Seine familiären Verhältnisse schienen so fürchterlich. Aber niemals hätte man das von Robert selbst gehört.
Priscilla Duffield
Während Frank und Jackie Oppenheimer sich mühten, aus ihrem Grundbesitz in Colorado eine funktionierende Rinderfarm zu machen, stand Robert Oppenheimer seinem intellektuellen Lehen in Princeton vor, doch die Leitung beanspruchte nicht alle seine Kräfte. Etwa ein Drittel seiner Zeit widmete er den Angelegenheiten des Instituts, ein Drittel der Physik und anderen intellektuellen Interessen, und das letzte Drittel verging mit Reisen, Vorträgen und in vertraulichen Sitzungen in Washington. Sein alter Freund Harold Cherniss war damit nicht einverstanden: »Es wird Zeit, Robert, dass du die Politik aufgibst und dich wieder der Physik widmest.« Der habe diese Bemerkung schweigend aufgenommen. Doch Cherniss drängte weiter: »Geht es dir vielleicht wie dem Mann, der einen Tiger am Schwanz gepackt hat?« Mit einem schlichten Ja habe Robert geantwortet. 899
Das Reisen empfand er hin und wieder als eine Art Befreiung, einfach unterwegs sein, weg von Princeton – und weg von seiner Frau. Den Lesern von Life, Time und ähnlichen Magazinen mag das Familienleben der Oppenheimers idyllisch erschienen sein. Fotografien zeigen den Vater, Pfeife rauchend, auf dem Schoß ein Buch, aus dem er den beiden kleinen Kindern vorliest, hinter ihm die hübsche Frau, die ihm über die Schulter schaut, und zu seinen Füßen Buddy, der deutsche Schäferhund. Er ist, so verkündete Life ihren Lesern, »seiner Frau und seinen Kindern (die prächtig aussehen und ihn sehr gernhaben) herzlich zugetan, aufmerksam und zuvorkommend zu allen.« 900 Jeden Abend komme Oppenheimer um halb sieben nach Hause, um mit den Kindern zu spielen. Jeden Sonntag gehe die Familie spazieren, und die Kinder machten Jagd auf vierblättrige Kleeblätter. »Mrs. Oppenheimer, die sehr praktisch denkt und nicht will, dass die Beute im ganzen Haus herumfliegt, hält sie dazu an, die Blätter auf der Stelle zu essen.« 901
Alle, die die Oppenheimers näher kannten, wussten jedoch, wie aufreibend das Leben in Olden Manor tatsächlich war. Priscilla Duffield, Roberts Sekretärin in Los Alamos und nun Nachbarin in Princeton, sagte: »Seine familiären Verhältnisse schienen so fürchterlich. Aber niemals hätte man das von Robert selbst gehört.«
Das Familienleben war über die Maßen kompliziert. In vielen Angelegenheiten seines Lebens war Robert sehr abhängig von Kitty, wie Verna Hobson berichtete: »Sie war Roberts nächste Vertraute und Ratgeberin. Er erzählte ihr alles. … Er stützte sich enorm auf sie.« Oft habe er Arbeit aus dem Institut mit nach Hause genommen und sie an seinen Entscheidungen beteiligt. »Sie liebte ihn sehr, und auch er liebte sie.« Verna und andere Freunde in Princeton kannten aber auch Kittys Unruhe und Heftigkeit, die an den Kräften aller zehrten, die um sie waren. Sie sei, so Hobson, schon eine seltsame Person gewesen: »diese Wutausbrüche, ihr Eingeschnapptsein, der scharfe Verstand, ihr Witz. Permanent summte sie herum wie ein ganzer Bienenstock. Immer unter Spannung.«
