20. Dezember 1962, 14:30 Uhr, Rostock (DDR)
Fast hätte er das Lenkrad verrissen – gefährlich auf der vereisten Landstraße. „An Heiligabend?“, keucht Robert fassungslos und wirft einen ungläubigen Blick ins Gesicht des Mannes auf dem Beifahrersitz. „Bist du jetzt völlig verrückt geworden?“
„Eben gerade an Heiligabend!“ Tino nickt heftig und fährt mit dem Handrücken über die beschlagene Scheibe vor sich.
Es ist kalt, neun Grad unter null. Die Heizung des alten Trabant P 50 ist noch nicht warm, und die Lüftung kann die Feuchtigkeit nicht aus dem Inneren vertreiben.
„Eine Saukälte ist das“, flucht Robert.
Nicht besonders originell, diese Feststellung. Eher eine Art Übersprungshandlung. Zu sehr hat ihn das geschockt, was sein Freund da gerade vorgeschlagen hat.
„Denk doch mal nach“, bleibt Tino am Ball. „Die Ostsee ist jetzt schon zugefroren. Und der Wetterbericht sagt, dass es noch kälter wird. Ideale Voraussetzungen, um rüberzumachen.“
„Aber das sind ja nur noch …“, Robert stockt kurz, „… vier Tage! Wie sollen wir das denn schaffen? Und dann die Frauen, denk doch mal an die. Die erfrieren doch auf der halben Strecke, die halten das gar nicht durch!“
„Du willst also kneifen“, stellt Tino mit flacher Stimme fest. „Verdammt, willst du den Rest deines Lebens in diesem Land eingesperrt sein? Ich verstehe nicht, warum du jetzt zögerst. Seit sie letztes Jahr die Mauer in Berlin gebaut haben, reden wir doch von nichts anderem als unserer Flucht, oder?“
„Ja, sicher, aber …“
„Und jetzt, wo die Gelegenheit endlich da ist, die vielleicht nie mehr wiederkommt, scheißt du dir in die Hose. Wir haben doch alles vorbereitet. Die Fahrräder stehen bereit. Wir brauchen nur unsere Sachen zu packen – und los!“
Robert schluckt, sagt nichts. Schwer hängt das Schweigen in der klammen Kälte des winzigen Gefährts, untermalt vom fröhlichen Geknatter des 17- PS-Motors.
Tino verzieht das Gesicht, als ihm ein Schwall stinkender Abgase des Zweitaktgemischs in die Nase steigt. Rasch greift er in seine Manteltasche, fischt eine Packung KARO heraus und klemmt sich zwei der filterlosen Zigaretten zwischen die Lippen. Er zündet beide an und reicht Robert eine hinüber. Der nimmt sie, saugt heftig daran und stößt eine dicke Qualmwolke aus. Zaghaft fragt er: „Aber warum … Ich meine, ausgerechnet an Heiligabend?“
„Meine Güte, das liegt doch auf der Hand! Besser kann es für uns gar nicht kommen: die Ostsee zugefroren an Weihnachten! Die Wachboote können nicht auslaufen. Kommen durch das dicke Eis gar nicht durch. Und die Grenzer werden lieber in ihren warmen Stuben sitzen, als Patrouille zu laufen. Eine einmalige Chance für uns, bis zum Strand und dann übers Eis zu kommen, ohne dass die Greifer uns bemerken.“
„Heiligabend hin oder her – sie werden trotzdem aufpassen. Und wenn sie durch ihre Feldstecher schauen, werden sie uns entdecken. Spätestens, wenn wir draußen auf dem Eis sind. Vier Leute auf Fahrrädern, die kann man gar übersehen.“
„Wir fahren natürlich erst los, wenn es dunkel ist. Und die Räder malen wir weiß an“, erwidert Tino. „Wir selbst ziehen uns auch weiße Tücher über. Die perfekte Tarnung!“
Robert hat es die Sprache verschlagen.
