Oliver
Frisch geduscht nach meinem Mountainbike-Ausflug zum Stadtwald, ziehe ich mir Trainingshose und T-Shirt an und erkläre Alexa, dass sie mir die neuesten Nachrichten erzählen soll, was sie irgendwann unterbricht, um mich an meine Routine für Sonntage zu erinnern.
Es ist Zeit fürs Mittagessen, an dem ich bereits seit einigen Minuten am Herd hantiere, um nur ja nicht aus dem Tritt zu kommen.
Haha!
Seit ein paar Wochen bin ich bereits aus der Routine ausgebrochen, aber wirklich ins Straucheln gebracht hat mich das verrückte Angebot meines Bruders und meines Ex’.
Nein, ich bin mir sicher, das hat auch meine Radtour gedanklich für mich ergeben, dass ich mich auf einen derartigen Kompromiss nicht einlassen kann.
Es mag Sehnsucht nach dieser heilen Welt gewesen sein, die mich heute Nacht aus Sebastians Armen in die Unsicherheit getrieben hat, aber nicht er ist der Unsicherheitsfaktor.
Benne und Eli sind es. Seit über einem Jahr inzwischen!
Auf gar keinen Fall kann und will ich mich darauf einlassen, meinen Ex mit meinem älteren Bruder zu teilen.
So ein ausgemachter Schwachsinn!
Ich fülle mir eine Portion meines Essens auf den Teller und stocke.
Wow! Habe ich also gar nicht so viel Zeit zum Nachdenken gebraucht?
Mein Handy meldet sich mit einem Mitteilungston – das dürfte Sebastian sein!
Sofort stelle ich den Teller auf dem Tisch ab und gehe zur Anrichte, um sie zu lesen. Wie immer blickt mich Ironman durch seine starre Maske hinweg von der Handyhülle an.
> Guten Morgen Olli. Es ist in Ordnung. Denk nach und finde heraus, was du wirklich willst und brauchst. Du weißt ja, wo du mich findest. LG Sebi
Ich grinse mein Handydisplay verblödet an und schrecke regelrecht aus meiner Verzückung, als es an der Tür läutet.
Verärgert lege ich Ironman wieder weg und werfe noch einen Blick auf meinen Teller, weil ich es überhaupt nicht mag, wenn mein Essen kalt wird.
Trotzdem gehe ich zur Haustür und öffne sie genervt.
Sobald ich Eli und Benne erkenne, will ich sie mit einem Schwung wieder schließen, aber einer von beiden muss seinen Fuß dazwischen gestellt haben, weshalb sie wieder aufspringt und mich schmerzhaft an der Schläfe trifft.
Ich fluche und klappe, die Hände an mein Gesicht hebend, zusammen. „Verdammt, was soll der Scheiß?!“, brülle ich, wütend durch den Schmerz.
„Beruhige dich, Kleiner, es war keine Absicht. Tut mir leid!“, verkündet Eli mit besorgtem Ton und ist bei mir, bevor ich reagieren und die Tür erneut anschubsen kann.
„Lass mich!“, fauche ich und strauchele rückwärts, nur um über irgendetwas zu fallen und mit den Armen rudernd einfach umzukippen.
Ein dumpfer Knall, dann wird alles schwarz.
~*~
Mein Schädel summt wie ein Bienenstock und ich hebe die Rechte, um mir unter Stöhnen an die Stirn zu fassen.
Nun ja, ich versuche es, aber mein Arm ist seltsam schwer und ungelenk.
Mühsam und unwillig öffne ich die Augen, blinzle in das Halbdunkel des Raumes.
Mein Schlafzimmer.
Ich sehe zum Wecker. Seine LED-Ziffern behaupten, es ist 17:35 Uhr.
Wieso liege ich um halb sechs abends im Bett?
Mein Blick fällt auf meinen rechten Unterarm und ich hebe ihn nun doch an, um nach der Ursache für das Gewicht zu suchen.
Ein Gips?!
Wieso habe ich einen Gips?!
Ich schlage mit links die Decke beiseite und schiebe die Beine vom Bett, um aufzustehen.
Mein Schädel brummt nun noch deutlicher und ein unangenehmes Schwindelgefühl gesellt sich zu dem aufbrandenden Schmerz.
Ich brauche einige tiefe Atemzüge, bis ich aufstehen und in Richtung Bad gehen kann.
Schwanken beschreibt meine Fortbewegungsart wohl besser, aber immerhin schaffe ich es, den Weg über den Flur und ins Badezimmer zu bewältigen. Ich trete an mein Waschbecken und sehe in den Spiegel.
Ich sehe müde aus, unendlich müde.
Außerdem bin ich nicht nur dünn, sondern eher hager!
Ungläubig starre ich einige Augenblicke lang auf meine Hühnerbrust und kann das nicht ganz fassen.
Um den Kopfschmerz und diese Trägheit loszuwerden, drehe ich das kalte Wasser auf und schnappe mir einen Waschlappen, um ihn in kaltem Wasser zu tränken und mir das Gesicht abzureiben. Nur eine Hand benutzen zu können, nervt mich, aber ich kann es nicht ändern.
„Was machst du denn?!“, ruft eine alarmiert klingende Stimme. Ah, Benne!
