25.
»Man könnte New York zerstören«

Ich finde, dass die Physik und ihre Lehre, die mein Leben sind, jetzt irrelevant erscheinen.
J. Robert Oppenheimer

Oppenheimer war zu einer einflussreichen Stimme in Washington geworden – und das rief J. Edgar Hoover auf den Plan. Seit Herbst 1945 ließ er abträgliche Informationen über die Verbindungen des Physikers mit Kommunisten zirkulieren; am 15. November 1945 etwa schickte er eine dreiseitige Zusammenfassung von Oppenheimers FBI-Dossier an das Weiße Haus und den Außenminister. Dem FBI sei bekannt, dass Funktionäre der KP von Oppenheimer als »regulärem« Parteimitglied sprächen. Und: »Seit dem Einsatz der Atombombe haben Kommunisten in Kalifornien, die Oppenheimer vor seiner Ernennung zum Leiter des Atombombenprojekts kannten, ihr Interesse zum Ausdruck gebracht, die alten Kontakte zu erneuern.« 729

Eine fragwürdige Mitteilung. Richtig daran war nur, dass das FBI kalifornische Kommunisten abgehört hatte, die Oppenheimer tatsächlich als Parteimitglied bezeichneten. Aber das ist kaum überraschend. Schon vor dem Krieg hatten viele Parteimitglieder angenommen, Oppenheimer sei ebenso engagiert wie sie. Und nun wollten alle, die ihn von damals kannten, den berühmten »Atombombenphysiker« als einen der Ihren reklamieren; so der kommunistische Parteifunktionär David Adelson, den Agenten des FBI nur vier Tage nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima in einem Telefongespräch sagen hörten:

»Ist es nicht schön, dass Oppenheimer diese Ehre zuteilwurde?«

Am anderen Ende der Leitung das aktive Parteimitglied Paul Pinsky: »Klar doch. Sollen wir ihn als Mitglied ausgeben?«

Adelson lachend: »Oppenheimer war doch der, der mir den Anstoß gegeben hat. Erinnerst du dich an diese Sitzung?«

Pinsky: »Ja.«

Adelson: »Sobald die Gestapo nicht mehr dauernd um ihn herum ist, versuche ich, auf ihn zuzugehen. Der Kerl ist jetzt so groß, dass niemand an ihn rankommt, aber er muss sich äußern.« 730

Keinerlei Zweifel scheinen die beiden zu haben, dass Oppenheimer mit ihrer Politik sympathisiert. War er darum aber auch ein Genosse? Nicht einmal die Agenten konnten übersehen, dass Pinskys Frage – »Sollen wir ihn als Mitglied ausgeben?« – »seine Mitgliedschaft in der Partei zweifelhaft erscheinen lässt«. 731

Das Weiße Haus und das Außenministerium kümmerten sich nicht um Hoovers Tonbänder. Gleichwohl hetzte der seine Agenten weiter hinter den Oppenheimers her. Ende 1945 installierten sie eine Abhöranlage in Frank Oppenheimers Wohnung in einem Vorort von Berkeley. Am 1. Januar 1946 hörte das FBI mit, wie Oppenheimer, der seinen Bruder zu einer Neujahrsparty besuchen kam, mit Pinsky und Adelson sprach. Die wollten ihn dafür gewinnen, auf einer ihrer Veranstaltungen eine Rede über die Atombombe zu halten. Oppenheimer lehnte höflich ab (während Frank zusagte). Die beiden Funktionäre überraschte das nicht. Von Barney Young, einem ihrer Genossen, hatten sie bereits gehört, dass die Partei versucht hatte, mit Oppenheimer in Verbindung zu treten, der aber habe »nichts getan, um den Kontakt aufrechtzuerhalten«. 732 Tatsächlich hatte Oppenheimers Freund Steve Nelson, der Parteivorsitzende von Oakland, verschiedentlich signalisiert, dass er ihre alte Freundschaft wieder aufnehmen wolle. Oppenheimer hatte nicht geantwortet.

Nelson hat Oppenheimer nach dem Krieg nicht mehr getroffen. Andere Funktionäre mögen ihn für einen Sympathisanten gehalten haben. Doch selbst Haakon Chevalier war klar, dass sich Oppenheimer nie der Parteidisziplin unterworfen, sondern stets einen »individualistischen Kurs« eingeschlagen hatte. Oppenheimer selbst hätte seine Beziehungen zur KP gewiss präzise beschreiben können, für alle anderen war schwer zu beurteilen, welcher Art und wie bedeutsam sie für ihn waren. Seine Parteimitgliedschaft jedenfalls konnte das FBI nie beweisen. Dennoch – in den nächsten acht Jahren produzierten Hoovers Agenten Jahr um Jahr rund 1000 Seiten Akten, Überwachungsberichte und Abhörprotokolle, und sie hatten nichts anderes im Sinn, als einen »individualistischen« Denker zu diskreditieren. Am 8. Mai 1946 wurde in Oppenheimers Telefon in der Wohnung auf dem Eagle Hill ein Abhörgerät installiert. 733