Tino nimmt einen letzten Zug, kurbelt das Seitenfenster herunter und wirft die Kippe hinaus. Er fixiert seinen Freund mit einem scharfen Blick. „Du tust so überrascht, dabei haben wir das alles schon zigmal durchgekaut. Wir haben den Kompass, wir kennen den Kurs, haben die Strecke und die Entfernung genau berechnet. Jeder hat seine Papiere beisammen. Und jetzt ist die Chance da. Wer weiß, ob die Ostsee jemals wieder vollständig zufriert.“
„Stimmt schon, aber …“
„Nichts ‚aber‘“, fährt ihm Tino unbarmherzig dazwischen. „Jetzt mal Butter bei die Fische! Seid ihr dabei? Sonst machen Gela und ich es allein. Ein Risiko ist es immer, das weiß jeder. Aber wir werden es versuchen. Entweder mit oder ohne euch. Ich würde es mir nie verzeihen, diese Chance nicht genutzt zu haben. Entscheidet euch. Wir haben noch alle Hände voll zu tun, bis wir aufbrechen.“
„An Heiligabend also“, sagt Robert und schluckt. „In vier Tagen. Und was, wenn bis dahin Tauwetter einsetzt?“
„Die Temperaturen sollen sogar noch weiter sinken, haben sie im Wetterbericht gesagt. Bis Silvester soll starker Frost herrschen.“
„Aha“, erwidert Robert lahm.
„Keine Ausreden mehr“, sagt Tino entschlossen. „Entscheide dich! Gela und ich machen an Heiligabend rüber, das steht fest. Eure Sache, wenn ihr lieber im verdammten Paradies der Arbeiter und Bauern eingesperrt bleiben wollt.“
Wieder schluckt Robert, dann sagt er mit einer festen Stimme, die ihn selbst erstaunt: „Wir sind dabei.“
22. Dezember 1962, 16:15 Uhr,
Marielyst, Insel Falster (DK)
„Pis og lort!” Knut Pedersen ist wütend. Heftig zerrt er am vereisten Knoten des Stricks, mit dem er den Weihnachtsbaum auf dem Dachträger des Autos festgebundenen hat.
Erst hat er die Koffer und Taschen durch die klirrende Kälte ins Haus geschleppt und müht sich nun damit ab, das Seil zu lösen. Erfolglos. Die gut verpackte Tanne liegt noch immer bombenfest da oben. Dafür sind seine Finger offenbar erfroren. Jedenfalls spürt er sie nicht mehr.
„Gibt’s Probleme?“, fragt seine Frau, die, angelockt von seinem lauten Fluch, plötzlich in der Haustür steht. „Was meintest du mit ‚verdammter Mist‘?“
„Bring mir bitte ein Messer aus der Küche“, knurrt er. „Ich muss den Strick durchschneiden. Anders krieg ich den verdammten Baum nicht vom Dach.“
„Mach ich sofort“, versucht sie ihn zu besänftigen. „Kannst dich gleich aufwärmen. Den Ofen habe ich schon angeheizt und Teewasser aufgesetzt, aber wir werden noch mehr Holz brauchen. Hier drin ist es sonst nicht auszuhalten.“
Knut seufzt. Ihm ist klar, dass er noch viel Brennholz aus dem Schuppen wird holen müssen. Bei dieser Kälte wird es eine Zeit dauern, bis sie es in ihrem Ferienhaus warm und gemütlich haben.
An einen derart kalten Dezember in Dänemark kann er sich nicht erinnern. Was für ein verrücktes Wetter aber auch – und das schon über das ganze Jahr. Selbst im Hochsommer ist es an der Ostsee nie so richtig warm geworden. Noch im August lag die Wassertemperatur kaum über siebzehn Grad – wahrlich kein Vergnügen für die Strandurlauber.
Und nun auch noch dieser Polarlufteinbruch. Arktisch kalte Nächte, und selbst am Tag erreichen die Temperaturen gerade mal fünf Grad minus.
Die Eisschollen sind mittlerweile zu einer geschlossenen Decke zusammengefroren, der Schiffsverkehr auf der gesamten Ostsee ist fast zum Erliegen gekommen. Auch die Fähren zwischen dem Festland und den vielen dänischen Inseln fahren nur noch selten und unregelmäßig, weil sie dazu Eisbrecher brauchen, die ihnen die Fahrrinne freimachen.
