Oliver
Ich habe für den heutigen Mittwoch einen Termin bei Knut, einem von vielen befreundeten Kollegen aus der Nachbarstadt, vereinbart, um meinen Kopf durchchecken zu lassen.
Ich muss endlich wissen, ob mein Gedächtnisverlust physische Ursachen hat, und wie ich meinen Kopf dazu bringen kann, sich wieder zu erinnern.
Was mir derzeit am meisten fehlt, ist jemand außerhalb meines Hauses, mit dem ich reden kann.
Über meine Zweifel, meine Sorgen, meine Unsicherheiten und das merkwürdige Gefühl, das ich verspüre, wenn ich an meine Träume denke. Immer wieder erscheint das Bild des größeren Typen von der merkwürdigen Begegnung am Freitag vor meinen Augen.
Oh, und dieser ominöse Sebastian spukt mir durch den Kopf.
Wieso hat er mich blockiert? Woher kenne ich ihn wirklich? Wieso bin ich abends, wenn ich normalerweise mit meinem Freund und meinem Bruder zusammensitze, zu ihm gefahren?
Die vielen Fragen verursachen immer mehr Unsicherheit in mir und ich kann nur hoffen, dass Knut mir weiterhelfen kann.
Mir ist natürlich bewusst, dass er das nur bedingt kann, aber vielleicht kennt er Techniken, die mir dabei helfen können, mich zu erinnern.
Da Benne einen langen Termin außerhalb haben wird, und Eli in meiner Praxis ist, fahre ich mit dem Bus in die Nachbarstadt und erreiche das Neurologische Zentrum Weidenhaus in einem der Ärztezentren am Klinikum gegen 11 Uhr vormittags.
Nach einem EEG meines Kopfes und diversen anderen Tests steht fest, dass ich nicht extra zu einem CT in eine Radiologie muss, weil mein Kopf offensichtlich keine direkten Schäden davongetragen hat.
Alles liegt, wie mir Knut bei einem Kaffee in seiner Mittagspause verrät, in meinem Unterbewusstsein begründet, und er ruft seinen Kollegen Tamino Pförtner von der Hölle dazu, von dem ich nicht wusste, dass er seine eigene Praxis vor Jahren aufgegeben hat.
„Hallo Olli! Wir haben uns ja ewig nicht gesehen“, sagt der Hüne, der zu uns in Knuts Büro stößt, als er mit einem Kaffeebecher in der Hand näherkommt und mir die Rechte zum Gruß hinstreckt.
Ich lächle ihn an. „Ist wahr. Ich bin auch selten in einer derart beschissenen Lage wie aktuell.“
Nach seinem interessierten Blick lässt er sich am Tisch nieder und ich erkläre beiden, was ich inzwischen herausgefunden habe.
Meine Gedächtnislücken, die Träume, mein körperlicher Zustand, meine Beobachtungen und das belauschte Gespräch neulich abends, das Treffen mit diesen zwei Typen und natürlich auch der merkwürdige Nachrichtenverlauf werden dabei zum Thema.
Beide hören lange zu, stellen nur wenige Zwischenfragen, und als ich bei der Tatsache angelange, dass mein Arm nicht ein einziges Mal wehgetan hat, seitdem ich den Gips trage, bringt diese Knut dazu, sich gerader aufzusetzen und mich ernst zu mustern.
„Ich rufe kurz bei Melli an, sie hat sicher Zeit, deinen Arm kurz zu röntgen“, sagt er, weil er offensichtlich auch nicht so ganz davon überzeugt ist, dass die Geschichte, die Eli und Benne mir aufgetischt haben, stimmen kann.
Ich nicke, weil die orthopädische Gemeinschaftspraxis unserer Kollegin sich im selben Haus befindet.
„Aber, sag mal, hat Knut mir nicht vor einem guten Dreivierteljahr erzählt, dass Elmar die Stadt verlassen hat?“, fragt Tamino, während Knut den erwähnten Anruf tätigt.
Ich starre ihn verwundert an. „Wie, vor einem Dreivierteljahr!“
Knut beendet sein Telefonat, bevor ich wirklich reagieren und über Taminos Frage weiter nachdenken kann.