Hoover leitete die Ermittlungen persönlich, ohne irgendwelche Skrupel. Anfang März 1946 instrumentalisierte das FBI einen katholischen Priester, um Anne Wilson, Oppenheimers Sekretärin in Los Alamos, als Informantin zu gewinnen. Father John O’Brien aus Baltimore behauptete, er kenne die Wilson als »katholisches Mädchen« und glaube sie überreden zu können, mit dem FBI zusammenzuarbeiten, »um an Informationen zu kommen, die Oppenheimers Kontakte und Aktivitäten im Hinblick auf die mögliche Enthüllung von Geheimnissen im Zusammenhang mit der Atombombe betreffen«. Hoover kritzelte auf den entsprechenden Aktenvermerk: »OK, wenn Father dichthält.«

Daraufhin bat Father O’Brien um »nachteilige Informationen über Oppenheimer, die brauchbar sind, um das Mädchen zum Reden zu ermuntern«. Sein Ansprechpartner beim FBI hielt dies für keine gute Idee, der Priester solle zunächst direkt sondieren. So traf sich der Priester am Abend des 26. März 1946 mit Anne Wilson – und musste den Agenten am nächsten Morgen berichten, »das Mädchen« habe »wegen ihrer religiösen Überzeugungen und ihres Patriotismus nicht zur Zusammenarbeit überredet werden können«. Wie die loyale und hellwache Wilson dem Priester erklärte, habe sie »völliges Vertrauen in Oppenheimers Integrität«. Sie kannte den großen, blonden, attraktiven Priester, er war ihr Lehrer an der Highschool gewesen und ein Freund der Familie, gleichwohl weigerte sie sich, als Informantin zu fungieren. Dem Bericht zufolge hat sie »ihren Unmut geäußert, dass Sicherheitsdienste Oppenheimer beobachteten«. Sie wisse von ihm, dass er vom FBI überwacht würde, und finde das empörend. 734

Wie wir von seinem ehemaligen Studenten Joe Weinberg wissen, ärgerte sich Oppenheimer über die Überwachung. Während eines Gesprächs in Berkeley habe er plötzlich auf eine Messingplatte in der Wand gedeutet und gefragt: »Was zum Teufel ist das?« Und als Weinberg ihm erklären wollte, die Universität habe eine alte Sprechanlage abmontiert und das Loch mit dieser Messingplatte abgedeckt, unterbrach ihn Oppenheimer: »Das war ein verstecktes Mikrophon und ist es immer gewesen.« Türen schlagend sei er aus dem Raum gestürmt.


An einem Spätnachmittag in der bitterkalten Weihnachtswoche 1945 besuchte Oppenheimer Isidor Rabi in dessen New Yorker Wohnung am Riverside Drive. Aus Rabis Wohnzimmer beobachteten die beiden alten Freunde den Sonnenuntergang und die gelb und rosa schimmernden Eisschollen, die den Hudson hinuntertrieben. Als die Dämmerung fiel, setzten sie sich zusammen, rauchten ihre Pfeifen und sprachen über die Gefahren des atomaren Wettrüstens. Später behauptete Rabi, auf die Idee einer internationalen Kontrolle sei er gekommen, Oppenheimer habe sie dann »verkauft«. Doch Oppenheimer verfolgte diesen Gedanken seit seinen Gesprächen mit Bohr in Los Alamos. Der Abend mit Rabi wird ihn darin bestärkt haben, diese Ideen zu einem konkreten Plan auszuarbeiten. Ihm sei, so Rabi, klar geworden, »dass zweierlei geschehen müsse: Sie [die Bombe] muss unter internationale Kontrolle, denn es kommt, wenn sie nur unter nationaler Kontrolle steht, unweigerlich zu Rivalitäten, und [zweitens] glaubten wir auch, dass der weitere Verlauf dieses industriellen Zeitalters von der Kernenergie abhängt.« Darum der Vorschlag einer internationalen Atomenergiebehörde, die nur dann wirklich Einfluss nehmen könne, wenn sie sowohl die Bombe als auch die friedliche Nutzung der Atomenergie kontrolliere. Sobald es Hinweise darauf gebe, dass Atomanlagen der Herstellung von Atomwaffen dienten, sollten sie zur Strafe geschlossen werden. 735

Vier Wochen später, Ende Januar 1946, erfuhr Oppenheimer zu seiner Freude von Verhandlungen, die vor einigen Monaten zwischen der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern aufgenommen worden waren. Herausgekommen war der Plan, eine Atomenergiekommission bei den Vereinten Nationen zu gründen. 736 Präsident Truman berief einen Sonderausschuss ein, der einen konkreten Vorschlag zur internationalen Kontrolle von Atomwaffen erarbeiten sollte. Die Leitung sollte Dean Acheson übernehmen, zu Mitgliedern wurden Leuchten aus dem außenpolitischen Establishment berufen: so der ehemalige stellvertretende Kriegsminister John J. McCloy, Vannevar Bush, James Conant und General Leslie Groves. Als Acheson sich bei seinem persönlichen Assistenten Herbert Marks beklagte, dass er über Atomenergie nichts wisse, schlug dieser vor, ein Beratergremium zu bestellen. Marks, ein brillanter und umtriebiger junger Rechtsanwalt, hatte früher für David Lilienthal, den Vorsitzenden der Tennessee Valley Authority, gearbeitet – jetzt schlug er vor, Lilienthal am Entwurf eines konkreten Plans mitarbeiten zu lassen. Dieser, ein liberaler Anhänger des New Deal und erfahrener Verwaltungsfachmann, der mit Hunderten von Ingenieuren und Technikern zusammengearbeitet hatte, sagte sofort zu, den Vorsitz des Beratergremiums zu übernehmen. Vier weitere Mitglieder wurden ernannt: Chester I. Barnard, Präsident der Bell Telephone Company; Dr. Charles A. Thomas, Vizepräsident der Monsanto Chemical Company; Harry A. Winne, Vizepräsident der General Electric Company – und Oppenheimer.

