Oliver
Vor knappen drei Wochen habe ich mir den Kopf angeschlagen und den Arm gebrochen. Glatter Bruch in Elle und Speiche, mittlerweile hat Eli mir sogar Röntgenbilder davon auf seinem Lappi gezeigt.
Sieht bisher gut aus und dürfte bald verheilt sein.
Was mich daran wundert, ist, dass ich nicht ein einziges Mal Schmerzen in dem verletzten Arm hatte. Zumindest nicht an den Brüchen. Stattdessen habe ich mehrfach falsch gelegen und dadurch ziemliche Einschränkungen, aber die Bewegungen, die ich übungsweise mache, helfen dagegen.
Ich sitze auf dem Küchensofa, Benne mir gegenüber, und wir haben soeben beschlossen, dass wir ein wenig in die Stadt gehen wollen, um zu shoppen.
Eli kann uns nicht begleiten, weil er noch in der Praxis hockt.
In meiner.
Er hat sie etwa eine Woche nach meinem Sturz vorerst übernommen, damit meine Patienten auch weiterhin gut versorgt sind, und meine Angestellten beschäftigt bleiben. Möglich war das wohl nur, weil er hier in Bierken noch keine neue Anstellung im Klinikum gefunden hat.
Die Wetter-App im Fernseher hat uns bereits verraten, dass das Wetter toll sein wird, und wir auf Jacken verzichten können.
Ich bin seltsam aufgeregt, wohl auch, weil ich mir gleich mein neues Handy abholen werde!
Mein altes muss bei dem Sturz runtergefallen sein, jedenfalls war es laut Eli und Benne kaputt und ich benötige ein neues, um wieder mobil erreichbar zu sein.
In einer halben Stunde wollen wir losgehen, aktuell schlürfe ich noch an einem Tee, weil Eli meint, zu viel Kaffee wäre nicht gut für mich.
Ist medizinisch betrachtet nicht gerade logisch, aber es drückt seine allgemeine Sorge um mich aus und ich kann das hinnehmen.
Die Gedanken an meinen langjährigen Lebensgefährten lassen mich lächeln. So sehr, dass Benne irritiert von seiner Zeitung aufsieht und mich fragend mustert.
„Was ist los, Kleiner?“
Ich grinse noch breiter und sage: „Ich bin verliebt!“
Seine Gesichtszüge entgleiten ihm für den Bruchteil einer Sekunde. Ich will schon glauben, mich verguckt zu haben, aber nein, er hat mich wirklich kurz so entgeistert angestarrt.
„Verliebt?“
Ich nicke. „Klar! In Eli!“
Er sinkt seltsam erleichtert gegen die Rückenlehne seines Stuhls und brummt: „Besser ist es.“
Das lässt mich nun wirklich stutzen, aber ich verzichte darauf, nachzufragen, wieso er das gesagt hat.
Stattdessen gleiten meine Gedanken weiter und ich werde mir darüber klar, dass ich mich darauf freue, endlich wieder mit Eli zu schlafen.
Bislang hat er sich geweigert, weil er meint, dass Sex noch zu anstrengend für mich ist.
Na ja, ich jedenfalls habe so manches Mal nichts anderes mehr im Kopf.
Vielleicht erklärt das auch meine seltsamen Träume?
Seit meinem Unfall habe ich diese merkwürdigen Träume von einem Unbekannten, der mit mir schläft, Dinge mit mir unternimmt, mich festhält und mir Sicherheit schenkt.
Wieso ich all das brauchen könnte – abgesehen vom Sex – weiß ich nicht, denn bis auf jenen habe ich doch alles, oder nicht?
Ich bin
in Sicherheit, geliebt, geborgen, momentan ja auch grenzenlos verwöhnt und betüddelt …
Nein, diese Träume sind ganz sicher aus der Tatsache geboren, dass mir der Sex mit meinem Liebsten fehlt.
Darüber, wieso der Typ in meinen ausgesprochen lebhaften Fantasien so gar nichts mit meinem Partner gemein hat, denke ich dabei vorzugsweise nicht nach.
In jeder Nacht schmiege ich mich an Eli, wie ich es seit Jahren tue. Und immer, wenn ich erregt aus einem dieser heißen, schönen, unglaublich liebevollen Illusionen aufgewacht bin, habe ich mich noch dichter angekuschelt – bis Eli mich sacht auf Abstand gebracht hat.
Er hat mich nicht komplett von sich geschoben, aber mich auf die Stirn geküsst und mir zugemurmelt, dass er nicht genug Selbstbeherrschung besäße, um mich so dicht an sich zu spüren.