Er räuspert sich und kommt zurück zum Tisch. „Das habe ich ganz bewusst nicht erzählt, Tamino, weil ich denke, dass die Gedächtnislücke deutlich größer ist, als Oliver selbst vermutet.“
„Was soll das helfen? Er ist bereits misstrauisch den beiden gegenüber, da finde ich es wichtig, dass er weiß, was wir wissen.“
Ich blinzle perplex und sehe von einem zum anderen. „Was … genau soll das bedeuten?“
Knut seufzt erneut und mustert mich noch ernster als zuvor. „Es bedeutet, dass deine Mitbewohner ganz sicher nicht die Wahrheit sagen, Olli. Vor einem guten Jahr sind sie sang- und klanglos verschwunden und seitdem hast du massiv abgebaut. Psychisch wie physisch. Ich wollte dir das nicht sagen, weil ich der Meinung bin, dass dein Gedächtnis von allein zurückkommen muss.“
„Aber …!“, setze ich an und breche ab. Nach einer kurzen Phase der Ruhe im Raum sage ich: „Wenn das stimmt, wieso sind sie dann wieder da und erzählen mir diesen Unsinn?“
„Für mich klingt es so, als wollten sie dich kontrollieren. Es grenzt an ein Wunder, dass keiner von ihnen neben dir sitzt und genau aufpasst, was wer sagt“, erklärt Tamino ruhig.
Ich bin sprachlos, fassungslos. Dabei weiß ich genau, dass meine Gegenüber nicht lügen, denn welchen Grund sollten sie dafür haben?
Bevor wir das weiter vertiefen können, sagt Knut: „Melli hat Zeit, sich deinen Arm anzusehen. Du solltest schnell zu ihr hoch gehen und danach kannst du gern wieder herkommen.“
Ich nicke schwach und erhebe mich. „Aber …? Was soll ich jetzt tun? Elmar hat meine Praxis übernommen, Benne und er leben bei mir, ich … ich weiß nicht, wie ich mich erinnern soll und …“
Tamino lächelt leicht. „Dein bester Anhaltspunkt, bevor du irgendetwas anderes tust, ist dieser Sebastian, von dem du uns erzählt hast.“
„Hm“, mache ich. „Wenn er mich nicht blockiert hätte, könnte ich ihn fragen, stimmt.“
„Vielleicht triffst du ihn irgendwo in der Stadt wieder?“, schlägt Knut vor.
„Ich fürchte, so einfach ist das nicht, aber ich muss sowieso noch in die Stadt, um im Handyladen nach der merkwürdigen Rechnung für diese mir unbekannte Telefonnummer zu fragen.“
„Wo du es sagst!“, beginnt Knut und zückt sein Smartphone. Er liest mir die Nummer vor, die er von mir in seinen Kontakten gespeichert hat, und ich gleiche sie mit derjenigen ab, die auf der ominösen Rechnung vermerkt ist.
„Ja, das ist sie“, sage ich tonlos und würde am liebsten wieder auf den Stuhl zurücksinken, anstatt zu unserer Kollegin Melanie zu gehen, die meinen Arm untersuchen soll.
Eine knappe halbe Stunde später sitze ich wieder bei Knut im Büro.
Melli hat eindeutig herausgefunden, dass mein Arm nie gebrochen war, und mir den Gips natürlich entfernt.
Trotzdem bleibt die Frage, was ich jetzt tun soll.
Es passt alles zu meinen Beobachtungen, zu dem, was Knut und Tamino, der mittlerweile von seinem Mann abgeholt wurde, mir erzählt haben.
„Es ist schwierig, dir da jetzt einen guten Rat zu geben, Olli. Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht so recht, was du tun sollst, außer diesen Sebastian zu suchen und herauszufinden, was er weiß. Und du könntest deine Mädels aus der Praxis fragen. Sie dürften ja nun wirklich gut Bescheid wissen.“
Ich nicke. „Ja, ich sollte sie kontaktieren. Allein schon, weil ich sie deutlich schneller finden und sprechen kann als Sebastian.“
Ein tiefes Seufzen entkommt mir.