Dieser war hocherfreut: Endlich bot sich die langersehnte Gelegenheit, über die großen Probleme im Zusammenhang mit der Kontrolle der Atombombe zu reden. Achesons Ausschuss und seine Berater trafen sich in diesem Winter mehrfach, um einen ersten Plan zu entwerfen. Als einziger Physiker in der Runde beherrschte Oppenheimer natürlich die Diskussionen, und er verstand es, diese Männer der Tat mit seiner Klarheit und seiner Vision zu überzeugen. Er brauchte Einstimmigkeit und war entschlossen, Einstimmigkeit zu erreichen. Von Anfang an war Lilienthal begeistert von diesem Berater.

Das erste Mal trafen sich die beiden in Oppenheimers Zimmer im Washingtoner Shoreham Hotel. »Er ging auf und ab«, notierte Lilienthal in sein Tagebuch, »gab zwischen seinen Sätzen immer merkwürdige Laute von sich und blickte auf den Boden – seltsame Affektiertheiten. Sehr artikuliert. … Ich mochte ihn und war, als ich ging, sehr beeindruckt von seinem durchdringenden Verstand, zugleich etwas irritiert über seinen Wortschwall.« Später, nachdem Lilienthal mehr Zeit mit Oppenheimer verbracht hatte, waren alle Vorbehalte verflogen: »Allein die Erfahrung, dass die Menschheit ein solches Wesen hervorbringen kann, ist ein Leben wert.« 737

Groves wusste, wie bezaubernd Oppenheimer sein konnte, dieses Mal jedoch, fand der General, übertrieb er: »Alle fielen auf die Knie. Mit Lilienthal kam es so weit, dass er sich keine Krawatte umbinden konnte, ohne Oppie vorher um Rat zu fragen.« Kaum weniger entzückt war »Jack« McCloy. Er hatte Oppenheimer bereits in den ersten Kriegsjahren getroffen, und auch diesmal erlebte er ihn wieder als einen äußerst gebildeten Menschen mit »nahezu musikalisch feinem Geist«, als Intellektuellen mit »großem Charme«. In Achesons Erinnerungen heißt es später: »Alle Teilnehmer waren sich einig: Robert Oppenheimer war der anregendste, der schöpferischste Geist unter uns, konstruktiv und anpassungsfähig, konnte aber auch scharf argumentieren und gelegentlich pedantisch sein, doch damit hatten wir keine Probleme.« 738 Zu Beginn ihrer Arbeit war Oppenheimer zu Gast in Achesons Haus in Georgetown. Nach Cocktail und Abendessen stellte er sich, ein Stück Kreide in der Hand, an eine kleine Tafel und hielt seinem Gastgeber und McCloy einen Vorlesung über die komplizierten atomaren Vorgänge. Zur Veranschaulichung zeichnete er kleine Strichmännchen, die Elektronen, Neutronen und Protonen darstellen sollten, welche sich gegenseitig herumjagten und in meist unvorhersehbarer Weise fortbewegten. »Mit unseren verwirrten Fragen haben wir ihn offensichtlich gepeinigt«, schrieb Acheson später, »schließlich, in milder Verzweiflung, legte er die Kreide beiseite und sagte: Es ist hoffnungslos! Ich glaube, Sie beide denken wirklich, Neutronen und Elektronen sind Männchen!« 739

Anfang März 1946 lag dem Beraterausschuss ein von Oppenheimer geschriebener, von Marks und Lilienthal überarbeiteter, rund 34000 Worte starker Berichtentwurf vor. Mitte März fanden in einem Zeitraum von zehn Tagen vier ganztägige Sitzungen in Dumbarton Oaks statt, einer mit byzantinischen Kunstwerken ausgestatteten Georgetown-Villa in Staatsbesitz. Gegen Ende ihrer Diskussionen lasen Acheson, Oppenheimer und die anderen abwechselnd Teile des Entwurfs laut vor. Als sie fertig waren, sah Acheson auf, nahm seine Lesebrille ab und sagte: »Ein glänzendes und gründliches Dokument.« 740

Oppenheimer hatte seine Ausschusskollegen dazu gebracht, einen umfassenden, aufsehenerregenden Plan zu entwickeln. Halbheiten seien nicht ausreichend, ein einfaches internationales Abkommen zum Verbot von Atomwaffen zu wenig; es müsse sicher sein, dass es durchgesetzt würde. Auch mit einem internationalen Inspektionssystem wäre es nicht getan. Allein um eine Diffusionsanlage wie Oak Ridge zu überwachen, brauche man über 300 Inspektoren. Und wie sollten Inspektoren in Ländern vorgehen, die erklärten, sie arbeiteten an der friedlichen Nutzung der Atomenergie? Oppenheimer hatte dem Ausschuss vorgeführt, wie schwer es ist, festzustellen, ob das für zivile Zwecke angereicherte Uran oder Plutonium nicht doch militärisch genutzt wird. Auch zur friedlichen Nutzung der Atomenergie brauche man technische Einrichtungen, mit denen sich ebenso gut eine Bombe bauen lasse.