Verna Hobson kannte Robert und Kitty Oppenheimer so gut wie kaum ein anderer. Mit ihrem Mann Wilder hatte sie die Oppenheimers 1952 in New York bei einem Silvesterdinner kennengelernt, zu dem der Romanautor John O’Hara geladen hatte. Kurz darauf fing Verna an, für Robert zu arbeiten – und blieb für die nächsten dreizehn Jahre seine Sekretärin. »Er war ein Mann, der viel verlangte von denen, die für ihn arbeiteten, und Kitty erwartete nicht viel weniger von seinen Sekretärinnen. So dass man zwei anspruchsvolle Chefs hatte. Sie zogen einen auch in ihr Leben hinein, erwarteten, dass man die Hälfte der Zeit bei ihnen zu Hause war.«
Kitty Oppenheimer, die der Macht ihrer Gewohnheiten unterlag, versammelte jeden Montagnachmittag in Olden Manor eine Damengesellschaft um sich; die Ladies saßen beisammen und schwatzten, einige tranken den ganzen Nachmittag. Kitty nannte sie ihren »Club«. Mildred Goldberger, die Frau eines Physikers aus Princeton, sprach von Kittys »Mannschaft aus Vögeln mit gebrochenen Flügeln. … Kitty hatte einen Kreis verletzter Frauen um sich, mehr oder weniger alle Alkoholikerinnen.« Kitty hatte schon in Los Alamos keinen Martini verschmäht. Inzwischen aber führte ihr Trinken hin und wieder zu schrecklichen Szenen. Hobson, die selbst nur wenig trank, erinnerte sich: »Sie konnte so viel trinken, dass sie umfiel, sinnlos betrunken. Manchmal verlor sie das Bewusstsein. Und wie oft habe ich erlebt, wie sie versuchte, sich zusammenzunehmen, und man dachte, das schafft sie gar nicht mehr.«
Pat Sherr, Kittys Freundin aus Los Alamos, war eine der regelmäßigen Trinkgenossinnen. Die Sherrs waren bereits 1946 nach Princeton gegangen, und kaum hatten die Oppenheimers Olden Manor bezogen, machte es sich Kitty zur Gewohnheit, zwei-, dreimal in der Woche bei Pat vorbeizuschauen. Sie war, so Pat Sherr, ganz offensichtlich einsam: »Es konnte sein, dass sie um elf Uhr morgens vorbeikam und ganz sicher nicht vor vier Uhr nachmittags ging« – nachdem sie ein Menge von Pats Scotch getrunken hatte. Bis diese eines Tages sagte, sie könne es sich nicht leisten, den Whiskey immer wieder nachzukaufen. »Zu dumm von mir«, habe Kitty gesagt, »ich werde mir eine eigene Flasche mitbringen, und du stellst sie für mich beiseite.«
Kitty Oppenheimers Freundschaften waren intensiv und oberflächlich zugleich. Sie konnte sich an andere klammern und in einem Wirbelsturm der Intimität ihre Seele entblößen. Sherr hat das mehrfach erlebt. Absolut alles habe ihr Kitty von sich erzählt, ihr Sexualleben eingeschlossen: »Ich meine, sie musste einfach immerfort über diese Dinge sprechen.« Sie konnte eine gute Freundin sein, aber sie habe dies auch ausgenutzt. Und unweigerlich sei ein Punkt gekommen, an dem sie sich gegen ihre Freundinnen wenden und diese öffentlich anschwärzen konnte. Auch Verna Hobson sprach von Kittys »Drang, Menschen zu verletzen«.
