DER LETZTE HENKER VON RUNGHOLT

Heute, am 16. Januar 1362 um kurz nach elf Uhr, erscheint schemenhaft ein plumper Zweimaster draußen auf der Nordsee vor der Insel Strand. Wild in den Wellen stampfend, hält er auf die Mole von Rungholt zu und schiebt sich im tosenden Chaos aus fliegendem Wasser und schäumender Gischt durch die schmale Hafeneinfahrt. Im engen Hafenbecken muss der behäbige Kahn mehrmals gegen den wütenden Wind aufkreuzen, bis er endlich am Kai festmachen kann.

Können schon die knüppelharten, fast vereisten Hanfleinen nur mit Müh und Not an Land belegt werden – die großen braunen Gaffelsegel zu bändigen, erweist sich als nahezu unmöglich. Ungestüm wie wilde Bestien fetzen sie völlig durchnässt an den beiden Masten hin und her. Zwei Schiffsjungen verletzen sich schwer, als sie versuchen, die gewaltigen, im eisigen Starkwind wie solide Bretter um sich schlagenden Tücher aus grobem Sackleinen zu bergen. Einem wird von der dicken Großschot das Gesicht in blutige Fetzen gerissen, der andere bekommt vom Besanbaum einen Schlag in den Rücken, der ihn außenbords katapultiert. Hätten nicht trotz des strömenden Eisregens ein paar Neugierige auf dem Kai gestanden, die ihn mit vereinten Kräften an einem Tau aus dem Wasser zogen – der Junge wäre elendig ertrunken.

„Wat för een Wahnsinn! Wer kommt wohl bei solchem Wetter hier heraus auf die Uthlande?“ fragen sich die Leute und schütteln den Kopf.

Der in ein sauberes Gewand aus gutem Stoff gekleidete grobschlächtige Hüne, der gerade über die breite Planke von Deck an Land stolziert, hört die Leute reden und grinst verächtlich. Nie käme ihm in den Sinn, derlei Geschwätz einer Antwort zu würdigen.

Als hinge die Gerechtigkeit vom Wetter ab …

Er dreht sich zu seinen beiden Gehilfen um, die Säcke über ihren Schultern tragen und eine offenbar schwere eisenbeschlagene Kiste an seitlich angebrachten Griffen schleppen.

„Bringt das Zeug in die Remise des Inselkrugs!“, befiehlt er mit tiefer Stimme. „Dann holt euch den Zimmermann und fangt an, das Gerüst aufzubauen. Ich mache erst mal dem Amtmann meine Aufwartung. Viel Arbeit diesmal auf Strand. Wir waren schon länger nicht mehr hier draußen.“

Tatendurstig reibt er sich die tellergroßen Hände, spitzt die wulstigen Lippen und pfeift ein fröhliches Lied, während er den Bohlenweg in den Ort hochsteigt.

Die Leute, die ihn kommen sehen, drücken sich angstvoll in die Nischen und Lücken zwischen den niedrigen, strohgedeckten Katen und werfen sich wissende Blicke zu.

Baldo, der Henker, ist angekommen.

Seit fünf Monaten schon hockt Remko in seinem stinkenden, feuchten Verlies. Gleich am Morgen nach jener Nacht haben sie ihn aufgegriffen und eingekerkert.

Angeblich hat er seine Frau erschlagen. Jedenfalls haben sie das behauptet, als sie ihn aus dem Stall gezerrt haben, wo er zwischen den Schafen lag.

Er kann sich an überhaupt nichts erinnern. Schon am helllichten Tag hat er angefangen, seinen selbst gebrannten Fusel in sich hineinzuschütten. Richtig gutes, scharfes Zeug. Gewiss, irgendwann in der Nacht ist seine Frau aufgetaucht, das ist ihm später wieder eingefallen. Wollte ihm den Krug wegnehmen. War wohl schon sein zweiter. Was dann passiert ist, weiß Remko nicht mehr.

Nur, dass er seine Alte gesehen hat, als man ihn am Morgen aus dem Schafstall gezerrt hat. Ganz verkrümmt hat sie in der Güllerinne gelegen. Mit eingeschlagenem Schädel.