Die Pedersens wohnen in Kopenhagen, wo Knut bei den Stadtwerken gearbeitet hat. Seine Frau Sine ist Lehrerin für Deutsch und Geschichte gewesen. Seit zwei Jahren sind beide im Ruhestand und verbringen mehr Zeit als früher in ihrem Ferienhaus hier auf Falster.
Weihnachten allerdings haben sie schon immer hier gefeiert. Zumindest, seit sie das Häuschen in den Stranddünen etwas abseits des Städtchens Marielyst vor vierzig Jahren gekauft und liebevoll renoviert haben. Ihr Sohn Sven, inzwischen selbst Familienvater, folgt dieser Familientradition und wird morgen mit seiner Frau und den beiden Enkelkindern ebenfalls eintreffen.
Drei Generationen der Pedersens über die Feiertage zusammen – Knut und Sine freuen sich schon darauf. Allerdings machen sie sich Sorgen, ob die junge Familie es schaffen wird, rechtzeitig zum Fest hier zu sein. Sie selbst haben auf den vereisten Straßen für die einhundertfünfzig Kilometer von Kopenhagen fast vier Stunden gebraucht. Wie soll es da erst den Kindern ergehen, die von Odense auf Fünen anreisen und dabei auf die Fähre zwischen Nyborg und Korsør angewiesen sind?
Gestern Abend hat Sven am Telefon berichtet, die Fahrrinne über den Großen Belt werde von Eisbrechern freigehalten. Die Abfahrtzeiten der Fähre seien aber ungewiss. Er wolle von Nyborg aus anrufen, sobald klar sei, ob sie überhaupt eine Chance hätten, nach Korsør überzusetzen.
Hoffentlich klappt das noch, denkt Knut Pedersen und steckt seine kalten Hände unter die Achseln. Sein Blick geht über die Düne hinunter zum Meer.
Die Dämmerung hat eingesetzt. Fahlgrau hängt der Himmel tief über der endlos weiten weißen Eisfläche. Kein Wind weht. Alles ist erstarrt, nichts bewegt sich, menschenleer der Strand.
Elende Kälte.
24. Dezember 1962, 19:15 Uhr,
Ostsee, ca. 16 km nördlich von Rostock
Nirgends ein Licht. Die dichte Wolkendecke verbirgt den Mond und die Sterne. Völlige Dunkelheit.
Und das ist gut so. Bisher hat offenbar niemand die vier sonderbaren Wesen entdeckt, die da, eingehüllt in Bettlaken, auf weiß angestrichenen Fahrrädern über das Eis durch die Nacht fahren. Alle haben die roten Rücklichter an ihren Rädern abgeklemmt und die vorderen Lampen bis auf einen schmalen Schlitz zugeklebt.
Sie kommen gut voran, besser, als sie gedacht haben. Vom Land aus betrachtet, schien sich die See in eine endlose Eiswüste verwandelt zu haben. Doch die Fläche ist nicht allzu glatt, das haben sie schnell gemerkt. Wie in winzigen Wellen haben sich überall raue kristallene Unebenheiten aufgeworfen, auf denen die Reifen recht guten Griff finden.
Tino fährt voraus. Alle paar Minuten holt er den Pfadfinderkompass aus der Tasche, beugt sich über die Lenkstange und hält ihn in den schwachen Lichtstrahl. Sie dürfen auf keinen Fall von ihrem Kurs abkommen, trotz einiger Eisgrate, um die sie herumkurven müssen.
Würden die Wolken aufreißen, könnte er einfach dem Nordstern folgen, schießt es Tino durch den Kopf. Der würde ihnen genau die Richtung zeigen, in die sie fahren müssen. Aber das wäre ein trügerischer Vorteil: Nur noch drei Tage bis Vollmond – die Eisfläche würde schon in dieser Nacht wie im Licht eines gewaltigen Scheinwerfers erstrahlen.
Und alles, was sich auf ihr bewegt, wäre weithin sichtbar.