Kitty neigte zu Unfällen, wozu ihr Trinken nicht wenig beitrug. Da waren nicht nur die kleineren Verkehrsunfälle in Princeton, fast jede Nacht schlief sie mit brennender Zigarette ein. Ihr Bettzeug war voller Brandlöcher. Irgendwann einmal schreckte sie hoch: Das Zimmer stand in Flammen. Aber es gelang ihr auch, das Feuer zu löschen; in weiser Voraussicht hatte entweder Robert oder sie selbst einen Feuerlöscher im Schlafzimmer deponiert. Merkwürdigerweise intervenierte Robert selten; stoisch hatte er sich mit Kittys selbstzerstörerischem Verhalten abgefunden. »Er kannte Kittys Schwächen«, stellte Frank Oppenheimer fest, »aber er gab sie nicht gern zu – vielleicht weil er kein Versagen zugeben konnte.« 902 Irgendwann einmal saß Abraham Pais mit Oppenheimer in dessen Arbeitszimmer, und während sie miteinander sprachen, sahen sie Kitty, eindeutig angetrunken, über den Rasen auf Olden Manor zulaufen; und als sie fast an der Tür von Oppenheimers Büro war, habe Robert zu ihm, Pais, gesagt: »Geh nicht weg!« In solchen Augenblicken habe er für den Freund gelitten. Doch bei allem Mitgefühl auch nie verstanden, warum sein Freund diese Frau ertrug. »Ganz unabhängig von ihrer Trinkerei, intrigant wie sie war, erschien mir Kitty jämmerlich, eine solche Frau ist mir nie wieder begegnet.« 903
Verna Hobson dagegen konnte über Kitty Oppenheimers Fehler hinwegsehen, sie verstand, warum Robert sie liebte. Er habe sie akzeptiert, wie sie war; sie würde sich nicht ändern, und das wusste er. In einem Moment ungewöhnlicher Offenheit habe Robert einmal erzählt, wie er, noch vor der Zeit in Princeton, einen Psychiater um Rat gefragt habe. Der habe empfohlen, Kitty in eine Anstalt zu geben, wenigstens für einige Zeit. Das aber habe er nicht über sich gebracht. Stattdessen sei er selbst zu Kittys »Arzt, Krankenschwester und Psychiater« geworden. Und habe, so sagte er Hobson, »diese Entscheidung sehenden Auges getroffen, dafür also auch die Konsequenzen zu tragen«. Eine ähnliche Beobachtung stammt von Freeman Dyson: »Robert liebte Kitty, so wie sie war; und er hätte ihr niemals eine andere Lebensweise aufgezwungen; so wenig wie sie das umgekehrt getan hätte. … Ich denke, Oppenheimer war vollständig abhängig von ihr – sie war der Fels, auf dem er stand. Ich glaube, es wäre ihm völlig fremd, gegen seinen Charakter gewesen, sie als klinischen Fall zu behandeln und ihr Leben umzukrempeln; und es wäre auch gegen ihren Charakter gewesen.« Der Journalist Robert Strunsky, auch er einer der Freunde aus Princeton, ist der gleichen Meinung: »Er stand zu ihr, loyaler hätte man nicht sein können. Er wollte sie beschützen, mehr als alles andere. … Jede Kritik an ihr verbat er sich.«
Robert muss geahnt haben, dass ihr Trinken Ausdruck eines tiefen Schmerzes war, einer Verletzung, die immer in ihr sein würde. Nie versuchte er, sie vom Trinken abzuhalten, gab auch selbst das allabendliche Cocktailritual nicht auf. Und seine Martinis waren stark, er trank sie mit Vergnügen, allerdings – und anders als Kitty – trank er sie langsam. Pais, dem die Cocktailstunde als »barbarische Sitte« erschien, war sich gleichwohl sicher, das Robert »den Alkohol gut im Griff hatte«. 904 Aber man sprach darüber, dass Robert neben seiner offensichtlich alkoholkranken Frau weiter trank; dazu Pat Sherr: »Er servierte die köstlichsten und kältesten Martinis. Oppie machte jeden betrunken, und er wusste das.« Robert mixte nur einen Tropfen Wermut in den Gin und goss den Cocktail in langstielige Gläser, die im Kühlfach gestanden hatten; unter Fakultätsmitgliedern hieß das Haus der Oppenheimers bald »Bourbon Manor«.
Manche fanden Roberts Passivität angesichts von Kittys Trinkerei bedenklich. Doch was immer sie sich oder ihm antat, er stand zu ihr, ein Leben lang – eine Hingabe, die Dr. Louis Hempelmann bewunderte. Mit seiner Frau Elinor besuchte er die Oppenheimers zwei-, dreimal im Jahr, und beide glaubten sie, die Familie gut zu kennen. Robert habe ihn nie um fachlichen Rat gebeten, sondern ihm die Situation nur ruhig und sachlich erklärt. »Er verhielt sich ihr gegenüber tatsächlich wie ein Heiliger. Stets mitfühlend, und niemals schien er von ihr irritiert. Er hing einfach an ihr. Er war ein wundervoller Ehemann.«
Kittys Unglückseligkeit wurzelte zweifellos in ihrer eigenen Psyche. Und die Zwänge, die Kittys Rolle als »die Frau des Direktors« mit sich brachte, machten die Dinge nicht besser. Bei förmlichen Empfängen, wenn sie als Gastgeberin eine lange Reihe von Gästen zu begrüßen hatte, bat sie Pat Sherr häufig, sich neben sie zu stellen. Und als die wissen wollte, wozu das gut sei, habe Kitty geantwortet: »Ich brauche dich neben mir, denn wenn ich anfange zu fallen, dann wirst du mich aufrecht halten.« Ihre Freundin sei einfach »sehr nervös und ihrer selbst nicht sicher« gewesen. Menschen, die sie nicht näher kannten, habe sie durchaus erschrecken können. Dann wieder konnte sie voller Leben sein. Was sie tat, es kostete sie viel Kraft. »Wie von Sinnen« sei sie gewesen, wenn sie eine Rolle zu spielen hatte.