Von diesem Dilemma ausgehend, kam er, um eine Lösung anzudeuten, auf den internationalen Charakter der modernen Wissenschaft zu sprechen. Er schlug eine internationale Behörde vor, die die ausschließliche Kontrolle über alle Aspekte der Atomenergie haben und die, als Anreiz, die Rechte zu deren Nutzung an einzelne Länder vergeben sollte. Eine solche Behörde könne sowohl die technische Entwicklung kontrollieren als auch gewährleisten, dass sie nur für zivile Zwecke vorangetrieben werde. Auf lange Sicht, davon war Oppenheimer überzeugt, werde es »ohne eine Weltregierung keinen dauerhaften Frieden geben, und ohne einen solchen Frieden wird es zu Atomkriegen kommen«. Da die Errichtung einer solchen Weltregierung in nächster Zukunft nicht absehbar sei, könnten sich, so Oppenheimers Vorschlag, alle Länder auf dem Gebiet der Atomenergie zu einem »teilweisen Souveränitätsverzicht« bereit erklären. Alle Eigentumsrechte an Uranbergwerken, Atomenergieanlagen und Labors könnten der anvisierten Atomenergiebehörde übertragen werden. Kein Land dürfe Atombomben bauen, Wissenschaftlern in aller Welt sollte aber freigestellt sein, Forschungen zum Zweck der friedlichen Nutzung der Atomenergie zu betreiben. Als er das Konzept Anfang April in einer Rede vorstellte, erklärte er: »Dieser Vorschlag zielt auf einen teilweisen Souveränitätsverzicht aller Länder der Welt, der ausreichend, aber auch nicht mehr als ausreichend wäre, damit eine internationale Atomentwicklungsbehörde ins Leben gerufen werden kann, um ihre Funktion der Entwicklung, Nutzung und Kontrolle der Atomenergie auszuüben, die es ihr ermöglicht, die Welt vor dem Einsatz von Atomwaffen zu bewahren und sie an den Segnungen der Atomenergie teilhaben zu lassen.« 741

Bei vollständiger Transparenz wäre es keinem Land möglich, die enormen industriellen, technischen und materiellen Voraussetzungen zu schaffen, um insgeheim Atomwaffen zu bauen. Das Geheimnis sei gelüftet, die Erfindung der Waffe nicht mehr rückgängig zu machen. Doch man könne ein so transparentes System schaffen, dass die zivilisierte Welt zumindest umfassend gewarnt wäre, wenn sich ein Schurkenstaat daranmachen würde, solche Waffen herzustellen. Wie dringlich das Problem der Atombombe betrachtet wurde, zeigte sich daran, dass auch Geschäftsleute wie Charles Thomas von Monsanto und der republikanische Wall-Street-Anwalt John J. McCloy den Bericht unterzeichnet haben. Dazu Herbert Marks später: »Nur etwas so Drastisches wie die Atombombe hätte Thomas den Vorschlag abringen können, die Minen zu internationalisieren. Man sollte nicht vergessen: Er ist Vizepräsident eines Einhundertundzwanzig-Millionen-Dollar-Unternehmens.« 742

Bald darauf wurde Oppenheimers Bericht – später kurz Acheson-Lilienthal-Report 743 genannt – dem Weißen Haus vorgelegt. Oppenheimer dachte, der Präsident werde jetzt die dringende Notwendigkeit erkennen, Maßnahmen zur Kontrolle der Atomenergie zu ergreifen. Sein Optimismus war grundlos. Zwar ließ Außenminister Byrnes verlauten, der Bericht habe einen »positiven Eindruck« auf ihn gemacht, tatsächlich aber war er entgeistert über die weitreichenden Ziele der Empfehlungen. Schon einen Tag später überredete er Truman, Bernard Baruch, einen Finanzgewaltigen der Wall Street und Byrnes’ langjährigen Geschäftspartner, zu beauftragen, die Vorschläge für die Vereinten Nationen »aufzubereiten«. 744 Acheson war entsetzt, und Lilienthal notierte: »Als ich die Nachricht gestern Abend las, wurde mir ganz elend. … Wir brauchen einen jungen, energischen und keinen eingebildeten Mann, dem die Russen anmerken, dass er nur darauf aus ist, sie einzusacken, an einer wirklichen internationalen Zusammenarbeit aber gar kein Interesse hat. Baruch hat keine dieser Eigenschaften.« 745 Als Oppenheimer von dieser Ernennung erfuhr, sagte er zu Willie Higinbotham, dem damaligen Vorsitzenden der gerade gegründeten Federation of Atomic Scientists in Los Alamos: »Wir sind verloren.« 746

Privat hatte Baruch seine »großen Vorbehalte« gegen die Empfehlungen des Acheson-Lilienthal-Reports bereits geäußert. Um sich Rat zu holen, wandte er sich an zwei konservative Bankiers, Ferdinand Eberstadt und John Hancock (einen Hauptanteilseigner von Lehman Brothers), und an seinen Freund Fred Searls Jr., einen Bergwerksingenieur. Baruch wie Außenminister Byrnes waren Aufsichtsräte und Aktionäre der Newmont Mining Corporation, eines großen Unternehmens mit umfangreichen Beteiligungen an Uranbergwerken; Searls war Vorstandsvorsitzender von Newmont. Kein Wunder, dass sie den Gedanken, die Kontrolle über Bergwerke in Privatbesitz an eine internationale Atomenergiebehörde abzutreten, höchst beunruhigend fanden. Keiner von ihnen dachte im Ernst daran, die aufstrebende Atomindustrie zu internationalisieren. Und was Atomwaffen anbetraf, so betrachtete Baruch die amerikanische Bombe als »Siegerwaffe«. 747