Vor zwei Stunden haben sie Roberts Trabi im Unterholz des Waldes versteckt, etwa auf halber Strecke zwischen Rostock und Graal-Müritz. Bereits tags zuvor hatten sie ihre Fahrräder dort hingebracht, ins dichte Gestrüpp geschoben und mit Zweigen bedeckt.
Trotz der klirrenden Kälte schwitzend vor Angst, haben sie sie dann vorhin wieder aus dem Buschwerk herausgezogen, ihre Taschen mit weißen Lappen umwickelt, auf den Gepäckträgern festgebunden und die so bepackten Fahrräder zwischen den Bäumen hindurch zum Strand geschoben – immer auf der Hut vor den Grenzern, die jederzeit unerwartet auftauchen konnten.
Doch Tinos Vorhersage schien sich zu bewahrheiten: Offenbar lähmte das unwirtliche Wetter tatsächlich die Aktivitäten der Greifer. Nur kurz bevor die vier aus dem Schutz des Waldes heraus auf den Strand kamen, blitzten in der Dunkelheit zwei Lichter auf, und kurz danach waren Stimmen zu hören. Eine Streife, bestehend aus zwei Grenzsoldaten, näherte sich von rechts auf dem Strand. Ganz gegen ihre Gewohnheit gingen sie schnell und verzichteten darauf, das Gelände fortwährend mit ihren starken Lampen auszuleuchten. Offenbar hatten sie es eilig, wieder in die warme Wachstube zurückzukommen. Schon nach wenigen Minuten waren sie verschwunden.
Danach hat vollkommene Stille geherrscht, nur hin und wieder durchbrochen vom Knacken des Eises, das sich bis an den Strand herangeschoben hatte.
„Es ist so weit“, hat Tino gesagt, seine Stimme bebend vor Aufregung. „Die Republikflucht kann losgehen. Tschüss, du verdammter Walter Ulbricht! In Dänemark wartet schon der Weihnachtsmann auf uns.“ Damit hat er sich aufs Rad geschwungen und ist losgefahren, gefolgt von den beiden Frauen.
Am Ende fährt Robert. Und fragt sich nicht zum ersten Mal, ob sein Freund Nerven wie Drahtseile hat oder schlicht verrückt ist.
Marielyst, Falster (DK)
Erst als es bereits dunkel war, ist Sven mit seiner Familie endlich angekommen. Da haben die Großeltern schon nicht mehr zu hoffen gewagt, den Heiligabend mit ihren Kindern und Enkeln zusammen zu feiern.
Fünf Stunden hätten sie in Nyborg ausgeharrt, ihr Auto draußen in der Schlange stehen lassen. In der schlecht beheizten Wartehalle des Fährterminals gesessen und gewartet, hat Sven seinen Eltern berichtet. Niemand habe ihnen sagen können, ob der Eisbrecher es schaffen würde, für die Fähre eine Rinne ins dicke Eis auf dem Großen Belt zu brechen. Und als es dann tatsächlich so weit war, musste es auf einmal sehr schnell gehen. Hastig habe man die Passagiere zu ihren Autos gerufen und sie auf das Schiff geschleust, das dann hinüber nach Korsør mehr als doppelt so lange gebraucht habe wie üblich.
Nun sitzen sie alle um den Esstisch herum. Die Bescherung ist vorbei; sie genießen die wohlige Wärme des bollernden Kaminofens in der Stube. Viel haben sie sich zu erzählen.
„Der Eisbrecher war immer in Sichtweite vor uns. Ständig sind die Schollen krachend an die Bordwand geknallt“, sagt Svens Frau.
„Ganz unheimliches Geräusch“, fügt ihr Mann hinzu, nimmt noch einen Schluck vom heißen Glögg, dem traditionellen dänischen Weihnachtspunsch, und schmatzt genießerisch. „Niemand versteht sich darauf, dieses Zeug so köstlich zusammenzubrauen wie du, Mama“, lobt er seine Mutter.
