GELOBTES LAND

Verängstigt drängt sich Oana an Sorina, die in dem heftig schaukelnden Lieferwagen neben ihr hockt. Ihnen gegenüber, im Dunkel nicht zu erkennen, sitzen die beiden Mädchen, mit denen zusammen sie auf dem Flussschiff gewesen ist. Und hinten, zwischen den Kartons, kauert ein Junge mit langen verfilzten schwarzen Haaren, etwa vierzehn Jahre alt.

Drei Stunden sind sie nun wohl schon unterwegs, seit sie alle in Hamburg in den engen Laderaum des Kleinlasters gepfercht wurden. Hinter ihnen hat Nelu den Wagen bis zu den Türen mit Apfelkartons vollgeladen. Zwischen diesen und dem Führerhaus bleibt den jungen Menschen nur wenig Raum.

Die Luft hier drinnen ist muffig. Mit angezogenen Knien sitzen sie in der Finsternis und versuchen, mit ihren Körpern die harten Schläge auszugleichen, die von den defekten Federn und Stoßdämpfern des alten Gefährts nicht abgefangen werden.

Inzwischen sind ihnen die Beine eingeschlafen. Jede kleine Bewegung, um sie zu durchbluten, verursacht höllische Schmerzen. Seit geraumer Zeit schon fährt der Wagen offenbar über Straßen voller Schlaglöcher, rumpelt gefährlich und schaukelt stark. Immer wieder schreit der Junge auf, weil ein Karton auf ihn gefallen ist.

Gestern erst sind sie in Hamburg angekommen. Eine weite Reise lag hinter ihnen, seit sie in Tulcea, einer rumänischen Stadt an der Donau, an Bord eines Flussschiffes gebracht wurden. Auch auf dem rostigen Frachter mussten sie sich während der zweiwöchigen Fahrt den ganzen Tag lang verstecken, durften nur manchmal nachts an Deck kommen, um frische Luft zu schnappen. In einem stinkenden Verschlag hinter dem Maschinenraum hatten sie die ganze Zeit gehaust. In wachsender Furcht vor dem, was ihr neues Leben werden sollte.

Ihre Verwandten aber, die meisten ohne festes Einkommen, bestenfalls Taglöhner und Feldarbeiterinnen aus den ärmsten Gegenden Rumäniens, hatten bis zu 2000 Euro kassiert. Für jede von ihnen.

Welch sagenhafte Summe!

Wer kann so viel Geld ausschlagen, wenn er bitter arm ist?

In Hamburg hat Nelu sie übernommen. Gut sah er aus in seiner modischen Kleidung, fanden die Mädchen.

„Ihr habt unwahrscheinliches Glück“, sagte er zu ihnen. „Ihr kommt nach Schweden, nach Stockholm.“

Niemand von ihnen weiß, wo Schweden liegt. Von der Existenz eines Landes mit diesem Namen oder gar von einer Stadt, die Stockholm heißt, haben sie noch nie etwas gehört. Nicht in der Schule, die sie sowieso nur vier, fünf Jahre lang besucht haben, und zu Hause schon gar nicht.

Nelu hat ihnen erklärt, das sei die Hauptstadt von einem sehr, sehr reichen und sauberen Land, und dort bekämen sie Stellen als Kindermädchen. Gut würden sie es haben, viel besser als zu Hause. Er erzählte ihnen von diesem fernen Schweden, von hübschen Städten und von herrlicher Landschaft. Von bunten Häusern an einer wunderschönen Küste mit unzähligen Inseln und klarem blauen Wasser. Und von den freundlichen Menschen in Schweden.

Herrliche Aussichten!

Und bald schon werden sie am Ziel sein!

Fast kommt so etwas wie Vorfreude bei Oana auf. Bloß dieser scheußliche Transport im stickigen Lieferwagen scheint ebenso wenig ins Bild von einer rosigen Zukunft zu passen wie die zwei elenden Wochen auf dem Flussschiff.

Vorhin haben sie von Nelu erfahren, dass sie mit einem Boot übers Meer nach Schweden fahren werden, nachts. Das sei nicht zu vermeiden, da sie nicht die nötigen Papiere hätten. Auf den Straßen an der Grenze zwischen Deutschland und Dänemark werde scharf nach illegal Einreisenden gefahndet. Auch zwischen Dänemark und Schweden gebe es viele Kontrollen.

Eine weite Fahrt über das Meer?

Oana und Sorina waren geschockt, als sie das hörten. Das Meer flößt ihnen Angst ein. Da, wo sie herkommen, gibt es nicht einmal einen See. Bloß knochentrockenes, verkarstetes Land. Wasser kennen sie nur von den riesigen Lachen, die auf den Schlammstraßen ihrer Dörfer stehen, wenn es einmal regnet.

Die Bremsen kreischen. Der Wagen hält.

Nelu lädt fluchend einige Kisten aus. Der Schein seiner Lampe fällt auf die kleine Gruppe, die dahinter zusammengekauert auf der Ladefläche sitzt.

