Oliver
Nach einer guten Stunde, in der ich mich wieder vermenschlicht habe, kehre ich gegen 14 Uhr zu Sebastians Wohnung zurück und er öffnet sofort, als ich klingele.
Ob er mich vom Küchenfenster aus gesehen hat?
Egal.
Kontinuierlich frage ich mich seit dem Frühstück, ob ich nicht besser auf Abstand bleiben sollte. Die Angst hat gute Argumente dafür, aber irgendetwas, das ich in Sebastians Augen gesehen habe, lässt mich gegen diese Ängste aufbegehren.
„Hey, ich hatte erwartet, dass es länger dauern könnte“, sagt er zur Begrüßung und tritt beiseite, damit ich hereinkommen kann.
„Ich hab …“ Seufzend breche ich ab. Will ich ihm wirklich erzählen, dass selbst Dinge wie Duschen, Rasieren, Zähneputzen und Anziehen Rituale sind, die immer gleich ablaufen?
„Du hast …?“
Ich winke ab und rette mich in ein Grinsen. „Hallo übrigens. Und nichts, schon gut. Nicht wichtig.“
„Okay, dann bleibt jetzt die Frage, ob du sofort lostingeln möchtest oder ob vorher noch ein Kaffee drin ist.“
„Hm-hm, Kaffee ist okay. Es ist ja noch früh. Zu welcher Eisdiele willst du eigentlich spazieren?“
Zielsicher nennt er mein liebstes Eiscafé und ich lächle unwillkürlich.
„Klingt gut.“
~*~
Um kurz nach 15 Uhr machen wir uns auf den Weg. Es ist trocken und sonnig, dabei sogar recht warm, weshalb ich nicht mal meine Jacke schließe, als wir losgehen.
Sebastian macht es genauso und wir gehen gemütlich über Schleichwege und möglichst wenig an Straßen entlang in die Innenstadt.
Wir gehen nebeneinander her, ohne uns zu berühren. Das gefällt mir, vor allem wohl, weil diese Maßnahme die Angst zurückhält.
Dabei reden wir über das Wetter, unsere liebsten Jahreszeiten und beliebte Tätigkeiten im Frühjahr.
So erfahre ich, dass Sebastian ein leidenschaftlicher Motorradfahrer ist, und seinen Wagen nur bei gefährlicheren Straßenverhältnissen und für Großeinkäufe nutzt.
Ansonsten ist er so gut wie immer mit dem Bike unterwegs.
„Ehrlich, ich habe bislang noch nicht einmal mit dem Gedanken gespielt, mich auf eine solche Höllenmaschine zu setzen“, erkläre ich und reize ihn damit zu einem gutmütigen Lachen.
„Wieso nicht? Denkst du, du könntest sie nicht unter Kontrolle halten?“
Ich schüttle den Kopf und ziehe unschlüssig die Schultern hoch. „Liegt wohl daran, dass ich in meinem Praktikumsjahr vor dem Examen zu viele Motorradfahrer als Unfallopfer gesehen und zusammengeflickt habe.“
Betroffen sieht er mich an. „Hm, stimmt, du dürftest dahingehend echt kuriert sein … Aber wenn du jemals als Sozius mitfahren magst, kannst du das gern bei mir tun.“
Ich kann den misstrauischen Blick zu ihm hoch nicht verhindern. „Du denkst, ich könnte dir irgendwann so weit vertrauen, um das zu tun?“
Er macht eine Geste, die ich schon mal an ihm gesehen habe. Sie büßt dadurch nichts an ihrer Attraktivität ein.
Er legt seine Rechte mitten auf sein Herz und sieht mich leidend an. „Es schmerzt mich, dass du mich so siehst, Oliver.“
Sein Tonfall lässt mich kichern. „Du bist ein klitzekleines bisschen verrückt, was?“
Nun weiten sich seine Augen theatralisch. „Ich? Nie und nimmer!“, versichert er und kann das laute Lachen ebenso wenig zurückhalten wie ich.
Was für ein Clown!
Macht er das für mich? Damit ich locker und frei sein kann?
Der Gedanke lässt mich ernst werden. „Du bist so … anders“, sage ich, noch immer atemlos vom Lachanfall.