Ich wende hastig den Kopf, verziehe das Gesicht vor Schmerz und richte mich auf, als mein älterer Bruder mit schnellen Schritten näherkommt und meine Schultern ergreift.
Verwirrt sehe ich ihn an. Wieso sieht er so besorgt und schockiert aus?
Ich will das auch fragen, aber sein aufgeregter Wortschwall verhindert zunächst, dass ich irgendetwas anderes tun kann, als zuzuhören.
„Du musst im Bett bleiben, Kleiner! Dein Kopf muss dich doch umbringen! Ich habe mich halb zu Tode erschreckt, als ich dir eben einen neuen Kühlbeutel für deine Beule bringen wollte!“
Ich kann nicht alles erfassen, was er sagt, aber ich nicke vorsichtig, während er mich rigoros wieder ins Schlafzimmer und auf das Bett schiebt.
„Bleib da liegen, verdammt! Du willst ja wohl nicht noch zusätzlich die Treppe runterfallen, oder?!“
„Ich … Was ist passiert?“, frage ich schließlich, nachdem Benne
mich wieder zugedeckt und ein angenehm kühles Etwas an meinen Hinterkopf gelegt hat.
„Du bist gestürzt, Kleiner. Unten im Hausflur. Dabei hast du dir den Kopf an der untersten Treppenstufe angeschlagen und den Arm gebrochen.“
Seine Erklärung klingt jetzt ruhiger und er mustert mich traurig.
Ja, so war Benne immer. Total besorgt um mich und unendlich lieb!
Ich lächle ihn verblödet an und murmele: „Danke!“
„Immer gern, Kleiner. Bitte ruh dich aus, ja? Eli erklärt dir nachher, was genau du hast. Ich bin im Gegensatz zu euch schließlich kein Arzt …“
„Schon gut, dafür kannst du toll zeichnen“, sage ich neckend. „Ich habe Hunger.“
Er springt auf und nickt. „Ich bringe dir in einer halben Stunde alles rauf, okay? Es gibt Tortellini al forno.“
„Oh, lecker!“, quittiere ich. „Gibst du mir vorher was zu trinken?“
„Klar. Ich habe dir schon alles auf den Nachttisch gestellt. Hier!“ Mein Bruder reicht mir ein Glas mit Mineralwasser und ich stürze dessen Inhalt hastig hinunter.
„Danke!“
„Kann ich dich für die halbe Stunde allein lassen, ohne dass du weiteren Unsinn machst?“
„Ja, kannst du. Versprochen!“
Er lächelt, dann wendet er sich um und ich kuschle mich, so gut es geht, wieder in mein Bett.
Ich bin also gestürzt? Ich frage mich, wie das passieren konnte …
~*~
Nach den Tortellini bin ich pappsatt und schläfrig, obwohl ich meiner Meinung nach lange genug im Bett gelegen habe.
„Kann ich nicht mit euch ins Wohnzimmer gehen? Ich verspreche, ich bleibe ganz brav auf dem Sofa liegen“, bettle ich Elmar an, der auf meiner Bettkante sitzt und mir lang und breit erklärt hat, was mir fehlt.
Ich muss mir den Kopf wirklich fies angestoßen haben, denn Eli sagt, ich habe eine Gehirnerschütterung und anscheinend auch einen
Gedächtnisverlust.
Heute ist Mittwoch, am Sonntag bin ich laut Elis Aussage gestürzt, und war seitdem mehrfach wach.
Ich kann mich daran nicht erinnern, aber er muss recht haben, denn wie sonst sollten mein Kopf und mein Arm untersucht worden sein?
Mein erstes bewusstes Aufwachen war dagegen erst heute.
Mich beunruhigt, dass ich so lange in einem weggetretenen Zustand war, aber mein Lebensgefährte versichert mir, dass ich so weit okay bin und nur viel Ruhe brauche.
Außerdem hat er mir erklärt, dass ich so abgenommen habe, weil ich mir vor drei Wochen einen Magen-Darm-Virus eingefangen habe.
Na gut, das ist möglich … Es besteht auch kein Anlass, an seinen Worten zu zweifeln.
Nun lächelt er mich schief an und streicht mir vorsichtig über die Wange, bevor er sich zu mir beugt und mich küsst.
Lockend, sanft.
Verwirrt runzle ich die Stirn, weil sich der Kuss nicht so anfühlt, wie er müsste.
Ob das auch an meinem Gedächtnisverlust liegen kann?
Klar!
Ich bin Arzt, ich weiß sehr genau, dass sich durch eine Gehirnerschütterung sogar Geschmacksvorlieben und alles Mögliche verändern können.
Sicherlich muss ich mich nur wieder daran gewöhnen …
Ich beschließe, Eli nichts von dem schrägen, fremden Gefühl zu sagen, das seine Küsse bei mir auslösen.
Er verdient mehr als mein Gemäkel. Immerhin kümmert er sich super um mich und er liebt mich genauso wie ich ihn!
„Natürlich kannst du mit nach unten kommen, Baby. Aber du wirst die Treppen nicht allein gehen, okay?!
„Ja, ist okay.“
Auch wenn ich es ein wenig übertrieben finde, wie sie mich betüddeln, genieße ich es sehr.