„Und wenn du alles als echt und wahr ansehen kannst, solltest du schnellstmöglich dafür sorgen, dass du die zwei loswirst. Für mich klingt es, als würden sie dich massiv gaslighten und vor allem auf eine krankhafte Art kontrollieren wollen. Dafür muss es Gründe geben und ich weiß nicht, wie schlau es wäre, ihnen weiterhin vorzumachen, du wüsstest von nichts.“
Damit spielt er auf meine Beobachtungen und das belauschte Gespräch an. Mein Blick fällt auf meinen rechten Unterarm, über dessen Haut ich schon seit geraumer Zeit reibe.
„Zudem ist der fehlende Gips ganz sicher ein Alarmsignal für Benne und Elmar. Du solltest vielleicht vorerst woanders übernachten.“
Wieder nicke ich, denn das sind Dinge, über die ich auch gerade nachgedacht habe. Die Frage ist nur, wo soll ich hin?
Ich stelle sie auch laut und uns beiden fällt vorübergehend nur ein Hotel ein, um weiterem Ärger oder erneuten Problemen aus dem Weg zu gehen.
Allerdings muss ich noch einmal in mein Haus, um mir Kleidung zu holen und am besten auch meinen Wagen mitzunehmen.
Ja, das klingt nach einem guten Plan!
Ich verabschiede mich von Knut, bedanke mich natürlich noch einmal für seine schnelle Hilfe und mache mich auf den Weg zur Bushaltestelle, um möglichst bald zu Hause zu sein.
Ein Koffer ist schnell gepackt, dann beschließe ich, die Sache mit meinem angeblich kaputten Handy noch einmal zu überprüfen.
Ich gehe in Bennes Zimmer und durchstöbere die Nachtschränkchen, dann den Kleiderschrank, bis ich einen Karton mit Deckel finde, in dem sich neben diversen anderen Dingen zu meinem Entsetzen und Erstaunen auch ein Smartphone in einer Ironman-Hülle befindet.
Ich nehme es heraus und versuche, es zu starten. Der Akku ist nicht mehr sonderlich voll, aber die PIN, die ich eingebe, um es zu entsperren, funktioniert.
Mein Magen krampft sich immer mehr zusammen, weil die Vermutungen und Theorien, alles, was Tamino und Knut mir gesagt haben, letztlich bestätigt werden.
Zumindest zum Teil.
Ich nehme den Karton nicht mit mir, auch wenn darin Papiere und Verträge liegen, die ich eventuell als Beweise brauchen werde. Lediglich das Handy muss ich einstecken, denn in ihm schlummern ganz sicher viele Antworten auf meine tausend Fragen.
Vielleicht …
Nein, ich habe keine Zeit, jetzt darin herumzusuchen, das muss ich später machen, wenn ich das Haus verlassen habe.
Ich räume den Karton wieder in den Schrank, glätte das gemachte Bett meines Bruders, damit ich keine Spuren hinterlasse, und gehe nach unten in die große Diele, in der mein Koffer bereits steht.
Autoschlüssel nehmen, Koffer schnappen und los.
Erst als ich aus der Einfahrt zurückgesetzt habe und einige Kilometer mehr oder minder ziellos durch die Stadt gefahren bin, halte ich am Straßenrand in irgendeinem Wohngebiet nahe des Stadtzentrums und nutze eine App, um ein Hotel oder eine Pension zu finden.
Da es erst 15 Uhr ist, habe ich dahingehend wohl gute Chancen, und durchforste die Angebote in der App gründlich, bevor ich mich entscheide, eines der kleineren Hotels am Stadtrand, möglichst weit weg von meinem Haus, zu nehmen.
Ich rufe dort an, bevor ich losfahre, und bin sehr zufrieden damit, dass ich ein Zimmer bekomme.
Kaum bin ich angefahren, sehe ich auf dem gegenüberliegenden Parkplatz vor einem Wohnhaus einen Mann aus seinem Wagen steigen.
Ist das nicht einer der beiden, die ich am Freitag auf dem Marktplatz getroffen habe?
Bevor ich noch weiter nachdenken kann, bremse ich und öffne die Fahrertür, sobald der Motor erstirbt.