Noch einmal grinse ich dreckig und sehr breit, dann legt Benne seine Zeitung weg und sieht mich wieder an. „Wollen wir los?“
Ich nicke sofort. „Klar!“
~*~
Die laue Sommerluft und vor allem die vom Himmel strahlende Sonne versüßen mir diesen ersten echten Ausflug so sehr, dass ich konstant grinsend und lächelnd neben Benne durch die Fußgängerzone gehe.
Wir bleiben mal hier mal dort an den Schaufenstern oder außen aufgestellten Ständern stehen, diskutieren darüber, in welchem Café wir später ein Eis essen wollen, und erreichen den Handyladen.
Da ich bereits weiß, welches Modell ich haben will, und Eli zu seinem Vertrag bereits eine sogenannte Familienkarte für mich bestellt hat, die zu Hause auf ein neues Telefon wartet, geht der Einkauf recht zügig und wir treten wenig später wieder ins Freie.
„Ob ich auf dem Markt noch eine passende Hülle finde?“, überlege ich halblaut, während wir wieder durch die Fußgängerzone schlendern.
„Klar, wieso nicht?“ Benne lächelt mich aufmunternd an, trotzdem wirkt er ein wenig angespannt.
„Was ist los?“ frage ich, weil es mir so merkwürdig vorkommt. Schon seitdem wir das Auto geparkt haben und losmarschiert sind, wirkt er, als fürchte er irgendwelche Verfolger.
Ist sicherlich Unsinn, vielleicht spielt mir meine Fantasie einen Streich?
„Nichts“, antwortet er und lächelt nun echter. „Ich habe nur Sorge, dass du dich zu sehr anstrengst.“
Ich lache gutmütig auf. „Benne, ich bin Arzt! Es geht mir wirklich gut! Nicht einmal mein Arm macht sich bemerkbar, also wieso machst du dir Sorgen?“
„Tut mir leid, Kleiner, aber du bist nun mal sehr wichtig für mich“, entschuldigt er sich und wir gehen weiter.
„Da ist der Stand mit dem Handykram! Drück mir die Daumen, dass
ich was finde, ja?“ Ich mache mich sofort auf den Weg zu den breit gefächerten Auslagen des Standes und suche auf den kleinen Hinweisschildern nach meinem neuen iPhone.
Benne ruft mir zu: „Ich hole in der Zeit das Gemüse und den Fisch!“
Ich sehe über meine Schulter zu ihm und nicke. „Bis später!“
Der Gemüsestand ist im selben Gang, er wird mich also weiterhin mit Argusaugen beobachten können, sollte er das für nötig halten.
Ich trete näher an die entsprechende Auslage, sobald ich sie entdeckt habe, und lasse meinen Blick über die wirklich schönen Klapphüllen gleiten.
„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“, fragt mich der Mann jenseits des breiten Tisches und ich sehe zu ihm.
„Ich brauche eine Hülle für mein Handy. Irgendetwas Cooles.“
Er grinst und ich denke, der Schalk, der aus meinen Augen blitzt, ist für ihn erkennbar.
„Ich habe nur coole Hüllen!“, albert er, dass ich loslache.
„Das ist wahr, die hier finde ich klasse, aber sie ist noch nicht ganz das, was mir vorschwebt.“ Ich deute auf eine Hülle mit den Guardians of the Galaxy.
„Aus dem Marvel-Universum habe ich jede Menge da“, erklärt er und deutet auf eine Doppelreihe von Hüllen.
Ich sehe sie mir genauer an und mein Blick bleibt währenddessen immer wieder an einer mit Ironman darauf hängen.
Mein liebster Avenger, seitdem der erste Film mit ihm erschienen ist. Er ist einfach der Coolste, außerdem sind die Soundtracks zu seinen Filmen neben denen der Guardians die besten.
„Zeigen Sie mir die Ironman-Hülle mal?“, bitte ich ihn und er reicht sie mir über den Tisch.
Ich drehe sie, klappe sie auf und wieder zu, sehe sie mir ganz genau an und habe ein derart merkwürdiges Gefühl, dass ich hart schlucken muss.
Woran müsste ich mich erinnern?
Der starre Blick des Superhelden scheint mich anzuklagen, dass ich ihn vergessen habe …
Ich runzle die Stirn, drehe sie erneut und nicke schließlich. „Die hier.“
„Alles klar! Ich gebe Ihnen eine eingepackte, diese hier ist nur zum Vorführen.“
Ich reiche ihm die Hülle zurück und er legt, nach kurzem Kramen in einem seiner jenseits der Auslage stehenden Kartons, eine in durchsichtiges Plastik eingeschweißte, brandneue Hülle mit Ironman auf den Tisch.
„Danke!“
Ich bezahle, packe die Hülle zu meinem Smartphone in die Tragetasche und wende mich nach einem Gruß grinsend um, um meinen Bruder zu suchen.
Er steht noch am Gemüsestand und deutet gerade auf irgendetwas, während er spricht.