Wahrscheinlich ist sie einfach gestürzt, hat Remko geschrien. War bestimmt auch besoffen. Woher, verdammt noch mal, wollen sie denn wissen, dass er sie umgebracht hat? Beweise dafür haben sie keine. Aber klar, er ist ja nur ein armer Taglöhner, der zwei Schafe hält und gern mal einen Schnaps trinkt.

So einen stempeln die feinen Bauern und ihre Büttel schnell zum Verbrecher.

Vor ein paar Wochen sind noch zwei Männer in den Keller gesperrt worden. Raue Gesellen, die ein sonderbares Friesisch sprechen. Ihre Namen hat Remko längst vergessen. Anfangs haben sie noch miteinander gesprochen, ein paar Fetzen wenigstens. So hat Remko erfahren, dass die beiden drüben in der Beltringharde einen berittenen Boten überfallen und ihm das Geld gestohlen haben, das er nach Husum bringen sollte.

Längst jedoch reden die drei Gefangenen nicht mehr. Die brutalen Schläge ihrer Wärter haben sie zermürbt. Gerade mal ein gutturaler Schmerzensschrei kommt hin und wieder über ihre blutigen, zerschlagenen Lippen. Die schmierigen Haare hängen ihnen bis auf die Schultern. Mit ihren klauenartigen Händen und den schmutzstarrenden Fingernägeln daran wühlen sie unablässig in ihren verfilzten Bärten. Kratzen die Haut darunter blutig.

Rostige Eisenmanschetten um ihre wunden Handgelenke halten sie an die Wand gekettet. Kaum einen Meter weit können sie sich bewegen. In ihren Exkrementen sitzend verdämmern sie ihre letzten Tage.

Manchmal stellt ein Wärter einen Blechnapf mit fauligem Wasser vor sie hin. Wirft jedem einen schimmeligen Kanten Brot vor die Füße.

Blitzartig greifen sie nach dem Stück Brot, bevor die Ratten ihnen zuvorkommen, ihre Mitbewohner, die sich hier unten ausgesprochen wohlzufühlen scheinen. Ebenso wie die unzähligen Läuse und Wanzen, die die fauligen, infernalisch stinkenden Strohlager in großer Zahl bevölkern und jede Nacht aufs Neue über sie herfallen.

Schon lange sind die drei zu schwach, sich gegen das Ungeziefer zu wehren. Sie heben nicht einmal mehr die Köpfe, als die Gittertür am Ende des dunklen Verlieses im Schloss scheppert. Die schweren Nagelschuhe des Wärters krachen auf den Steinboden. „Na, ihr Galgenvögel, bald habt ihr es hinter euch! Morgen früh seid ihr dran! Der Henker ist gerade angekommen!“

„Mir macht das Wetter schwere Sorgen“, sagt der Amtmann und blickt aus der schmalen Luke hinüber zum Hafen. „Der Sturm will einfach nicht nachlassen. Wird sogar von Stunde zu Stunde schlimmer.“

Baldo, der Henker der Uthlande, lacht. „Dann baumeln sie eben ein bisschen hin und her. Den Pöbel wird’s freuen. Ist doch lustig“. Er legt den Kopf in den Nacken, kippt sich Branntwein aus dem irdenen Becher in den Schlund und leckt sich genüsslich die Lippen. „Habt Ihr noch einen Schluck?“

„Es geht doch nicht um Volksbelustigung“, gibt der Amtmann ärgerlich zurück und füllt den Becher erneut. „Verschont mich mit solchen Widerwärtigkeiten, Baldo. Solange ich in den Harden der Uthlande friesischer Gerichtsherr im Namen der dänischen Krone bin, herrschen hier Recht und Ordnung. Merkt Euch das!“

„Schon gut, regt Euch nicht auf. Das Volk will nun mal seinen Spaß haben. Und außerdem ist Abschreckung wichtig. Je brutaler, desto besser.“

Der Amtmann lässt sich ächzend in seinen Ledersessel fallen. „Mag sein. Aber trotzdem müssen wir das Spektakel wahrscheinlich verschieben. Das Wasser steigt und steigt. Die letzte Flut war schon fast zwei Meter höher als normal. Sieht verdammt nach einer Sturmflut aus. Gerade hat mir der Deichvogt mitgeteilt, dass er die Kirchenglocken läuten lässt, wenn es so weitergeht.“