Oppenheimers Ansehen war so groß, dass selbst Baruch, als er daranging, den Acheson-Lilienthal Report zu zerpflücken, sich die Mühe machte, ihn als wissenschaftlichen Berater zu gewinnen: Anfang April 1946 trafen sie sich in New York. Oppenheimer erlebte die Begegnung als völliges Desaster. Dem Argument, sein Plan lasse sich mit dem sowjetischen Regierungssystem nicht wirklich vereinbaren, hatte er wenig entgegenzusetzen. Aber er bestand darauf, dass Amerika »einen ehrlichen Vorschlag machen und prüfen sollte, ob sie die Zusammenarbeit wollen«. Baruch und seine Berater waren sich einig: Die Acheson-Lilienthal-Vorschläge mussten in mehreren grundsätzlichen Punkten geändert werden. Die Vereinten Nationen sollten die Vereinigten Staaten ermächtigen, zum Zweck der Abschreckung einen Vorrat an Atomwaffen zu behalten; die vorgeschlagene Atomentwicklungsbehörde sollte die Uranminen nicht kontrollieren; und schließlich sollte diese Behörde im Hinblick auf die Entwicklung der Atomenergie kein Vetorecht erhalten. Der Gedankenaustausch hinterließ bei Oppenheimer den Eindruck, dass es Baruch für seine Aufgabe hielt, »das amerikanische Volk auf eine Ablehnung von russischer Seite vorzubereiten«. Nach dem Treffen hatte Oppenheimer den Eindruck, dass der alte Mann ein »Dummkopf« sei; Rabi gegenüber äußerte er, dass er »Baruch verachte«. Baruch seinerseits entschloss sich, diesen Wissenschaftler nicht zu seinem Berater zu machen. In den kommenden Wochen taten Oppenheimer, Acheson und Lilienthal, was sie konnten, um ihren Plan in der Diskussion zu halten, warben bei Regierungsstellen und Medien. Baruch fühlte sich »unangenehm berührt« davon, dass gegen ihn gearbeitet werde, und beklagte sich bei Acheson. In der Hoffnung, ihn vielleicht doch noch beeinflussen zu können, erklärte sich Acheson bereit, alle Beteiligten für Freitag, den 17. Mai 1946 nachmittags, im Blair House an der Pennsylvania Avenue zusammenzurufen.

Während Acheson daran arbeitete, die dienstbaren Geister des Atoms in Schach zu halten, mühten sich andere, Oppenheimer in Schach zu halten, wenn nicht zu vernichten. In der nämlichen Woche trug J. Edgar Hoover seinen Agenten auf, ihn noch gründlicher zu beschatten. Ohne auch nur die Spur eines Beweises brachte er die Möglichkeit ins Spiel, dass Oppenheimer zur Sowjetunion überlaufen wolle. Für den Chef des FBI konnte Oppenheimer nur ein Sympathisant der Sowjetunion sein, und er setzte die Ansicht in Umlauf, dieser sei »dort als Berater für den Bau von Atomanlagen viel wertvoller denn als gelegentlicher Informant in den Vereinigten Staaten«. Darum sollten seine Agenten »Oppenheimers Aktivitäten und Kontakten dicht auf der Spur bleiben«. 748

In einem Telefongespräch eine Woche vor diesem Gipfeltreffen erläuterte Oppenheimer seiner Frau, das Treffen sei »ein Versuch, den alten Knaben [Baruch] in … eine nicht sehr glückliche Lage zu boxen … Ich will nichts von ihnen, und wenn ich sein [Baruchs] Gewissen bearbeiten kann, dann ist das der beste Ansatzpunkt, den ich habe. Alles andere hat keinen Zweck.« Kitty drängte, er solle doch erst herausfinden, »was der Alte will«. Oppenheimer stimmte zu und fragte dann, als er ein Klicken in der Telefonleitung hörte:

»Bist du noch dran? Da hört uns wohl jemand zu.«

»Das FBI, Liebling«, antwortete Kitty.

»Das FBI? Die müssen gerade aufgelegt haben.« 749

Kitty hatte richtig vermutet. Zwei Tage zuvor hatte das FBI das Telefon im Haus der Oppenheimers in Berkeley angezapft (und Hoover leitete eine Abschrift dieses Gesprächs, »als von möglichem Interesse für Sie und den Präsidenten«, an Außenminister Byrnes weiter). 750 Auch auf dessen Reisen durch die Staaten, so ordnete Hoover an, sollten Agenten Oppenheimer verfolgen.