Ich gehe zu ihm und sage: „Ich hab eine gefunden!“
„Das ist prima“, erwidert er und wendet sich wieder der Verkäuferin zu, die gerade seine Bestellung auswiegt.
Mir ist das zu langweilig, deshalb sage ich: „Ist es okay, wenn ich schon mal zum Café vorgehe? Ich brauche jetzt ein Eis!“
„Ja, mach nur, ich finde dich dann ja dort.“
Ein wenig erstaunt mich seine Erlaubnis, aber vielleicht erinnert er sich noch an meine Einlassung von vorhin.
Zufrieden wende ich mich um und marschiere, durch die Kunden an diversen Ständen schlängelnd, in Richtung Eiscafé.
Ich muss wegen des Marktes einen riesigen Umweg machen, bis ich mich an einem der Tische niederlassen kann, aber das stört mich nicht.
Viel zu sehr freue ich mich auf einen Cappuccino und ein extragroßes Spaghettieis.
Als ich das Rathaus passiere, kommen mir zwei Männer entgegen, die mir aus verschiedenen Gründen sofort auffallen.
Beide sind hochgewachsen und für meinen Geschmack ziemlich gutaussehend. Der größere von ihnen ist unglaublich breitschultrig und die einzige Bezeichnung, die ihm gerecht werden will, ist ‚Hüne‘.
Gut, aus meiner Perspektive ist das keine Kunst, aber irgendetwas hat er an sich, das …
Ich ziehe die Brauen kraus und sehe den Zweiten genauer an. Etwas kleiner, deutlich schmaler, aber immer noch fast einen Kopf größer
als ich.
Beide haben dunkles Haar und tragen sehr stylishe Sonnenbrillen.
Ich bin heilfroh, dass sie meine neugierigen Blicke nicht sehen können, weil meine eigene Sonnenbrille verspiegelt ist.
Meine Augen wandern wieder zum Größeren und irgendwie ist dieses seltsam vertraute Gefühl wieder da.
Ob ich ihn kenne? Nein, er ist keiner meiner Patienten, an ein solches Bild von einem Mann würde ich mich immer erinnern!
Als sie auf meiner Höhe ankommen, erschrecke ich fast zu Tode, weil der Kleinere mich grüßt.
„Oh, hallo Olli! Wie geht es dir?“
Ich schweige perplex, sehe wieder zu ihm und bleibe abrupt stehen.
„Kennen wir uns?“, frage ich erstaunt, nachdem ich mich gefangen habe.
„Erkennst du uns nicht?“, fragt nun der andere.
Zäh schüttle ich den Kopf. „Nein, tut mir leid, ich habe keine Ahnung, wer Sie sind.“
Eilig passiere ich die zwei und tauche nach rechts ab, um mich endlich im Eiscafé niederzulassen.
Meine Gedanken rotieren. Vielleicht kenne ich die zwei ja doch und habe es nur vergessen?
Noch immer ist nicht klar, wie viel ich wirklich verloren habe, wenn es um meine Erinnerungen geht, aber dieses Treffen verunsichert mich maßlos, weshalb ich einfach flüchten musste.
Jetzt aber suche ich den Marktplatz nach den beiden Gestalten ab, als könnte mir ein weiterer Blick auf sie verraten, wieso sie mich kennen.
Keine Chance. Ich weiß es nicht.
Eine Bedienung erscheint neben mir und lenkt mich ab. Ich bestelle das Eis und einen Cappuccino, dann warte ich nachdenklich und angespannt auf meinen Bruder.
Die zwei Typen müssen mich kennen, sonst hätte der Kleinere mich kaum beim Namen genannt.
Aber woher?
Die Fremden beschäftigen mich dermaßen, dass Benne mich anstupsen muss, damit ich reagiere und meine Aufmerksamkeit auf ihn richte, als er bereits neben mir am Tisch sitzt.
„Hey Kleiner, träumst du?“
Ich mustere ihn und lächle entschuldigend. „Ja, sorry, war mit meinen Gedanken woanders. Hast du alles bekommen?“ Ich deute auf den Stuhl, auf dem er den Korb mit seiner Marktbeute abgestellt hat.
Er nickt. „Ja, morgen gibt es Kochfisch.“
„Das ist klasse!“, sage ich erfreut und beschäftige mich mit meinem Eis, während Benne bestellt.
Irgendwann bemerke ich, dass mein Bruder sich immer wieder umsieht, und entdecke die Fremden ein paar Tische weiter.
Ob er sie beobachtet? Kennt er sie vielleicht?
Ich frage nicht nach, will ihm keinen Anlass geben, wieder an meinen geistigen Fähigkeiten zu zweifeln.
Natürlich beobachte ich die Unbekannten nun noch mehr und muss mich zwingen, eine Unterhaltung mit Benne zu führen.