„Wollt Ihr damit sagen, ich sei den weiten Weg ganz umsonst hergekommen? Bei dem Scheißsturm? Fast wäre unser Kahn vor Pellwormharde auf Grund gelaufen!“ Baldo kippt den Schnaps hinunter und knallt den Becher auf den Tisch. „Und hier nach Rungholt in den Hafen haben wir es nur gerade so mit Ach und Krach geschafft.“

Der Amtmann zuckt resigniert seine Schultern. „Für das Wetter kann ich nichts. Regt euch nicht auf. Bleibt einfach ein paar Tage bei uns, seid unser Gast, lasst es Euch gutgehen. Und wenn sich der Sturm gelegt hat, waltet Ihr Eures Amtes. Die drei Delinquenten laufen Euch nicht weg.“

„Soll mir recht sein“, gibt der Henker besänftigt zurück. „Solange Ihr mir Essen und Trinken zahlt. Und natürlich die Unterkunft im Dorfkrug.“

Nicht einmal die Galgen werden mehr aufgebaut. Der Deichvogt hat alle Zimmerleute an die Siele beordert, deren Holztore von den anprallenden Wassermassen zerschlagen werden.

Remko und seine Leidensgenossen hocken im Keller. Nichts bemerken sie von der Panik, die die Leute da draußen erfasst hat. Sehen nicht die moosigen Strohbündel, die in breiten Placken von den Dächern der Häuser geblasen werden. Hören nicht das Getöse der einstürzenden Mauern. Nicht das Kreischen der Weiber, deren Kinder der Sturm in den Gassen zu Boden schleudert. Oder einfach wegweht wie Papierfetzen. Sehen nicht die Menschenmassen, die im Glutschein der Pechfackeln mit Schaufeln und Hacken hinunter zum Wasser ziehen, zu den niedrigen Deichen aus Sand. Die längst überspült sind.

Irgendwann in der Nacht bemerken die Gefangenen, dass große Mengen eiskalten Salzwassers plötzlich in ihre Zelle fluten.

Verzweifelt brüllen sie. Kreischen. Reißen an ihren Ketten.

Jetzt hallen die Kirchenglocken ununterbrochen über den Ort. Verzerrte Töne, fortgerissen von den scharfen Böen des Nordwests. Und von der Flut, die wütend wie ein hungriges Raubtier über die Insel Strand und die Uthlande herfällt.

„Das Wasser steigt und steigt. Herr, erbarme dich unser! Wir sind verloren!“

Im letzten Tageslicht stürzt der hölzerne Kirchturm in sich zusammen. Mit einem einzigen dumpfen Dröhnen kracht die Glocke auf den schlammigen Grund.

Die Nacht bricht herein.

Das Inferno ist unbeschreiblich. Niemand überlebt es.

Keiner wird je Zeugnis davon ablegen.

Als der Morgen des 17. Januar 1362 heraufdämmert, ist die Siedlung Rungholt im Meer versunken. Ebenso wie das ganze weite Land, das man einst ‚die Uthlande‘ genannt hat.

Außer einigen Inselresten und ein paar winzigen Halligwarften ragt nichts mehr heraus aus der aufgewühlten trüben See, die bis zum Horizont reicht.

Zehntausende Menschen verschlingt die Nordsee in dieser Nacht.

Scheinbar spurlos.

Viele Mythen ranken sich um das sagenhafte Rungholt, welches auch oft als das ‚Atlantis der Nordsee‘ bezeichnet wird. Immer wieder begegnet uns dabei die Geschichte von den angeblich lasterhaften Bewohnern jener Siedlungen, die damalsUthlande‘ hießen. Vom wahren Glauben seien sie abgefallen, heißt es, hätten heidnische Götzen verehrt und über viele Generationen ein gottloses, liederliches Leben geführt. Die verheerende Jahrtausendflut sei folgerichtig nichts anderes gewesen als Gottes grausame, aber gerechte Strafe.