„Wenn du so weitermachst, liegst du früher im Bett als die Kinder“, erwidert seine Frau spitz und fährt, an die Schwiegereltern gewandt, fort: „Mit der Überfahrt war die Odyssee aber noch nicht zu Ende. Dann hatten wir ja noch fast zweihundert Kilometer vor uns, bis wir hier waren.“
Sven leert sein Glas und greift nach der Karaffe. „Was soll’s, nun sind wir ja angekommen. Und haben eine Woche Ferien vor uns.“
„Können wir morgen raus aufs Eis?“, fragt seine Tochter. „Ich will Schlittschuh laufen. Das Eis trägt hoffentlich?“
Ihr Großvater lacht. „Hauptsache, du hast deine Schlittschuhe nicht zu Hause gelassen. Über das Eis mach dir mal keine Gedanken, das ist dick genug. Da könnte man mit dem Auto drüberfahren.“
24. Dezember 1962, 21:05 Uhr,
Ostsee, ca. 10 km südlich von Gedser auf Falster (DK)
„Läuft besser, als wir gedacht haben“, ruft Tino über die Schulter nach hinten. „Schätze, wir sind jetzt längst auf dänischem Hoheitsgebiet. Ist euch klar, was das bedeutet?“
„Das schon“, gibt Anne, Roberts Freundin, zurück. „Aber lange halte ich diese Kälte nicht mehr aus. Meine Nase friert mir ab.“
„Reib dir immer wieder kräftig übers Gesicht, das hilft“, sagt Robert.
„Was meint ihr? Wann werden wir die Lichter von Gedser sehen?“, fragt Gela bibbernd.
„Bald schon, wenn wir ordentlich in die Pedale treten“, erwidert Tino. „Los, wir dürfen jetzt nicht schlapp machen. Noch eine Stunde vielleicht, dann sind wir drüben!“ Er stutzt, als im schwachen Licht der Lampe plötzlich aufgeworfene Eisschollen aus der Dunkelheit auftauchen.
„Vorsicht!“, ruft er. „Passt auf, dass ihr euch zwischen den Schollen haltet.“
„Wieso liegen die denn hier?“, fragt Robert misstrauisch. „Bisher war die Eisfläche doch ziemlich eben.“
„Wahrscheinlich wurde hier eine Fahrrinne aufgebrochen. Aber das muss lange her sein.“
Tino hält die offenbar längst wieder erstarrte Fläche vor sich fest im Blick, kurvt um eine Eisscholle herum und fährt weiter. „Seht ihr? Kein Problem. Alles schon wieder zugefroren. Wir fahren nacheinander langsam drüber.“
Schon kommt der flache Streifen aus ehemals weggeschobenen Eisschollen auf der anderen Seite in Sicht, da ertönt ein markerschütternd hallendes Geräusch, als träfe ein überdimensionaler Vorschlaghammer aufs Eis. Keine Sekunde später reißt ein Spalt etwa fünf Meter vor den Flüchtenden auf.
„Stopp! Sofort anhalten!“, brüllt Tino und stemmt seine Füße auf den Boden.
Die anderen halten ebenfalls an, doch erneut kracht es laut, diesmal sogar zwei- oder dreimal, und rund um sie herum bilden sich Risse, durch die das Wasser der Ostsee nach oben schwappt. Auf einmal stehen sie mit ihren Fahrrädern auf einer großen Eisscholle.
Und die beginnt nun, sich im Zeitlupentempo zur Seite zu neigen.
„Wir werden alle ertrinken!“, kreischt Anne. Alle schreien durcheinander, während sie aufs Eis stürzen.
„Die Räder dürfen nicht versinken!“, ruft Tino. „Haltet sie auf der Scholle fest, auch wenn ihr ins Wasser rutscht!“
„Wie soll das denn …?“, kommt es erstickt von Anne, die schon heruntergeglitten ist. Nur noch ihr Kopf ragt aus dem Wasser. „Oh mein Gott, ist das kalt.“
Inzwischen schwimmen sie alle im Wasser. Die Räder aber liegen noch auf der Scholle, die sich wieder stabilisiert hat und nun wie ein zackig geformtes weißes Floß in der dunklen Ostsee zwischen ihnen treibt.