„Los, kommt raus!“

Der Junge taumelt apathisch bis zur Tür. Nelu muss ihn auffangen, damit er nicht auf die Straße stürzt.

„Verdammt, reiß dich mal zusammen, du kleiner Scheißer“, zischt er wütend.

Oana presst sich an ihre Leidensgefährtin und umklammert sie wimmernd.

Auf einmal erkennt sie mit großer Klarheit, dass das alles nicht richtig sein kann, was hier geschieht.

„Los, steht auf, kommt raus! Seid nicht blöd, morgen seid ihr schon in Schweden und schlaft in einem weichen, sauberen Bett. Kommt endlich, das Boot wird jeden Moment da sein!“

Stumm schleichen die vier Mädchen gebückt zur Hecktür, und Nelu hilft ihnen beim Sprung nach unten. Als Oana dann mit tauben Beinen wankend neben dem Wagen steht, riecht sie sofort den Duft des Meeres. Mehr noch, sie kann die Wellen an den Strand schlagen hören, ganz nah.

„Schaut mal da rüber“, sagt Nelu und deutet über das dunkle Wasser in die Nacht hinaus.

Oana sieht von fern ein paar Lichter herüberleuchten.

„Ist das Schweden da drüben?“, fragt sie.

„Nein.“ Nelu lacht verächtlich auf. „Das ist die Küste von Dänemark. Ihr fahrt viel weiter. Nach Malmö. Das liegt in Schweden. Dort warten sie schon auf euch.“

Oana nickt nachdenklich. Tief saugt sie die frische, salzige Luft ein. Sie riecht nach Freiheit. Nach einem besseren Leben.

Für einen kurzen Augenblick wird ihr leichter ums Herz.

Zum ersten Mal in ihrem Leben wird sie erwartet.

„Wie viele sind es diesmal?“

„Vier Mädchen und ein Junge.“

„Zu wenig, verdammt noch mal. Ich hatte acht Frauen bestellt.“

„Frauen wären auch kein großes Problem. Mit ganz jungen Mädchen wird es aber immer schwieriger. Von Jungs ganz zu schweigen. Die rumänische Polizei ist nicht mehr so leicht auszutricksen. Selbst wenn man gut zahlt.“

„Dann holen Sie sie doch aus Bulgarien. Da lässt sich fast alles mit Schmiergeld regeln. Ist doch völlig egal, welche Nation. Unsere Kunden wollen ja keine Konversation mit ihnen führen.“

„Wir haben jetzt gute Kontakte zu bulgarischen Lieferanten geknüpft. Da kommen demnächst neue Angebote.“

„Das will ich hoffen. Die Nachfrage hier ist groß.“

„Diese Mädels sind aber wieder erste Sahne. Sie werden begeistert sein. Keine älter als siebzehn! Fast zu schade fürs Bordell. Sie haben doch ein paar stinkreiche Säcke an der Hand. Denen sollten Sie die anbieten. Die werden solch eine Ware zu schätzen wissen. Außerdem ist diesmal endlich auch wieder ein Junge dabei. Und was für einer! Extrem süßer Knabe, vierzehn Jahre alt.“

„Was soll der denn kosten?“

„Für Jungs müssen wir inzwischen selbst Unsummen bezahlen. Sind kaum noch welche zu kriegen. Da wird Ihr Kunde tief in die Tasche greifen …“

„Schwafeln Sie nicht! Wie viel?“

„Für das Kerlchen? Na, unter Hunderttausend fürs Dauerarrangement läuft da gar nichts. Und für die Weiber die Hälfte – wie üblich.“

„Sie werden immer unverschämter. Ich will sie diesmal erst sehen, bevor ich so viel zahle.“

„Netter Versuch, aber nein, mein Freund, so läuft das nicht. Das wissen Sie genau. Der Transport startet erst, wenn die Hälfte meines Geldes eingegangen ist. Die zweite Hälfte zahlen Sie wieder bei Eintreffen der Ware. Das sollten Sie langsam wissen. Ich habe Ihnen aber ein paar schöne Fotos geschickt. Damit können Sie ihre Kunden schon mal anfüttern. Die werden sabbern, wenn sie bloß die Bilder sehen. Solch appetitliches Frischfleisch gibt’s selten.“

„Die Bitcoin-Überweisung haben Sie in einer halben Stunde. Lassen Sie es mich wissen, wenn das Boot unterwegs ist.“

„Mach ich. Es wird irgendwann morgen Nacht an der üblichen Stelle bei Malmö anlegen. Vielleicht auch erst gegen Morgen. Genauer lässt sich das nicht sagen. Wir haben Starkwind da draußen. Die Überfahrt könnte unangenehm werden.“

„Gut. Aber passen Sie auf, dass nichts dazwischen kommt. Ist ‘ne lange Fahrt, und die Kontrollen auf See sind verschärft worden.“

„Keine Sorge. Wir machen das ja nicht zum ersten Mal. Sie dürfen schon mal Ihre Ponyreiter heiß machen – bald gibt’s saugeiles neues Spielzeug.“

Schon zwei Stunden hocken die vier Mädchen und der Junge nun eng zusammengerückt und frierend auf einer Wiese oberhalb des Strandes.

