finden lassen, um den Einsatz von Atomwaffen wirksam zu verhindern.« Vielmehr würden diese ohnehin schon höchst destruktiven Waffen künftig noch größer und todbringender werden. Gerade drei Tage war es her, dass der Gegner kapituliert, die Vereinigten Staaten gesiegt hatten, als Oppenheimer dem Kriegsminister und dem Präsidenten erklärte, dass sich das Land gegen diese neuen Waffen nicht wehren könne: »Wir sind nicht nur außerstande, ein Programm zu entwerfen, das diesem Land für die nächsten Jahrzehnte auf dem Gebiet der Atomwaffen die Führung sichert, sondern können auch nicht sicher sagen, dass diese Führungsrolle, sollte sie erreicht werden, uns vor den schrecklichsten Verwüstungen schützt. … Wir glauben, dass die Sicherheit dieses Landes – im Gegensatz zu seiner Fähigkeit, feindlichen Mächten Schaden zuzufügen – nicht völlig, ja nicht einmal vorrangig auf seinem wissenschaftlichen und technischen Können beruht. Sicherheit wird es nur geben, wenn zukünftige Kriege unmöglich gemacht werden.« 693
Noch in der gleichen Woche brachte er das Schreiben persönlich nach Washington, wo er mit Vannevar Bush und Stimsons Berater George Harrison zusammentraf. »Es war der falsche Zeitpunkt«, berichtete er Lawrence Ende August, »zu früh, um Klarheit zu gewinnen.« Er hatte versucht darzulegen, wie sinnlos den Wissenschaftlern jede weitere Arbeit an der Atombombe erschien. Zu Ende gedacht implizierte das, dass die Bombe für rechtswidrig erklärt werden müsste, ebenso wie Giftgas nach dem letzten Krieg. Doch bei niemandem, den er in Washington traf, fand er Unterstützung. »Aus den Gesprächen gewann ich den Eindruck, dass es in Potsdam sehr schlecht gelaufen sein muss und dass wenige oder gar keine Fortschritte gemacht wurden, die Russen für eine Zusammenarbeit oder eine gemeinsame Kontrolle zu interessieren.« Noch deprimierter als bei seiner Abreise kehrte er nach New Mexico zurück. 694
Einige Tage später fuhren Robert und Kitty Oppenheimer für eine Woche allein nach Perro Caliente. Sie wollten herausfinden, was diese unglaublich intensiven zwei Jahre für ihre Beziehung bedeuteten. Zum ersten Mal seit drei Jahren hatten sie ein wenig Zeit für sich allein. Oppenheimer nutzte die Gelegenheit, seine persönliche Korrespondenz zu erledigen, vor allem den Freunden schrieb er, die erst aus der Zeitung erfahren hatten, was er im Krieg getan hatte. So auch seinem alten Lehrer Herbert Smith: »Sie werden mir glauben, dass dieses Unternehmen nicht ohne böse Ahnungen abgelaufen ist. Sie liegen uns heute schwer auf der Seele, da die Zukunft, die so vielversprechende Elemente hat, doch nur einen Steinwurf weit von der Verzweiflung ist.« Ähnlich schrieb er Frederick Bernheim, seinem Zimmergenossen aus Harvard: »Wir sind jetzt auf der Ranch, in einer ernsten, aber nicht zu optimistischen Suche nach geistiger Gesundheit. … Wie es aussieht, wird uns das noch einiges Kopfweh bereiten.« 695
Am 7. August hatte Haakon Chevalier einen Glückwunsch geschickt: »Lieber Opje, wahrscheinlich bist Du der heute berühmteste Mann der Welt.« 696 Oppenheimer antwortete am 27. August mit einem dreiseitigen handgeschriebenen Brief. Der Brief sei, so Chevalier später, voller »Zuneigung und unkomplizierter Intimität« gewesen, »wie sie stets zwischen uns geherrscht hatte«. Über die Bombe schrieb Oppenheimer: »Das Ding musste gemacht werden, Haakon. Es hätte dem öffentlichen Nutzen dienen sollen, als die Menschen auf der ganzen Welt sich nach Frieden sehnten wie nie zuvor und dabei sowohl auf die Technik setzten, die sie als Lebensstil und Form des Denkens verstanden, wie auch auf den Gedanken, dass niemand eine Insel ist.« Aber er war mit dieser Verteidigung keineswegs zufrieden. »Die Umstände lassen uns Böses ahnen und sind weitaus schwieriger, als sie sein sollten, wenn wir denn die Macht hätten, die Welt neu zu erschaffen, so wie wir uns das vorstellen.« 697