„Versucht, euch an der Scholle festzuhalten“, ruft Tino. „Und bewegt eure Beine!“
„Halt dein Maul, du Idiot!“, flucht Robert. „Du bist schuld, dass wir diesen Wahnsinn gemacht haben. Und jetzt werden wir alle ersaufen!“ Die Panik in seiner Stimme ist unüberhörbar.
„Mir ist so entsetzlich kalt“, wimmert Anne.
„Hört mir zu!“, brüllt Tino und fragt sich selbst erstaunt, woher er die Kraft dafür holt. „Wir geben nicht auf, so kurz vor dem Ziel! Lasst uns den Brocken mit den Rädern auf die andere Seite der Fahrrinne schieben. Da trägt das Eis wieder.“
„Ich spüre meinen Unterleib nicht mehr“, schluchzt Anne.
„Verdammt, was soll das Gejammere?“, schreit Tino wütend. „Reißt euch zusammen! Los, los, wir schieben die Scholle zusammen rüber. Alle machen mit, das hilft auch gegen die Kälte. Und dann ziehen wir uns aufs feste Eis und radeln wie die Teufel weiter – das wird uns warm halten.“ Schon schäumt das Wasser hinter ihm von seinen kräftigen Schwimmschlägen auf. „Nun macht schon mit! Die Freiheit gibt’s nun mal nicht umsonst!“
Jetzt ist sich Robert ganz sicher, dass sein Freund nicht ganz bei Trost sein kann.
Marielyst, Falster (DK)
Sven ist zu Bett gegangen. Nun ja, besser gesagt: Seine Frau hat ihn gestützt, als er die Treppe hoch ins Gästezimmer getorkelt ist. Der Glögg hat ihn geschafft.
Die Kerzen am Baum sind längst niedergebrannt, und auch die Kinder sind mittlerweile in der kleinen Kammer verschwunden, wo immer zwei Klappbetten aufgestellt werden, wenn sie zu Besuch kommen.
Nachdem auch Großmutter und Schwiegertochter sich zur Ruhe begeben haben, senkt sich eine wunderbar friedliche Ruhe über das Haus in den Dünen.
Knut Pedersen ist noch nicht müde.
Er legt Holz im Kaminofen nach, zieht seine gefütterten Stiefel und die warme Winterjacke an, bindet sich den Wollschal um den Hals und steckt die Finger in die wollenen Handschuhe. Im Licht der Außenlaterne tritt er dann vor die Tür, steigt auf dem festgefrorenen Sand die Düne hinauf und lauscht.
Totale Stille um ihn herum. Wenn er nach Norden schaut, sieht er ein paar Lichter - dort, wo der Ort liegt. Sonst herrscht tiefe Dunkelheit, nur alle fünfzehn Sekunden unterbrochen vom weißen Lichtstrahl des Gedser Fyr. Der Leuchtturm steht in etwa drei Kilometern Entfernung auf der Gedser Odde an der Südspitze der Insel Falster.
Pedersen greift in die Jacke, zieht seine starke Taschenlampe hervor, leuchtet damit hinunter zum Strand und dann weiter hinaus aufs Meer.
So weit der Lichtstrahl reicht, nichts als weiße Ödnis. Darüber kein einziger Stern, der die Fläche erhellt. Nicht einmal das Mondlicht schafft es, die dicke Wolkenschicht zu durchdringen.
Er schaltet die Lampe aus und verharrt still in der Finsternis.
Heiligabend. Sein achtundsechzigster.
Immer schon hatte diese Nacht für ihn etwas Besonderes, etwas Magisches, das ihn sein Leben lang berührt hat. Als Kind noch wegen der ungeduldigen Erwartung des Weihnachtsmanns. Und der Geschenke, die er mitbrachte. Doch auch später war ihm die Freude an der immer wiederkehrenden Weihnachtsstimmung geblieben, an den speziellen Düften, den warmen Lichtern in der Adventszeit, den Kerzen am Weihnachtsbaum.
Tief atmet er die eisige Luft ein. Alles ist so wunderbar ruhig und friedlich. Er wendet sich um und stapft zurück zum Haus.
Zeit, schlafen zu gehen.