Die Nachtluft ist kalt. Der Wind hat aufgefrischt.

„Hört ihr das?“, ruft Nelu plötzlich und springt hoch.

Zuerst hört Oana gar nichts außer dem immer stärker werdenden Klatschen der Wellen da unten. Dann aber vernimmt sie ein fernes Brummen, das stetig näher kommt und lauter wird.

Sie starrt hinaus aufs Wasser.

Der Lärm erstirbt unvermittelt, und Oana erkennt ein nicht sehr großes Motorboot, das im Mondlicht langsam und geräuschlos über das Wasser herangleitet. Ein dunkler Schemen, gänzlich ohne jedes Licht.

Kurz darauf sieht sie, dass zwei Männer vom Deck hinab in ein Schlauchboot steigen und damit an den Strand fahren. Einer von ihnen springt heraus und kommt auf die Gruppe zu. Er wechselt mit Nelu ein paar Worte in einer Sprache, die Oana nicht versteht, und übergibt ihm ein verschnürtes Päckchen.

„So, ihr geht jetzt alle an Bord“, befiehlt Nelu. „Los, los, stellt euch nicht so an, folgt dem Mann!“

Der großgewachsene Kerl im Overall ruft fordernd etwas in einer fremden Sprache, tritt vor Sorina und Oana hin, reißt sie an den Armen hoch und schubst sie zum Strand hinunter.

„Ihr anderen – hinterher! Los, los!“ schreit Nelu. „Bald seid ihr in Schweden. Da wird es euch gut gehen!“

Sie waten durch flaches Wasser.

Oana spürt die Kälte aufsteigen. Nicht nur äußerlich.

Der riesige Mann macht ihr Angst. Sie dreht sich um, will Nelu fragen, ob auch wirklich alles in Ordnung ist.

Doch der ist bereits im Dunkel der Nacht verschwunden.

Irgendwo in der Nähe wird ein Motor angelassen. Rasselnder Lärm ertönt, entfernt sich schnell.

Im Schlauchboot wartet der zweite Mann. Mit einem schmerzhaften Ruck zieht er Oana über den Gummiwulst. Weinend fällt sie auf den nassen Boden.

Die beiden Männer setzen sich rechts und links auf die Wülste und bugsieren das Schlauchboot mit ihren Paddeln hinüber zu dem wartenden Motorboot. Dort hängt eine Leiter von der Bordkante herunter. Mit heftigem Stoßen und Schieben, begleitet von unverständlichen Kommandos, bringen die groben Kerle sie dazu, hochzusteigen und sich an Deck auf die Planken zu kauern.

Nachdem man das Schlauchboot am Heck vertäut hat, springt donnernd der Motor an, das Boot dreht in Richtung freie See und nimmt Fahrt auf.

Gischt spritzt über das Deck. Oana friert jämmerlich.

Warum sind diese Männer so brutal?

Sie schließt die Augen. Sieht die sauberen Straßen mit den bunten Häusern. Freundliche Menschen stehen winkend in den Türen. Bitten sie herein. Dankbar lächelnd legt sie sich auf ein strahlend weiß bezogenes Bett.

Tränen fließen über ihre Wangen. Sie wispert in den Wind: „Wir fahren auch ganz bestimmt nach Schweden, nicht wahr?“

Niemand hört sie.

Diese Geschichte enthält Elemente aus meinem Roman „Die Tote von Kalkgrund“ aus 2015. Er ist, was seinen Hintergrund betrifft, heute noch aktuell. Nach wie vor stammen viele der aufgegriffenen illegalen Prostituierten in den westlichen EU-Staaten aus Bulgarien, Moldawien und besonders oft aus Rumänien. Die Zahl der Schleusungen in Europa nimmt sogar von Jahr zu Jahr zu, und der Transportweg über das Meer spielt dabei für die Schleuser eine wichtige Rolle.

Dabei werden die in gefährlichen Banden organisierten Menschenhändler immer professioneller. Ihr lukratives Geschäft ist es, osteuropäischen Mädchen und Jungen (und ihren oft hoffnungslos verarmten Verwandten) die Aussicht auf gut entlohnte Arbeit in westeuropäischen Staaten vorzugaukeln, sie dann jedoch an mafiös strukturierte internationale Zuhälterorganisationen zu verkaufen. Nicht selten auch landen sie bei wohlhabenden Privatleuten.

Fast alle diese jungen Menschen enden schließlich auf den Straßen irgendeiner westlichen Großstadt. Ausgelaugt, entwürdigt, drogensüchtig, kurz: zerstört. Wenn sie nicht vorher einfach ‚verschwinden‘, weil sie keinen Nutzen mehr bringen. Keiner vermisst sie, niemand sucht nach ihnen.

Es hat sie ja nie gegeben.