Kitty Oppenheimer war eine offenherzige, von ihren Stimmungen getriebene Frau, und es erschien ihr unmöglich, sich in die steife, so kleinstädtische wie hochgestochene Gesellschaft Princetons zu fügen. Ein Kollege von Abraham Pais hat einmal über Princeton gesagt: »Wenn du dort allein bist, wirst du verrückt; bist du verheiratet, wird deine Frau verrückt.« 905
Und Princeton hat Kitty Oppenheimer verrückt gemacht. Wie in einem Käfig fühlte sie sich. Schon bald erwarteten die Princetonians, wenn sie zu den Oppenheimers zum Essen geladen wurden, nicht mehr, dass ihnen irgendetwas Gehaltvolles serviert würde. Was die Hausherrin auf den Tisch brachte, war direkt abhängig von ihrer Stimmung. Die Begrüßung der Gäste übernahm Robert: mit einem Glas seiner starken Martinis. »Man saß in der Küche, schwatzte und trank«, erinnerte sich Jackie Oppenheimer, »zu essen gab es keinen Bissen. Dann, so gegen zehn Uhr, schlug Kitty ein paar Eier in die Pfanne, streute Chili drüber, und außer all dem Alkohol war das alles, was man bekam.« 906 Weder Kitty noch Robert schienen je hungrig zu sein. An einem der Abende, an denen die Oppenheimers Pais zum Essen eingeladen hatten, servierte Kitty nach den üblichen Drinks eine Suppe. Die sei köstlich gewesen, Robert und Kitty »begannen ein ziemlich überspanntes Gespräch über die Vorzüglichkeiten dieser Suppe. Und ich dachte bei mir: Gut, das war die Suppe, aber lasst uns doch weitermachen mit dem Essen. Aber da kam nichts mehr.« So dass der hungrige Pais, um nicht unhöflich zu erscheinen, noch eine Weile abwartete, bis er sich mit einer Entschuldigung davonmachte: nach Princeton, um sich dort zwei Hamburger zu kaufen. 907
Unglücklich, wie sie sich fühlte, war ihre Ehe alles für Kitty. Völlig abhängig von Robert, gab sie sich alle Mühe, eine perfekte Hausfrau zu sein, »rannte auf ein Zeichen von ihm los, versuchte es ihm recht zu machen«. Eines Abends, so Pat Sherr, während einer Party, habe Oppenheimer in einer Ecke des Wohnzimmers gestanden, im Gespräch mit einer Gruppe von Leuten, als plötzlich Kitty quer durch den Raum gerufen habe: »Ich liebe dich.« Oppenheimer, peinlich berührt, habe nur mit dem Kopf genickt: »Es war offensichtlich, dass ihn das nicht glücklich machte. Er hat ihr in diesem Moment nichts Zärtliches zugerufen. Aber so war sie eben, konnte völlig unerwartete Dinge tun.«
Sherr, die die Oppenheimers seit ihrer Zeit in Los Alamos kannte, war in den ersten Jahren in Princeton sicher Kittys engste Freundin, mit der sie auch über ihre Ehe sprach. »Sie hat ihn bewundert, kein Zweifel.« Doch er, so Pats nüchterne Beobachtung, hat diese Gefühle nicht erwidert: »Ich bin sicher, dass er sie nie geheiratet hätte, wenn sie nicht schwanger gewesen wäre. … Ich glaube nicht, dass er ihre Liebe erwidert hat, und ich glaube auch nicht, dass er überhaupt Liebe erwidern konnte.« Verna Hobson ist anderer Meinung: »Ich denke, er hat sich ungeheuer auf sie verlassen. Er hat ihr nicht immer zugehört, aber er respektierte ihre politischen Ansichten und ihre intellektuelle Kraft.« Hobson hat die Ehe wohl eher aus Roberts Blickwinkel betrachtet. Mit Sherr ist sie sich allerdings darin einig, dass die Probleme aus dem Zusammenprall zweier so unterschiedlicher Temperamente entstanden seien. Kitty war leidenschaftlich bis zum Extrem, er dagegen konnte so erstaunlich distanziert sein. Kitty musste ihren Gefühlen, ihrem Ärger stets Luft machen, doch von Robert kam nichts zurück; zu oft lief sie ins Leere. Für Verna Hobson stand fest, »dass sie genau darum Dinge nach ihm geworfen hat«. 908