Ob Oppenheimers abschätzige Bemerkungen Baruch erreichten oder nicht, das Treffen in Blair House wurde zum Desaster. Baruch brachte klar zum Ausdruck, dass er und seine Leute nichts davon hielten, das Eigentum an Uranbergwerken zu internationalisieren. Über die Frage der »Strafmaßnahmen« gingen die Meinungen dann vollends auseinander. Warum, fragte Baruch, seien für Verletzungen des Abkommens keine Sanktionen vorgesehen? Was denn mit einem Land geschehen solle, das nachweislich Atomwaffen herstellte? Er hielt dafür, dass man ein gewisses Kernwaffenarsenal beiseiteschaffen und automatisch gegen Länder einsetzen solle, die das Abkommen verletzten: Dies sei die »gebührende Strafe«. Herb Marks entgegnete, derlei Strafmaßnahmen stünden in völligem Widerspruch zum Geist des Acheson-Lilienthal-Plans. Außerdem brauche ein Land, das sich nicht an das Abkommen halte, mindestens ein Jahr, um Atomwaffen herzustellen, die internationale Gemeinschaft hätte also genug Zeit zu reagieren. Baruch beharrte: Ein Gesetz ohne Strafen sei nutzlos. Und die Meinung der meisten Wissenschaftler beiseitewischend, behauptete er, die Sowjets seien mindestens zwei Jahrzehnte lang nicht in der Lage, eigene Atomwaffen herzustellen. Also gebe es auch keinen Grund, das amerikanische Monopol aufzugeben. Er sei entschlossen, den Vereinten Nationen einen Plan zu unterbreiten, der die Vorschläge von Acheson und Lilienthal zwar aufgreife, doch wesentlich verbessere. Tatsächlich veränderte Baruch deren Kerngedanken. Seine Forderungen waren: Die Sowjets müssen im Hinblick auf Maßnahmen der neuen Atombehörde auf ihr Vetorecht im Sicherheitsrat verzichten; jede Verletzung des Abkommens wird umgehend mit einem Atomangriff geahndet; und bevor sie Zugang zu geheimen Informationen zur friedlichen Nutzung der Atomenergie bekommen können, müssen die Sowjets ihre Uranvorräte überprüfen lassen. 751

Acheson und McCloy widersprachen Baruchs Festlegung von Sanktionen energisch. Dies sei verfrüht, bringe den Plan zu Fall; das Gleiche gelte für die unmissverständliche Absicht, das amerikanische Monopol an Atomwaffen zumindest für einige Jahre aufrechtzuerhalten. Niemals würden die Sowjets solchen Bedingungen zustimmen, schon gar nicht, wenn die Vereinigten Staaten weiterhin Atomwaffen bauten und testeten. Der Vorschlag laufe nicht auf eine kooperative Kontrolle der Atomenergie hinaus, sondern auf eine Verlängerung des amerikanischen Monopols. Erregt bekräftigte McCloy seinen Standpunkt, so etwas wie vollständige Sicherheit gebe es nicht; es sei »anmaßend«, derart harte automatische Strafmaßnahmen vorzusehen.

Während der Republikaner John McCloy nur ärgerlich war, stürzte Oppenheimer in eine Depression. »Immer noch ganz niedergeschlagen« sei er, heißt es in einem Brief an Lilienthal. 752 Und erneut bewies er seine politische Weitsicht, indem er in einem Gespräch genau voraussagte, wie sich die Dinge dann tatsächlich entwickelten: »Amerika wird zu der Entscheidung kommen, sich viel Zeit zu lassen und die Sache nicht zu beschleunigen; dann wird ein 10–2-Bericht an den [Sicherheitsrat] gehen, und Russland wird sein Veto einlegen und ablehnen. Das wiederum werden wir als Zeichen für Russlands kriegerische Absichten hinstellen. Und das wiederum passt nahtlos zu dem Plan, den immer mehr Leute verfolgen, nämlich das Land auf einen Krieg einzustimmen, erst psychologisch und dann wirklich. Die Army dirigiert die Forschung im Land, Hetzjagden auf angebliche Rote, die Gewerkschaften, vor allen anderen die CIO, werden als kommunistisch und daher des Verrats verdächtig hingestellt usw.« Während er redete, ging er wie üblich hektisch auf und ab und sprach, wie Lilienthal im Tagebuch vermerkte, in »wirklich herzzerreißendem Ton«. 753

Er habe, so Oppenheimer zu Lilienthal, in San Francisco mit einem sowjetischen Wissenschaftler, einem technischen Berater des sowjetischen Außenministers Andrej Gromyko, gesprochen, und dieser sei überzeugt, dass Baruchs Vorschlag nur darauf hinauslaufe, das amerikanische Atommonopol zu erhalten: »Der amerikanische Vorschlag zeigt, dass die Vereinigten Staaten ihre Bomben und Anlagen so gut wie unbegrenzt – 30 Jahre, 50 Jahre, so lange es ihnen notwendig erscheint – behalten wollen, während Russland sein Uran und damit seine Möglichkeiten, Material zu produzieren, sofort an die ADA [die vorgeschlagene Atomic Development Authority] übergeben und durch sie kontrollieren lassen soll.« 754


Am 14. Juni 1946 präsentierte Baruch seine Vorstellungen in den Vereinten Nationen. Dramatisch, in biblischer Sprache verkündete er, er stelle die Welt vor die Wahl zwischen »den Schnellen und den Toten«. Wie Oppenheimer und andere Befürworter des ursprünglichen Acheson-Lilienthal-Plans vorausgesagt hatten, lehnten die Sowjets den Vorschlag prompt ab, schlugen stattdessen einen einfachen Vertrag zum Verbot der Herstellung und des Einsatzes von Atomwaffen vor. 755 Dieser Vorschlag, sagte Oppenheimer – am Telefon – einen Tag später zu Kitty, sei »gar nicht so schlecht«. Niemand könne über die sowjetischen Einwände gegen die Vetovorschriften in Baruchs Vorschlag überrascht sein. Und doch werde sich Baruch bitter beklagen, wie enttäuscht er sei. Dabei müsse er doch wissen, »welch dämliche Vorstellung« er gegeben habe. 756