Strand vor Marielyst, Falster (DK)
„Da vorn …“, krächzt Tino und streckt seine Hand aus. „Ein Haus! Ich glaub, ich hab in den Dünen ein Haus gesehen!“
„Wie … was …?“, nuschelt Robert. Er ist kaum zu verstehen, so sehr klappert er mit den Zähnen. „Alles … dunkel …“
„Der Leuchtturm … das Licht … hinsehen …“ Mehr bringt auch Tino nicht mehr heraus.
„So kalt …“ Annes Stimme, kaum noch verständlich. Gela wankt wie in Trance hin und her und stößt schwach ein paar gutturale Laute aus.
Zitternd stehen sie auf dem hartgefrorenen Strand vor Marielyst.
Eigentlich haben sie ja nach Gedser gewollt, doch als sie sich der hell erleuchteten Stadt an der Südspitze von Falster genähert haben, haben sie gesehen, dass sich die Lichter im offenen Wasser spiegelten. Der Hafen wurde – wahrscheinlich wegen des Fährverkehrs – eisfrei gehalten.
Das war der Augenblick, als selbst Tino drauf und dran war, all seinen Mut zu verlieren.
Wie, zum Teufel, sollten sie dort an Land kommen auf ihren Fahrrädern?
Es war einfach nicht fair! Sie hatten schier Übermenschliches geleistet, hatten sich nicht einmal vom Sturz in die eisige Ostsee entmutigen lassen, waren bibbernd aufs feste Eis gekrochen, hatten sich ausgezogen und gegenseitig fest abgerubbelt, ihre Kleidung ausgewrungen und wieder angezogen. Schlotternd vor Kälte haben sie sich dann auf die Sättel gesetzt und wie wild in die Pedale getreten. Das allein hat sie bis hierher vor dem Erfrieren bewahrt.
„Wir müssen um die Spitze der Insel herumfahren“, hat Tino dann gesagt. „Dort kommen wir bestimmt irgendwo bis an den Strand.“
„Ich bin völlig durchgefroren!“, hat Gela verzweifelt gerufen. „Keine Hundert Meter schaffe ich mehr!“
„Ich geb‘ auf ….“ Annes Stimme. Kaum noch zu hören.
„Niemand gibt hier auf!“, hat Tino sich da mit letzter Kraft aufgebäumt. Laut hat er gebrüllt: „Wir fahren weiter, sonst frieren wir hier wirklich noch fest. Nur noch eine halbe Stunde, länger brauchen wir auf keinen Fall mehr. Dann sind wir an Land!“ Entschlossen ist er einfach losgefahren, hat sich erst nach zwei, drei Minuten umgeschaut, und – siehe da! – die drei fuhren hinter ihm her.
Nun aber sind sie am Ende mit ihren Kräften. Zwar an Land und in Freiheit, aber mittlerweile gefährlich unterkühlt. Tino ist sich darüber im Klaren, dass sie allesamt erfrieren werden, wenn sie nicht in Kürze ins Warme kommen und ihre Kleidung ablegen können. Er spürt, dass seine Hose zu einem festen Eispanzer wird, wenn nicht dauernd die Beine bewegt.
24. Dezember 1962, 23:50 Uhr,
Marielyst, Falster (DK)
Etwas hat ihn geweckt, ein Geräusch.
Knut Pedersen macht die Augen auf, blinzelt in die Dunkelheit und lauscht.
Was ist da an der Tür?
Da, wieder! Ein Hämmern hallt durch das stille Haus.
„Was ist das?“ fragt seine Frau verschlafen. „Hörst du das, Knut?“
Pedersen schaltet die Nachttischlampe ein und springt aus dem Bett. „Da ist jemand an der Tür. Ich schau mal nach.“
Er geht in den Flur, schaltet die Außenbeleuchtung ein und öffnet die Haustür. Was er da im Lichtkegel vor sich sieht, ist so unglaublich, dass er seinen Augen nicht trauen will.
Tino erzählt.