„Entschuldigung?!“, rufe ich, als er gerade seine Tür schließt, und haste über die Straße, ohne nach rechts und links zu sehen.
„Oliver?“, fragt er erstaunt und zieht die Sonnenbrille vom Gesicht.
Ich nicke hastig. „Ja, stimmt. Aber ich weiß deinen Namen nicht.“
„Sean. Ich heiße Sean.“ Er lächelt schief.
„Tut mir leid, dass ich mich daran nicht erinnere, aber … die letzten Wochen waren echt verrückt.“
Er nickt und mustert mich. „Ich weiß zwar nicht, was genau passiert ist, aber es ist ziemlich schräg, dass du uns so schnell vergessen hast.“
„Ich hatte einen Unfall und habe mir den Kopf angeschlagen“, erkläre ich.
„Den Gips bist du immerhin losgeworden.“
„Ja“, sage ich und werde übergangslos wieder so schrecklich wütend, wie mich diese ganze Scheiße schon bei Melli gemacht hat. „Mein Arm … war nie gebrochen. Aber das weiß ich erst seit vorhin.“
Seine Augen weiten sich. „Wieso hattest du dann den Gips?“
Ich schnaube abfällig. „Weil mein Bruder und mein … keine-Ahnung-was mich von vorne bis hinten belogen haben.“
„Scheiße, das ist echt krank!“, befindet er schockiert.
„Allerdings. Kannst du mir eine Frage beantworten?“
„Welche?“
„Wie heißt der Typ, mit dem ich dich auf dem Marktplatz gesehen habe?“
„Sebastian.“
„Dann …! Danke, Sean! Kannst du mir vielleicht auch sagen, wo und wie ich ihn finde?“
„Kann ich.“
Mir fällt ein halbes Gebirge vom Herzen, auch wenn ich eigentlich nicht so richtig kapiere, wieso.
„Das wäre klasse!“
„Sagst du mir, was du von ihm willst?“
Sean klingt so beschützend und besorgt, dass er mir gleich noch sympathischer wird.
„Ich … weißt du, ich habe einen Nachrichtenverlauf gefunden, im Messenger. Ich muss wissen, was er weiß, was passiert ist, bevor mein Schädel Bekanntschaft mit meiner Treppe gemacht hat.“
Sean grinst. „Wer hätte gedacht, dass das ‚Chaosköpfchen‘ nicht nur ein Kosename war! Es tut mir wirklich leid, dass du diesen Unfall hattest. Ich hoffe, dass Sebastian dir weiterhelfen kann.“
„Das hoffe ich auch!“ Zeitgleich fallen mir all die vielen Träume und das darin stattfindende Geschehen wieder ein. Die heißen, zarten, wilden, hingebungsvollen und nahen Momente, die ich offenbar nicht nur geträumt haben könnte.
Vielleicht sind sie so oder ähnlich wirklich passiert?
„Na gut, willst du allein zu ihm oder soll ich mitkommen?“
Ich zögere, aber nur Sekunden lang. „Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern allein mit ihm reden.“
„Nein, es macht mir nichts aus. Ich hoffe, er kann dir weiterhelfen. Und ich hoffe sogar noch mehr, dass du ihm weiterhelfen kannst.“ Seans kryptische Worte im zweiten Teil seiner Äußerung lassen mich kurz stutzen, aber schließlich nicke ich, nachdem wir einen langen, eindringlichen Blick getauscht haben.
„Ich werde es versuchen.“
„Gut!“
Er deutet auf das Haus, vor dem wir stehen, und lächelt. „Er wohnt hier, ich wollte gerade zu ihm. Dein Unterbewusstsein offenbar auch …“
Ich strahle ihn an. „Danke! Verrätst du mir noch, wo ich klingeln muss?“
Sean nickt. „Heidemann.“ Er wendet sich um, um wieder in seinen Wagen zu steigen. „Viel Erfolg, Olli!“
„Danke!“ Bevor ich zur Haustür mit den insgesamt sechs Klingelschildern gehe, schließe ich meinen Wagen mit der Funkfernbedienung ab und atme noch mehrfach tief durch.