„Hey, ich gehe stramm auf die Vierzig zu, ich muss dafür sorgen, dass ich auch weiterhin nonkonform und einzigartig bin!“, albert er entrüstet.
„Soso, stramm auf die Vierzig? Das ist Bullshit, Sebi! Du bist zwei Jahre jünger als ich!“ Was im Klartext bedeutet, dass er gerade mal vierunddreißig ist.
Das ist noch ziemlich weit von der magischen Vierzig weg.
„Hast du dir gemerkt, ja?“, erwidert er und wird genauso ernst. „Olli, ernsthaft, ich bin in vielen Dingen ganz sicher nichts Besonderes, vermutlich bin ich nur so gern albern, weil es schön ist, dich lachen zu sehen. Ich hätte nicht damit gerechnet, das so bald tun zu können.“
Ich schlucke trocken und nicke. Mein Kopf sinkt nach vorn. „Ich habe auch selten was zu lachen, auch wenn das jetzt dramatisch klingt.“
„Hey“, sagt er gedehnt und tritt näher zu mir. Seine Hände legen sich auf meine Schultern. „Ich sehe doch, dass dir etwas zu schaffen macht – und zwar nicht erst, seitdem wir uns getroffen haben.“
Ich nicke schwach und bringe es irgendwie fertig, wieder hochzusehen. „Stimmt. Ist elf Monate her.“
„Nur leider noch nicht vorbei …“, setzt er hinzu.
„Ja, das wird es wohl auch nicht. Ich sehne mich einfach noch zu gern dahin zurück. Also in die Zeit davor, wo alles gut war.“
„Vielleicht wird es eines Tages wieder gut? Vielleicht sogar besser?“ Seine Worte lassen mich blinzeln vor Unglauben.
„Das kann es nicht!“, stoße ich hervor und schüttle heftig den Kopf.
„Das wäre sehr schade. Vor allem, weil du ein Recht darauf hast, glücklich zu sein, Olli. Egal, was war, das verdient jeder.“
So ruhig, so sanft spricht er mit mir. Allein deshalb reiße ich mich nicht los und renne, so schnell und so weit ich kann, von ihm weg.
„Danke“, sage ich. „Ich würde das auch gern glauben können. Aber meine Erfahrungen haben mich gelehrt, dass ich eigentlich niemals wieder jemanden an mich herankommen lassen darf, wenn ich alt und grau werden will, bevor ich sterbe.“
Scheiße, wieso sage ich derart pathetische Sachen?!
Der Schreck in Sebastians Augen versetzt mir einen Stich. Wieso?!
„Du machst mir Angst, wenn du so was sagst.“
Mir selbst auch, aber eben auch nicht. Wie soll ich ihm das bloß begreiflich machen?
Wir gehen weiter, aber ein Gespräch will nicht wieder in Gang kommen.
Vielleicht deshalb tue ich etwas, mit dem ich mich einmal mehr selbst überrasche: Ich greife nach Sebastians Hand und halte sie fest.
Dass er unsere Finger verschränkt, fühlt sich gut an. Nun ja … gut … jedenfalls besser, als gedacht.
Das Eiscafé liegt am Marktplatz genau im Zentrum der Innenstadt, und wir sind angenehm überrascht, dass auf dem Kopfsteinpflaster bereits alle Tische, Stühle und Sonnenschirme aufgebaut sind.
Sofort finden wir einen Tisch, der uns beiden zusagt. Halb im Schatten gelegen, wobei ich als amtlich anerkannter Sonnenanbeter mich auf die sonnige Seite setze, während Sebastian sich einen Stuhl in den Schatten eines Sonnenschirms rückt.
Genauer gesagt, haben wir beide unsere Stühle an die Schattenkante gestellt.
Grinsend sehe ich zu ihm nach links und danach auf seine Hand, die meine vorhin die ganze Zeit gehalten hat.
Sebastian ist wirklich liebenswert. Und er scheint wenig bis nichts zu erwarten, sonst würde er doch viel mehr nachbohren, mich ausfragen, mir ins Gewissen reden und mir gebetsmühlenartig erklären, dass alles wieder gut werden wird, wenn ich es nur erlaube.