Wie Kitty ihrer Freundin Pat erzählt hat, hatte sie mit vielen Männern geschlafen, Robert aber sei sie nie untreu gewesen. Auf Robert traf das nicht zu. Von seiner Affäre mit Ruth Tolman wird sie nichts gewusst haben, doch Verna Hobson meinte, dass Kitty ganz allgemein eifersüchtig gewesen sei auf Robert und sein Gefühlsleben. Manche behaupten sogar, sie sei auf seine Erfolge neidisch gewesen, darauf, dass er im Rampenlicht stand. Wie sie Pat anvertraute, hatte »Oppie keinen Sinn für Spaß und Verspieltheiten«, »schrecklich heikel« sei er gewesen. Und sicher nicht zu Unrecht hielt sie Robert für »unerträglich zurückhaltend und distanziert«. Er lebte seine Gefühle nur innerlich aus. Insofern verkörperten die beiden tatsächlich polare Gegensätze. Doch war dies stets auch Quelle gegenseitiger Anziehung. Ihre Ehe mochte nicht wirklich intakt gewesen sein, doch nach zehn Jahren und zwei Kindern hatten die Oppenheimers ein Band wechselseitiger Abhängigkeit entwickelt.
Kurz nach ihrem Einzug in Olden Manor fand ein Picknick im Garten der Oppenheimers statt. Pat Sherr war eingeladen. Nach dem Essen wurde Toni, inzwischen drei Jahre alt, nach ihrem Mittagsschlaf in den Garten gebracht. Sherr hatte Toni – das Baby, das Oppenheimer ihr einst zur Adoption angeboten hatte – nicht mehr gesehen, seit sie das Kind drei Monate lang in Los Alamos versorgt hatte. »Sie war ein sehr hübsches Kind, mit Kittys hohen Wangenknochen und den dunklen Augen, den dunklen Haaren – doch auch von Oppie hatte sie etwas.« Pat beobachtete, wie die Kleine zu Robert lief und auf seinen Schoß kletterte: »Sie legte das Köpfchen an seine Brust, und er schloss sie in seine Arme. Und er sah mich an und nickte mir zu.« Mit Tränen in den Augen habe sie verstanden, was er ihr bedeuten wollte: »Es war eine Botschaft zwischen uns beiden. Ich hätte damals recht gehabt, er liebe sie tatsächlich sehr.«
Doch beide hatten nicht viel Kraft übrig für ihre elterlichen Pflichten. Robert Strunsky, ein Nachbar, glaubte, »Kind von Kitty und Robert zu sein ist eines der größten Handicaps, die man haben kann.« Und Sherr: »Von außen betrachtet, war er sehr lieb mit den Kindern. Ich habe nie erlebt, dass er die Geduld verlor.« Doch mit den Jahren änderte sich ihr Bild von Robert radikal. Ihr fiel auf, wie still und extrem scheu der sechsjährige Peter war, und sie riet Kitty, um seine Sozialisation zu fördern, mit dem Jungen zu einem Kindertherapeuten zu gehen. Doch nachdem sie mit Robert darüber gesprochen hatte, erklärte Kitty der Freundin, der halte nichts davon, seinen Sohn einem Psychiater anzuvertrauen – eine Erfahrung, die er selbst hatte machen müssen und entsetzlich fand. Sherr ärgerte das, ihrer Meinung nach zeigte Oppenheimers Haltung einen Vater, der nicht ertrug, dass sein Sohn »Hilfe brauchte«: »Er liebte ihn nicht als menschliches Wesen … Je mehr ich von ihm sah, desto weniger gefiel mir das; und zuletzt fand ich, er war ein schrecklicher Vater.«