Wie vorausgesagt, wies die Regierung Truman die sowjetische Antwort auf der Stelle zurück. Die folgenden monatelangen Verhandlungen blieben ohne Ergebnis. Die erste Chance, ein unkontrolliertes Wettrüsten zwischen den beiden Großmächten zu verhindern, war vertan. Es musste erst zu den Schrecken der Kubakrise von 1962 und der anschließenden massiven Aufrüstung der Sowjets kommen, bis eine amerikanische Regierung in den 1970er Jahren ernsthafte und annehmbare Vorschläge für ein Rüstungskontrollabkommen vorlegte. Bis dahin wurden allerdings Zehntausende nuklearer Sprengköpfe produziert. Oppenheimer und viele seiner Kollegen machten Baruch für die verpasste Gelegenheit verantwortlich. Acheson bemerkte später ärgerlich: »Es war sein Ball, und er hat ihn verschossen. … Er hat die Sache ruiniert.« Ebenso deutlich äußerte sich Rabi: »Es ist einfach nur Wahnsinn, was geschehen ist.« 757

Im Lauf der Jahre gewöhnten sich Kritiker des Vorschlags von 1946 an, Oppenheimer politische Naivität zu unterstellen: Niemals hätte Stalin Inspektionen akzeptiert. Oppenheimer verstand diesen Punkt. »Ich kann nicht sagen«, schrieb er Jahre später, »und ich glaube, niemand kann sagen, ob die damaligen Aktionen auf der Linie Bohrs den Lauf der Geschichte geändert hätten. Ich sehe nichts in Stalins Verhalten, was auch nur zur leisesten Hoffnung in dieser Hinsicht berechtigen könnte. Doch Bohr ging davon aus, dass diese Aktion eine veränderte Situation herbeiführen würde. Nur einmal, im Spaß, sprach er von einer anderen experimentellen Anordnung. Aber die hatte er im Sinn. Ich glaube, wenn wir klug, klar und diskret in Übereinstimmung mit seinen Ansichten gehandelt hätten, wären wir unsere ziemlich schäbigen Allmachtsvorstellungen und unsere Illusionen über Geheimhaltung und deren Wirksamkeit vielleicht losgeworden und hätten unsere Gesellschaft auf eine gesündere Vision einer lebenswerten Zukunft aufmerksam machen können.« 758

In diesem Sommer besuchte Lilienthal Oppenheimer in dessen Washingtoner Hotel, und bis spät in die Nacht besprachen die beiden die neue Lage. Anschließend notierte Lilienthal: »Er ist wirklich eine tragische Gestalt, mit seiner großen Attraktivität und seiner Brillanz. Als ich ging, wirkte er so traurig; er sagte: ›Ich bin bereit, überallhin zu gehen und alles zu tun, aber ich habe keine Ideen mehr. Und die Physik und ihre Lehre, die doch mein Leben sind, erscheinen mir jetzt so irrelevant.‹ – Diese letzte Äußerung tat mir in der Seele weh.« 759

Oppenheimers Qual reichte tief. Für die Folgen der Arbeit in Los Alamos fühlte er sich persönlich verantwortlich. Jeden Tag lieferten die Titelseiten der Zeitungen neue Hinweise darauf, dass die Welt möglicherweise schon wieder auf dem Weg in einen Krieg war. »Jeder Amerikaner weiß«, schrieb er im Bulletin of the Atomic Scientists, »dass Atomwaffen eingesetzt werden, wenn es wieder zu einem großen Krieg kommt.« Darum sei die vordringliche Aufgabe, den Krieg überhaupt abzuschaffen. »Wir wissen das, weil im letzten Krieg die beiden Nationen, die wir gern für die aufgeklärtesten und humansten der Welt halten – Großbritannien und die Vereinigten Staaten –, Atomwaffen gegen einen im Grunde schon geschlagenen Feind einsetzten.« 760

Diese Bemerkung hatte er schon in seiner Rede in Los Alamos gemacht. Dass er sie 1946 jedoch veröffentlichte, war ein außerordentliches Eingeständnis. Noch kein Jahr war es her, dass er die Bomberpiloten genau instruiert hatte, wie sie ihre Atombomben auf zwei japanische Städte abwerfen sollten, und nun musste er sich klarmachen, dass er den Einsatz von Atomwaffen gegen einen am Boden liegenden Feind unterstützt hatte. Diese Einsicht lastete schwer auf ihm.