Stattdessen aber ist es bisher jedes Mal okay gewesen, wenn ich über etwas nicht weiter reden wollte.
Der Kellner steht wenig später neben uns am Tisch und lächelt uns an. „Was darf’s denn sein?“
Ich greife nach der Karte und sage: „Auf jeden Fall einen Latte macchiato mit Minz-Sirup, das Eis muss ich mir noch aussuchen.“
Sebastian lacht leise. „Ich hätte gern einen Latte macchiato ohne Extras.“
„Alles klar, dann nehme ich die restliche Bestellung auf, wenn ich die Kaffees bringe.“
„Welche Eissorte ist deine liebste?“, frage ich ihn und blättere weiter durch die Karte, während Sebastian sich herüberbeugt und mitguckt.
„Ich mag gern Mokka-Eis und Joghurt. Und du?“
„Pistazie und Pfefferminz, ich bin ein echter Minze-Junkie“, erkläre ich.
Er kichert. „Klingt ganz so. Aber wenn ich ins Eiscafé gehe, esse ich fast immer ein Spaghettieis.“
Ich lächle ihn an. „Das Originale oder auch mal eine Variante?“
„Ich mag auch das mit Schokosauce und Bananenscheiben.“
„Das nehme ich!“, sage ich fröhlich, als ich es auf der folgenden Seite entdecke und sofort darauf tippe.
„Ich denke, ich nehme das normale.“
Als unsere Getränke angeliefert werden, bestellen wir die Eiskreationen und lehnen uns gemütlich in den Stühlen an.
„Das Wetter ist echt toll für Anfang April“, sage ich zufrieden seufzend.
„Absolut. Vielleicht bleibt es so schön.“
Wir bleiben lange im Eiscafé, erst gegen 18 Uhr zahlen wir und machen uns auf den Rückweg zu Sebastians Wohnhaus.
„Ich besitze ein Haus, wusstest du das?“, beginne ich, weil ich das Gefühl habe, ihm mehr über mein Privatleben erzählen zu können, ohne dass es mich halbtot gruselt, so offen zu sein.
Er nickt kurz. „Muss schön sein, so richtig eigener Besitz.“
„Ja, ist es. Auch wenn ich an das Haus eigentlich nicht nur gute Erinnerungen habe.“
„Wieso nicht?“
„Es gehörte meinen Eltern. Sie starben bei einem Verkehrsunfall, als ich fünfzehn war“, verrate ich.
„Das tut mir sehr leid! So jung seine Eltern zu verlieren, muss schrecklich sein!“, entfährt es ihm und er klingt ehrlich schockiert.
„Hm-hm.“
„Hast du keine andere Verwandtschaft?“, fragt er vorsichtig, während sein Arm sich um meine Schultern legt und wir den Weg so eng beieinander fortsetzen.
„Doch. Ich … Weißt du, ich habe einen Bruder, er ist zwölf Jahre älter als ich.“
„Und wo ist er? Du hast … Entschuldige bitte. Ich mag neugierig sein, aber solche Fragen stehen mir wohl nicht zu.“
„Er ist weg. Damals wurde er zu meinem Lebensmittelpunkt. Er verwaltete den Nachlass unserer Eltern, sorgte dafür, dass ich zur Schule ging und später studieren konnte, hat mir sogar beim Aufbau meiner Praxis geholfen. Und dann ist er gegangen.“
Schockierte, sprachlose Stille senkt sich über unseren weiteren Weg und ich bin Sebastian sehr dankbar dafür, nicht unendlich viele Fragen auf mich abzufeuern oder dumme Kommentare abzugeben.
„Irgendwann erzähle ich dir vielleicht mehr über ihn, okay? Momentan bin ich dazu nicht in der Lage.“
„Natürlich ist das okay, Olli!“ Er klingt leicht entrüstet. „Magst du noch bleiben oder willst du gleich nach Hause fahren?“
Wir sind in Sichtweite seines Wohnhauses, mein Wagen parkt davor am Straßenrand.
„Ich würde gern noch bleiben, wenn ich wirklich darf.“
Sein Strahlen belohnt mich für diesen Mut.
„Das wäre schön. Vielleicht magst du mit mir gemeinsam kochen?“