Mit derlei Aberglauben mag es jeder und jede halten wie es ihm oder ihr beliebt. Sicher wissen wir nur, dass Rungholt und mit ihm weite Teile der Uthlande am 16. und 17. Januar 1362 während der zweiten Marcellusflut, der sogenannten ersten Groten Mandränke, in der Nordsee versanken. Diese gewaltige Sturmflut formte – zusammen mit der zweiten Groten Mandränke von 1634, die auch als Burchardiflut bezeichnet wird, – erst die nordfriesische Küste Schleswig-Holsteins mit ihren Inseln und Halligen so, wie wir sie heute kennen. In den Jahrhunderten zuvor hat diese einzigartige Landschaft noch gar nicht existiert. Die heutige Hafenstadt Husum zum Beispiel war damals eine bedeutungslose Siedlung im Landesinneren.

Auch meine kleine Erzählung über den letzten Henker von Rungholt, der auf sehr endgültige Weise seiner Pflichten für immer enthoben wird, ist natürlich reine Fantasie. Allerdings finden sich bis zum heutigen Tag im Wattenmeer Hinweise auf die Existenz der einstigen Siedlung Rungholt, darunter viele Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände. Vielleicht stammt einer der Scherben ja sogar von dem irdenen Krug, mit dem Remko dereinst seine Frau erschlagen haben soll …

Angeregt zu dieser Geschichte wurde ich jedoch vor allem von vielen Fahrten über das Wattenmeer, von Besuchen der nordfriesischen Inseln und der einzigartigen Halligen, die allerdings ebenfalls bereits in wenigen Jahrzehnten dem unaufhaltsam ansteigenden Meeresspiegel zum Opfer fallen werden. Auch von ihnen wird man dann nur noch bei Ebbe Relikte aus dem Meeresboden ausgraben können.

Das mächtigste literarische Denkmal, dessen Wortgewalt bis heute nachhallt, hat dem versunkenen Rungholt Detlev von Liliencron, einer der bedeutendsten Lyriker seiner Zeit, mit seinem Gedicht Trutz, Blanke Hans aus dem Jahr 1883 gesetzt.

Es darf hier keinesfalls fehlen:

Trutz, Blanke Hans

Heut bin ich über Rungholt gefahren,

Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.

Noch schlagen die Wellen da wild und empört,

Wie damals, als sie die Marschen zerstört.

Die Maschine des Dampfers schütterte, stöhnte,

Aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:

Trutz, Blanke Hans.

Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,

Liegen die friesischen Inseln im Frieden.

Und Zeugen weltenvernichtender Wut,

Taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.

Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten,

Der Seehund sonnt sich auf sandigen Platten.

Trutz, Blanke Hans.

Mitten im Ozean schläft bis zur Stunde

Ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde.

Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,

Die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand.

Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen

Und treibt ihn, sechs Stunden, wieder von hinnen.

Trutz, Blanke Hans.

Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen

Die Kiemen gewaltige Wassermassen.

Dann holt das Untier tiefer Atem ein,

Und peitscht die Wellen und schläft wieder ein.

Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken,

Viel reiche Länder und Städte versinken.

Trutz, Blanke Hans.

Rungholt ist reich und wird immer reicher,

Kein Korn mehr fasst der größeste Speicher.

Wie zur Blütezeit im alten Rom,

Staut hier täglich der Menschenstrom.

Die Sänften tragen Syrer und Mohren,

Mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.

Trutz, Blanke Hans.

Auf allen Märkten, auf allen Gassen

Lärmende Leute, betrunkene Massen.

Sie ziehn am Abend hinaus auf den Deich:

Wir trotzen dir, Blanker Hans, Nordseeteich!

Und wie sie drohend die Fäuste ballen,

Zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.

Trutz, Blanke Hans.

Die Wasser ebben, die Vögel ruhen,

Der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen.

Der Mond zieht am Himmel gelassen die Bahn,

Belächelt der protzigen Rungholter Wahn.

Von Brasilien glänzt bis zu Norwegs Riffen

Das Meer wie schlafender Stahl, der geschliffen.

Trutz, Blanke Hans.

Und überall Friede, im Meer, in den Landen.

Plötzlich wie Ruf eines Raubtiers in Banden:

Das Scheusal wälzte sich, atmete tief,

Und schloss die Augen wieder und schlief.

Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen

Kommen wie rasende Rosse geflogen.

Trutz, Blanke Hans.

Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken,

Und Hunderttausende sind ertrunken.

Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,

Schwamm andern Tags der stumme Fisch.

Heut bin ich über Rungholt gefahren,

Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.

Trutz, Blanke Hans?