Oppenheimer hatte sich bereits seit längerem entschieden, seine Stelle als wissenschaftlicher Leiter aufzugeben. Ende August erreichten ihn Angebote aus Harvard, Princeton und von der Columbia University – instinktiv aber tendierte er dazu, nach Kalifornien zurückzukehren: »Ich habe das Gefühl, dass ich dorthin gehöre, ein Gefühl, über das ich mich wahrscheinlich nicht hinwegsetzen kann«, schrieb er James Conant, dem Präsidenten von Harvard. 698 Und an Lawrence: »Ich habe sehr gemischte und traurige Gefühle im Hinblick auf Berkeley.« Er sei, erinnerte er seinen Freund, »immer viel mehr der Underdog« gewesen »als Du. Das ist ein Teil von mir, der sich wahrscheinlich nicht ändern wird, weil ich mich seiner nicht schäme.« 699 Noch hatte er keinen Entschluss gefasst. Da war der Name Oppenheimer auf der ganzen Welt bekannt, doch der Mann, der sich als »Underdog« bezeichnete, stürzte in eine Depression. Zurück in Los Alamos sagte Kitty Oppenheimer ihrer Freundin Jean Bacher: »Du kannst dir nicht vorstellen, wie furchtbar es für mich war. Robert war völlig durcheinander.« Jean Bacher wiederum war erschüttert über den Zustand der Freundin: »Sie hatte Angst, wusste nicht, wie es weitergehen sollte, so schrecklich war Roberts Zustand.«
Das Ungeheuerliche, das in Hiroshima und Nagasaki geschehen war, hatte ihn tief getroffen. »Kitty sprach nicht gern über ihre Gefühle«, erzählte Jean. »Damals aber sagte sie, sie wisse nicht, wie sie damit fertig werden solle.« Auch mit anderen hat Oppenheimer über seine Verzweiflung gesprochen. In einem Brief, den er bald nach Kriegsende an seine Klassenkameradin Jane Didisheim schrieb, habe er »in aller Deutlichkeit und Traurigkeit seine Enttäuschung und seinen Schmerz zum Ausdruck« gebracht. 700
Viele in Los Alamos reagierten ähnlich – vor allem nachdem Bob Serber und Phil Morrison im Oktober mit der ersten Gruppe wissenschaftlicher Beobachter aus Hiroshima und Nagasaki zurückgekehrt waren. Bis dahin traf man sich manchmal in einer Wohnung und versuchte zu verstehen, was passiert war. »Aber erst durch Phil habe ich es wirklich verstanden«, so Jean Bacher. »Er konnte sehr gut beschreiben, was dort geschehen ist. Ich war völlig fertig. Ich ging nach Hause und konnte nicht schlafen, es schüttelte mich die ganze Nacht, ein furchtbarer Schock.« 701
Morrison war einunddreißig Tage nachdem die Enola Gay ihre tödliche Last abgeworfen hatte, nach Hiroshima gekommen: »Praktisch alle Menschen auf der Straße in einem Umkreis von anderthalb Kilometern verbrannten durch die Hitze der Bombe. Der heiße Blitz verursachte plötzliche und merkwürdige Verbrennungen. Sie [die Japaner] berichteten von Leuten, die gestreifte Kleidung trugen und deren Haut in Streifen verbrannt war. … Viele waren glücklich, mit nur leichten Verletzungen aus ihren Häusern herausgekommen zu sein, aber sie starben weg, starben Tage oder Wochen später aufgrund der radioaktiven Strahlung, die bei der Explosion freigesetzt wurde.