Satan
Die Kletterhalle sieht von außen gar nicht so riesig oder besonders hoch aus, aber das liegt schlicht daran, dass sie in einen Hang gebaut ist.
Der Eingang und das Café, die Verleihstation und die Basis der stets sehr hilfsbereiten Mitarbeiter sind allesamt auf einer Etage angelegt, die etwa auf halber Höhe der Gesamthalle liegt.
Ein Geländer verhindert, dass Neugierige wie ich vom Café aus gleich in die Tiefe stürzen, rechter Hand liegt eine weißlackierte, metallene Wendeltreppe, die zum Bodenniveau der Halle führt.
Vom Café aus kommt man durch eine Glastür in ein Fitnessstudio und wie mir Oliver verrät, gibt es auch eine Sauna in dem Gebäude.
„Der Biergarten wird erst im Mai wieder eröffnet“, sagt er, weil ich ein entsprechendes Plakat entdeckt habe. „Na los, lass uns Schuhe und Klettergurt für dich leihen, dann ziehen wir uns unten um und gehen in die Wand.“
In die Wand?“, frage ich irritiert und Oliver lacht.
„Ja, so nennt man das.“
Kurze Zeit später betreten wir die eigentliche Kletterhalle und Oliver hilft mir, den Gurt anzulegen.
Dann streift er seinen über und erklärt mir ausgiebig, wie ich den Knoten machen muss, der mich zugleich sichert und mir später auch ermöglichen wird, mich wieder abzuseilen.
„Okay“, sagt er schließlich und deutet auf eine der Holzwände, an denen die von ihm als ‚Henkel‘ bezeichneten Griffe zu sehen sind.
Tatsächlich wirken sie sehr groß und so, als könnte auch ich meine riesigen Füße darauf abstellen, um weiter nach oben zu kommen.
„Das hier, die pinke Route, ist die einfachste in diesem Sektor. Eine 3+.“
Ich grinse, als ich das Hinweisschild lese, auf dem ‚Confucius‘ steht.
Auch wird mir klar, dass sich jede der Routen den Platz an den Wänden mit einigen anderen Farben teilt. Neben den pinken Griffen, die ich also nun ausschließlich benutzen soll, sehe ich grüne, blaue, braune, beigefarbene und gelbe.
Kurz bevor Oliver mir alles Nötige erklärt hat, kommt ein Mitarbeiter der Kletterhalle zu uns, der von seiner Statur her eher mir entspricht als Oliver.
„Hey Oliver, du hast um eine passendere Sicherung gebeten?“, grüßt der Mann und mein Begleiter nickt.
„Hi Martin, das ist Sebastian, Sebastian, das ist Martin, der Mann, der dich sichern wird.“ Oliver deutet lächelnd hin und her und ich staune kurz, dass er hier mit Namen bekannt ist und dann auch noch ein gewisses Maß an sozialem Kontakt zu haben scheint.
„Hallo Martin, danke!“, sage ich und wir reichen uns die Hände.
„Kein Problem, Sebastian. Dein erstes Mal?“ Er nickt ohne jeden Spott zur Wand.
„Ja.“
„Heidi hat gesagt, du bist im Studio, danke, dass du dein Training für uns unterbrichst. Die Physik verbietet, dass ich Sebastian selbst sichere“, erklärt Oliver grinsend.
„Jepp, hat sie mir gesagt. Alles gut, ich war nur im Studio, weil ich heute keinen Kletterkurs gebe und trotzdem Dienst habe.“ Martin verankert das Seil, das von meinem Gurt aus zu einem Ring nah an der Decke und wieder herunter läuft, in seinem Klettergurt und sagt: „Versuch, auch wenn es verlockend sein sollte, die Arme möglichst wenig zu nutzen. Stattdessen solltest du aus den Beinen heraus klettern. Such dir festen Halt und drück dich hoch. Nicht hochziehen, okay?“
Ich nicke und denke, das kann ich mir merken.
„Na gut, dann wollen wir mal …“, sage ich und mache mich an den sogenannten ‚Einstieg in die Wand‘.
Zehn Minuten und etliche Korrekturhilfen später habe ich es geschafft und bin oben am Ende der Wand angekommen.
Ich sehe erstmalig hinunter und Martin sagt: „Okay, du kannst dich fallen lassen, ich halte dich.“
Skeptisch sehe ich zu ihm, dann zu Oliver, der bekräftigend nickt, und tue, wie mir geheißen.