Das ist wohl zu hart geurteilt. Sowohl Robert als auch Kitty haben sich durchaus bemüht, eine Beziehung zu ihrem Sohn zu entwickeln. David Lilienthal hat bei einem Familienabend miterlebt, wie Kitty dem damals sechs- oder siebenjährigen Peter mit seinem elektrischen Spielzeug half, einer quadratischen Platte, auf der verschiede Lichter, Summer, Sicherungen und Schalter montiert waren. Es war Peters »Gimmick«, mit dem er sich lange beschäftigte. An jenem Abend hockte Kitty auf dem Boden und versuchte geduldig, mit Peter den Gimmick zu montieren. Nach etwa einer Stunde erhob sie sich, um in der Küche das Essen zuzubereiten. Robert, »der Peter sehr väterlich und liebevoll beobachtet hatte, nahm Kittys Platz auf dem Boden ein und mühte sich nun seinerseits mit den Drähten«. Und als sich Robert, die Zigarette im Mundwinkel, mit den Verbindungen zu schaffen machte, rannte Peter in die Küche und flüsterte Kitty für alle hörbar zu: »Mama, können wir Papa wirklich am Gimmick arbeiten lassen?« Wobei die Vorstellung, dass der Mann, der die Konstruktion eines ultimativen Gadget geleitet hatte, mit einem Kinderspielzeug nicht zurechtkommen sollte, allgemeines Gelächter hervorrief. 909
Es gab also durchaus Augenblicke familiärer Wärme. Gleichwohl aber war Robert wohl doch zu beschäftigt mit anderen Dingen, um ein wirklich aufmerksamer Vater zu sein. Freeman Dyson hat Robert einmal gefragt, ob es nicht schwierig sei für Peter und Toni, eine »so rätselhafte Persönlichkeit« zum Vater zu haben. Mit der ihm eigenen Schnoddrigkeit habe Robert geantwortet: »Oh, das macht gar nichts. Sie haben ohnehin keine Phantasie.« Wie Dyson später seinen Freund erlebte, war er ein Mann, »dessen Gefühle für die, die ihm nahestanden, rasch und unberechenbar von Wärme in Kälte umschlagen« konnten – für die Kinder alles andere als einfach. Auf Pais »wirkte Oppenheimers Familienleben wie die Hölle auf Erden. Und das Schlimmste war, unausweichlich hatten vor allem die beiden Kinder darunter zu leiden.« 910
Trotz Gimmick und anderen Spielen fand Kitty nie wirklich Zugang zu Peter, oft gerieten die beiden aneinander. Robert gab Kitty die Schuld. Er dachte, so Hobson, »Peter sei zu früh gekommen, noch in der Phase ihrer ersten leidenschaftlichen Verliebtheit, und Kitty nehme ihm das übel«. Als Peter elf wurde, begann er dick zu werden, und Kitty wurde nicht müde, wegen seines Gewichts an ihm herumzunörgeln. Viel hatte es bei den Oppenheimers nie zu essen gegeben, doch jetzt wurde er auf strenge Diät gesetzt – ein Grund neuer Streitereien zwischen Mutter und Sohn. Hobson meint, sie habe dem Jungen »das Leben zur Hölle« gemacht. Pat Sherr erlebte das nicht anders: »Kitty war sehr, sehr ungeduldig mit ihm, sie hatte überhaupt kein Einfühlungsvermögen in die Kinder. Robert verhielt sich bei alledem passiv, und wenn man ihn drängte, ergriff er unweigerlich Kittys Partei.«