Ein großer Krieg war nicht Oppenheimers einzige Sorge, er sah auch die Gefahr eines nuklearen Terrorismus. Als er in einer nicht öffentlichen Anhörung des Senats gefragt wurde, »ob drei oder vier Männer Teile einer [Atom-]Bombe nach New York schmuggeln und die ganze Stadt in die Luft sprengen könnten«, antwortete er: »Natürlich geht das, man könnte New York zerstören.« Ein entsetzter Senator fragte nach: »Welches Instrument würden Sie benutzen, um eine irgendwo in der Stadt versteckte Bombe aufzuspüren?« Mit der für ihn typischen, bitteren Ironie antwortete Oppenheimer: »Einen Schraubenzieher«, mit dem man jede Kiste und jeden Koffer öffnen müsse. Für Oppenheimer gab es keinen Schutz gegen nuklearen Terrorismus – und er hatte das Gefühl, dass es den auch gar nicht geben könne. 761

Die internationale Kontrolle der Bombe, sagte er später vor Offizieren und Beamten des auswärtigen Dienstes, »ist die einzige Möglichkeit für dieses Land, so sicher zu sein, wie es das vor dem Krieg war. Sie ist die einzige Möglichkeit für uns, mit feindseligen Staaten und schlechten Regierungen, mit neuen Entdeckungen und verantwortungslosen Regierungen zu leben, die es in den nächsten hundert Jahren geben wird, und ohne die ständige Angst vor einem Überraschungsangriff mit diesen Waffen.« 762


Am 1. Juli 1946, vierunddreißig Sekunden nach 9 Uhr morgens, explodierte die vierte Atombombe der Weltgeschichte über dem Bikini-Atoll im Gebiet der Marshall-Inseln im Pazifik. Eine Flotte schrottreifer Kriegsschiffe der US Navy wurde entweder versenkt oder einer mörderischen Strahlung ausgesetzt. Viele Kongressabgeordnete, Journalisten und Diplomaten aus zahlreichen Ländern – auch aus der Sowjetunion – wurden Zeugen dieses Tests. Zu den Wissenschaftlern, die eingeladen wurden, zählte auch Oppenheimer. Er blieb dem Schauspiel demonstrativ fern. 763

Diesen Entschluss hatte der immer tiefer enttäuschte Oppenheimer bereits zwei Monate zuvor gefasst. Am 3. Mai 1946 schrieb er an Präsident Truman – vordergründig um seine Absage zu erklären. Tatsächlich aber wollte er mit diesem Brief Trumans Haltung überhaupt in Frage stellen. Nicht nur er, so heißt es einleitend, hege »bösen Ahnungen«, sondern viele andere Naturwissenschaftler auch. Dann, mit einer vernichtenden Logik, attackierte er das ganze Manöver. Sollte der Zweck der Tests sein, die Wirkung von Atomwaffen im Seekrieg zu erproben, dann sei die Antwort ganz einfach: »Wenn eine Atombombe einem Schiff, auch einem sehr großen, nahe genug kommt, dann wird sie es versenken.« Man müsse nur die Entfernung der Bombe zu dem Schiff bestimmen – und die könne man berechnen. Die Planungskosten der Tests lägen sicher nicht unter 100 Millionen Dollar. »Für weniger als ein Prozent davon »könnte man nützlichere Informationen bekommen.« Sollten die Tests darüber hinaus wissenschaftliche Daten über Strahlungseffekte auf die Ausrüstung der Schiffe, auf Verpflegung und Tiere erbringen, so ließen sich auch diese »durch einfache Labormethoden« billiger und genauer beschaffen. Die Befürworter der Tests behaupteten, dass »wir auf die Möglichkeit eines Atomkriegs vorbereitet sein« müssten. Sollte dies die eigentliche Absicht hinter den Tests sein, dann müsse doch jedem klar sein, dass »die überwältigende Wirksamkeit der Atomwaffen in ihrem Einsatz zur Bombardierung von Städten liegt«. Und in Bezug darauf erscheine »die ins Einzelne gehende Untersuchung der Zerstörungskraft von Atomwaffen, die gegen Kriegsschiffe eingesetzt werden, trivial«. Schließlich – und dieser letzte war zweifellos Oppenheimers schärfster Einwand – stellte er in Frage, dass »rein militärische Atomwaffentests« angemessen seien, wenn doch »unser Vorhaben, sie aus nationalen Rüstungsvorhaben auszuschließen, gerade am Anfang steht«. (Die Bikini-Tests fanden fast zeitgleich mit Baruchs Auftritt vor den Vereinten Nationen statt.) Oppenheimer schloss seinen Brief mit dem Hinweis, dass er natürlich in der Kommission des Präsidenten zur Beobachtung der Bikini-Tests hätte bleiben können – doch könne sich der Präsident vielleicht vorstellen, dass es »für mich nicht sehr wünschenswert« sein könne, nach »Abschluss der Tests einen Bericht einzureichen«, der dem ganzen Manöver kritisch gegenüberstehe. Unter diesen Umständen könne er dem Präsidenten vielleicht anderswo von größerem Nutzen sein.

Sollte Oppenheimer geglaubt haben, Truman mit diesem Brief zu beeindrucken, ihn gar dazu zu bewegen, die Bikini-Tests zu verschieben oder abzusagen, dann hatte er sich geirrt. Anstatt sich mit Oppenheimers Einwänden auseinanderzusetzen, erinnerte sich der Präsident an seine erste Begegnung mit ihm. Er betrachtete den Brief als Affront und leitete ihn an den geschäftsführenden Außenminister Dean Acheson weiter – mit einer kurzen Notiz, in der er Oppenheimer als jenen »Heulsusen-Wissenschaftler« bezeichnete, der damals gesagt habe, er habe Blut an seinen Händen. »Ich glaube, er hat sich mit diesem Brief ein Alibi zurechtgelegt.« Tatsächlich war der Brief eine Erklärung persönlicher Unabhängigkeit, und eben damit machte sich Oppenheimer den Präsidenten einmal mehr zum Feind. 764