Wow!
Ein paar der fünfzehn Meter lege ich im beinahe freien Fall zurück, dann bremst Martin mich durch die Seilwinde an seinem Gurt und lässt mich langsamer herab, während ich mich mit den Füßen immer wieder von der Wand abstoße.
„Toll!“, sage ich fröhlich, als der Boden mich wieder hat.
„Klasse, wenn es dir gefällt, dann jetzt eine andere Route?“, erkundigt sich Martin und ich tausche einen Blick mit Oliver.
„Du stehst meinetwegen blöd hier rum, ich denke, erst mal bist du jetzt dran“, sage ich.
Oliver schüttelt den Kopf. „Wenn ich nachher einmal in meine Hass-Route kann, bin ich vollends zufrieden. Da kannst du mich dann sichern.“
Martin blickt stirnrunzelnd zu Oliver. „Du lässt dich sichern? Seit wann?“
Die Fragen lassen mich blass werden. Soll das heißen, dass Oliver sich sonst in Gefahr bringt?!
Er bemerkt es sofort. „Mann, Martin! Musst du ihn so erschrecken? Sebastian denkt jetzt, dass ich ungesichert klettere!“
Martin kichert. „Sorry, Sebastian. Oliver klettert sonst da vorn, in den doppelten Überhang. Er klettert im Vorstich, das heißt, er sichert sich selbst über eine solche Winde und hakt das Seil immer wieder weiter vor ein.“
Martin deutet auf seinen Gurt, dann auf die Metallringe, die in der Wand eingeschraubt sind, bei deren Anblick ich Genickstarre bekommen will.
„Wahnsinn. Aber dann könntest du jetzt schon klettern und müsstest nicht hier auf mich warten“, schlage ich vor.
Er zögert, bevor er antwortet. „Ja, könnte ich machen, aber nur, wenn es wirklich okay für dich ist.“
Ich schnaube entrüstet. „Ja, sicher ist das okay! Ich ärgere mich höchstens, dass ich nicht zugucken kann, wenn du kletterst.“
~*~
Gute drei Stunden sind wir bereits hier, als wir eine zweite Pause im Café machen und Apfelschorle trinken, die bei dieser anstrengenden Sportart wirklich erfrischend ist.
Anschließend kann ich meine Auszeit verlängern, um Oliver vom Café aus in seiner Hass-Route zuzusehen.
Wahnsinn, was für eine Körperkontrolle er hat. Ich würde mir nie zutrauen, an derart kleinen Griffen – und vor allem nicht hängend – so weit zu kommen.
An einer Stelle stürzt er jedes Mal ab, auch wenn Martin mir zwischenzeitlich erklärt, dass Oliver jedes Mal anders greift und tritt, um endlich über die letzte Kante zu kommen.
Der Absturz ist dabei nur einen, maximal zwei Meter tief, also nur vom letzten genutzten Karabiner, in dem das Seil eingehakt wird, bis zu dem Punkt, an dem das Seil strammgezogen ist.
„Er hat grad signalisiert, dass das sein letzter Versuch für heute war, wenn du willst, kannst du ihn unten einsammeln.“ Martin schlägt mir auf die Schulter. „Wäre cool, wenn du jetzt öfter mitkommst. Es hat dir ja offensichtlich Spaß gemacht.“
„Allerdings! Ich werde sehen, ob Olli mich noch mal mitnehmen will.“
Martin sieht mich verwirrt an. „Wieso sollte er nicht?“
Ich hebe nur die Schultern und leere mein zweites Glas mit Schorle, bevor ich über die Wendeltreppe nach unten gehe, wo Oliver sich gerade abgeseilt hat.
„Scheiße, Mann! Ich kriege diese blöde Kante einfach nicht hin!“, meckert er und löst alle Gurte und Seile von sich.
„Wie lange übst du schon daran?“, frage ich neugierig.
„Drei Monate. Jede andere Route schaffe ich und diese hier ist nicht mal die schwierigste! Echt zum Kotzen.“
Ich grinse. „Es gibt also Dinge, bei denen der Herr Doktor keinesfalls verlieren oder aufgeben will … Finde ich spannend“, ziehe ich ihn sacht auf und ernte einen Schlag in die Rippen.
„Sei nicht so altklug!“
Ich lache nun deutlicher und wir gehen uns umziehen. Der Weg nach Hause steht an, dann müssen wir etwas essen und uns für den heutigen Ausgang fertigmachen.