Nach allen Berichten war Peter ein ganz normales, vielleicht etwas ungebärdiges Kind. Als Kleinkind war er, wie die meisten Jungs, laut, umtriebig und schwer zu bändigen. Kitty jedoch erschien sein Verhalten unnormal. Zu Bob Serber sagte sie einmal, ihr Verhältnis zu Peter sei bis zu dessen siebtem Lebensjahr gut gewesen, danach habe es sich plötzlich verändert; sie habe nie herausgefunden, warum. Peter baute und bastelte gerne. Wie sein Onkel Frank hatte er wundervoll geschickte Finger, konnte Dinge auseinandermontieren und auch wieder zusammensetzen. In der Schule war er nie ein großes Licht, was Kitty unmöglich fand. Harold Cherniss sagte dazu: »Peter, ein äußerst sensibles Kind, hatte es in der Schule sehr schwer. … Mit seinen Fähigkeiten hatte das nichts zu tun.« Als Reaktion auf Kittys permanente Ermahnungen zog sich Peter in sich zurück. Serber erinnerte sich daran, dass der Fünf- oder Sechsjährige »nach Zuwendung hungerte«. Als Teenager dann sei er nur sehr ernst gewesen. »Man konnte in die Oppenheimer’sche Küche kommen, und Peter war da wie ein Schatten. … Wenn einer versuchte, nicht beachtet zu werden, dann war es Peter.«
Ihre Tochter wiederum behandelte Kitty völlig anders. Verna Hobson: »Ihre Bindung an Toni war tief, man sah nur Liebe und Bewunderung. … Sie wollte Güte und Glück für Toni, zu Peter dagegen war sie schrecklich.« Als kleines Mädchen sei Toni ausgeglichen und heiter gewesen. Nachdem sie sechs oder sieben geworden war, »konnte sich die Familie darauf verlassen, dass sie sich vernünftig und anständig verhielt, freundlich zu allen. … Über Toni musste sich niemand Gedanken machen.« Ende 1951, Toni war damals sieben, wurde eine leichte Form von Kinderlähmung diagnostiziert, und die Ärzte rieten, Toni an einen warmen Ort zu bringen. So mieteten die Oppenheimers eine 21-Meter-Ketsch und verbrachten die Weihnachtsferien in den Gewässern der amerikanischen Virgin Islands. Die Comanche , von Skipper Ted Dale gesteuert, lief auch St. John an, die Insel, von der die Oppenheimers so begeistert waren, dass sie dort später ein Haus kauften. Toni erholte sich von ihrer Krankheit; Jahre später zog sie sich ganz auf die Insel zurück.
Kitty Oppenheimer mochte das Familienleben manchmal quälend machen, doch sie war, das sollte fairerweise gesagt sein, wenn sie es wollte, durchaus in der Lage, ihr Verhalten zu steuern. Sie hatte einen eisernen Willen, ob sie nun trank oder nicht. Als es bei den Dysons zu einer Ehekrise kam, war Kitty zur Stelle: »Sie war ein Fels der Stärke, für uns wie für Robert«, so Freeman Dyson, »in vieler Hinsicht war sie die Stärkere der beiden, auch zuverlässiger. Man hatte nie das Gefühl, dass sie es war, die Hilfe brauchte. Klar, sie trank von Zeit zu Zeit. Doch ich hielt sie nie für eine unkontrollierte Alkoholikerin.« 911
Und so wie Kitty Feinde hatte, so hatte sie auch Freunde. »Wir haben immer so viel Spaß mit Dir, und wir sind sehr gerne in Deinem Haus«, schrieb etwa Elinor Hempelmann nach einem ihrer häufigen Besuche bei den Oppenheimers. 912 Auch »Deke« und Martha Parsons aus Los Alamos kamen übers Wochenende. Parsons, ein konservativer Marineoffizier, damals Admiral, liebte die philosophisch ausschweifenden Gespräche mit Oppenheimer. Nach einem ihrer Besuche schrieb er im September 1950: »Wie jedes Mal war unser Wochenende mit Dir und Kitty das Ereignis der Saison. Unsere kleinen Angelegenheiten und sogar die Weltprobleme scheinen in einer solchen Atmosphäre leichter lösbar.« 913