Er sitzt, eingehüllt in mehrere Wolldecken, in der gnadenlos überheizten Stube der Pedersens, in der der eiserne Kaminofen glüht und gefährlich knackende Geräusche von sich gibt, als wolle er demnächst auseinanderfliegen. Robert und Anne liegen unter vielen Bettdecken oben im Gästebett, Gela nebenan im Schlafzimmer.
Zwei Stunden sind vergangen, seit sie fast erfroren ins Haus gestolpert sind, wo Sine Pedersen sofort das Kommando übernommen und ihre Familie aus den Betten gescheucht hat. Zusammen mit ihrer Schwiegertochter hat sie sich um die beiden jungen Frauen gekümmert, die von der Kälte bereits völlig apathisch waren, während Knut Pedersen und sein verkaterter Sohn die beiden Männer übernahmen. Sie entkleideten die Geflüchteten, rieben ihnen die ausgekühlten Körper ab, bis das Blut wieder zu zirkulieren begann, und flößten ihnen warmen Tee ein. Dann setzten sie einen nach dem anderen in die Badewanne und gossen nach und nach immer heißeres Wasser hinein.
Während sie die Durchgefrorenen umhegten, erfuhren die Pedersens die unglaubliche Geschichte dieser Flucht – wenn auch nur bruchstückhaft, denn ihre unerwarteten Gäste waren so geschwächt, dass sie kaum einen zusammenhängenden Satz hervorbrachten. Kaum lagen sie in den Betten, sind sie auch schon in Tiefschlaf gefallen – zumindest drei von ihnen.
Tino allerdings kann nicht schlafen. Er hat eine robuste Konstitution, außerdem ist immer noch viel zu aufgewühlt, um Ruhe zu finden. Während er hin und wieder einen Schluck heißen Tee zu sich nimmt, genießt er es sichtlich, seinen erstaunten Zuhörern mit kaum verhohlenem Stolz die Geschichte ihrer abenteuerlichen Flucht zu erzählen. Sine kommt kaum hinterher, alles zu übersetzen, so schnell sprudelt Tino die Sätze hervor.
Knut Pedersen steht zwischendurch auf und geht in den Flur, um die Polizei anzurufen. Schließlich muss er den Behörden ja melden, dass vier halb erfrorene DDR-Flüchtlinge bei ihm aufgetaucht sind, die erklärt haben, in die Bundesrepublik Deutschland zu wollen.
Der wachhabende Beamte zeigt allerdings wenig Begeisterung dafür, sich zu später Stunde noch um diesen Fall zu kümmern. „Erst einmal sind sie bei euch ja gut aufgehoben“, sagt er und erklärt, morgen im Laufe des Tages werde jemand von der Marielyster Polizeistation kommen, alles zu Protokoll nehmen und sich um die Weiterreise der vier jungen Leute nach Deutschland kümmern. „Wir setzen uns dann natürlich auch mit den westdeutschen Kollegen in Verbindung.“
Pedersen wünscht dem wackeren Polizeibeamten fröhliche Weihnachten, zieht sich noch einmal Stiefel und Mantel an und tritt vor die Tür. Kopfschüttelnd betrachtet er die vier weiß angestrichenen Fahrräder, die er vorhin unten am Strand eingesammelt und an die Hauswand gelehnt hat.
Sein Blick geht nach oben. Die Wolken haben sich jetzt verzogen. Hell leuchten der fast volle Mond und die Sterne am nächtlichen Himmel.
Ein feines Lächeln spielt um Pedersens Mundwinkel.
Schon immer hat er geahnt, dass Heiligabend ein besonderer Tag ist. Und zwar abseits aller biblischen Geschichten.
Märchen gibt es schließlich auch heutzutage. Manchmal erlebt man sogar selbst eines.
Ein Märchen aber ist diese Geschichte keineswegs. Es steckt zwar ein gewisses Maß an erzählerischer Freiheit in ihr, jedoch ist sie nicht völlig frei erfunden. Die abenteuerliche Flucht von vier Menschen aus der DDR mit Fahrrädern über die zugefrorene Ostsee nach Dänemark hat sich am 24. Dezember 1962 im Wesentlichen tatsächlich so zugetragen. Nur die Namen der handelnden Personen sowie einige Ortsangaben wurden verändert.