« Morrison erstattete in Los Alamos offiziell Bericht über das, was er gesehen hatte. Der Radiostation Albuquerque lieferte er eine persönliche Zusammenfassung: »Wir kreisten schließlich in niedriger Höhe über Hiroshima und blickten ungläubig hinunter. Unter uns war der flache, rot versengte Boden einer ehemaligen Stadt zu sehen. … Nicht Hunderte von Flugzeugen hatten diese Stadt in einer langen Nacht heimgesucht, nein, ein einziger Bomber und eine einzige Bombe verwandelten in der Zeit, die eine Gewehrkugel braucht, um über die Stadt zu fliegen, diese Stadt von dreihunderttausend Einwohnern in einen brennenden Scheiterhaufen. Das war das eigentlich Neue.« 702
Edith Warner hörte die Nachricht von Hiroshima zuerst von Kitty Oppenheimer, als diese kam, um frisches Gemüse zu holen: »Jetzt erklärte sich so manches«, notierte Edith anschließend. Mehrere Physiker fühlten sich genötigt, das Haus an der Otowi Bridge aufzusuchen und sich der freundlichen Miss Warner zu erklären. Morrison schrieb ihr, er hoffe, dass »intelligente und gutwillige Menschen die Krise, in der wir uns befinden, verstehen«. Er und viele andere gleichgesinnte Physiker glaubten, das einzig Vernünftige, was man jetzt tun könne, sei, alles, was mit der Atomenergie zu tun habe, unter internationale Kontrolle zu stellen. »Die Wissenschaftler wissen«, antwortete Edith Warner in ihrem Weihnachtsbrief 1945, »dass sie nicht in die Labors zurückkehren und die Atomenergie den Militärs und Politikern überlassen können.« 703
Oppenheimer war bewusst, dass mit dem Manhattan-Projekt genau das eingetroffen war, was Rabi befürchtet hatte – die Herstellung einer Massenvernichtungswaffe war zum »Höhepunkt von drei Jahrhunderten Physik« geworden. Das Projekt hat die Physik arm gemacht, und dies nicht nur in einem metaphysischen Sinn. Bald verachtete er die wissenschaftliche Leistung: »Wir nahmen diesen Baum mit vielen reifen Früchten«, sagte er Ende 1945 vor einem Senatsausschuss, »wir schüttelten ihn heftig, und was dabei herauskam, waren Radar und Atombomben. Die geistige Einstellung im Krieg war nur darauf ausgerichtet, das, was bekannt war, fieberhaft und unbedenklich auszubeuten.« Der Krieg habe »eine bemerkenswerte Wirkung auf die Physik« gehabt, »er hat sie praktisch zum Stillstand gebracht«. 704
Am Freitag, dem 21. September 1945 verabschiedete sich Oppenheimer von Henry Stimson. Es war dessen achtundsiebzigster Geburtstag, sein letzter Tag im Amt des Kriegsministers. Oppenheimer wusste, dass Stimson nachmittags einen Abschiedsempfang im Weißen Haus gab, auf dem er »für einen offenen Umgang mit der Atomkraft« eintreten wollte – »viel zu spät«, wie Oppenheimer empfand. Nach einem Eintrag in seinem Tagebuch hatte sich Stimson vorgenommen, Präsident Truman geradeheraus zu sagen, dass »wir Russland sofort die Gelegenheit bieten sollten, gegen angemessene Gegenleistungen an der Bombe teilzuhaben«. Oppenheimer hatte den alten Mann gern und vertraute ihm; er bedauerte nur, dass er gerade jetzt aus dem Amt schied, in diesem kritischen Augenblick, in dem die Auseinandersetzungen darüber entbrannten, wie man mit der Atombombe in der Nachkriegszeit verfahren sollte. Noch einmal erklärte er bestimmte technische Aspekte der Bombe, dann begleitete er Stimson auf dessen Bitte zum Friseur des Pentagon. Zum Abschied erhob sich Stimson aus dem Frisierstuhl, gab Oppenheimer die Hand und sagte: »Jetzt liegt es in Ihrer Hand.« 705