11

Am nächsten Tag hielt ich es nicht länger aus, ich rief Jeremiah an. Ich müsse ihn dringend sehen, sagte ich, er solle kommen, und dabei zitterte meine Stimme. Sogar übers Telefon konnte ich hören, wie dankbar er war, wie wichtig es ihm war, sich mit mir zu versöhnen. Ich versuchte, meinen Anruf bei ihm vor mir selbst zu rechtfertigen, indem ich mir einredete, ich müsse ihn von Angesicht zu Angesicht sehen, um mit der Sache voranzukommen. Die Wahrheit war: Ich vermisste ihn, vermutlich nicht weniger als er mich, und ich wollte einen Weg finden, einfach zu vergessen, was geschehen war.

Doch sosehr ich ihn auch vermisste – sobald ich die Tür öffnete und sein Gesicht wiedersah, war mit einem Mal auch der Schmerz wieder da, schlagartig und mit aller Macht. Auch Jeremiah spürte es. Im ersten Moment war seine Miene noch hoffnungsvoll, doch schon im nächsten Augenblick sah er nur noch am Boden zerstört aus. Als er versuchte, mich an sich zu ziehen, hätte ich ihn so gern umarmt, doch ich konnte es einfach nicht zulassen. Also schüttelte ich den Kopf und stieß ihn weg.

Wir setzten uns auf mein Bett, lehnten mit dem Rücken an der Wand, ließen die Beine über den Rand hängen.

»Woher soll ich wissen, dass du das nicht wieder tun würdest?«, fragte ich. »Wie kann ich dir vertrauen?«

Er stand auf. Eine Sekunde lang dachte ich, er würde gehen, und mir blieb fast das Herz stehen.

Doch dann kniete er sich hin, direkt vor mir, und sagte ganz leise: »Du könntest mich heiraten.«

Zuerst war ich nicht sicher, ob ich mich nicht verhört hatte. Doch dann sagte er es noch einmal, dieses Mal lauter: »Heirate mich.«

Er steckte eine Hand in die Tasche seiner Jeans und zog einen Ring heraus. Einen silbernen Ring mit einem kleinen Diamanten in der Mitte. »Der hier wäre nur für den Anfang, bis ich mir leisten kann, dir selbst einen Ring zu kaufen – mit eigenem Geld, nicht mit dem meines Dads.«

Ich hatte jedes Gefühl für meinen Körper verloren. Jeremiah redete weiter, aber ich hörte ihn nicht. Ich starrte immer nur auf den Ring in seiner Hand.

»Ich liebe dich so sehr. Diese letzten Tage ohne dich waren einfach die Hölle.« Er holte tief Luft. »Es tut mir so leid, dass ich dich verletzt habe, Bells. Was ich getan habe, war – war einfach unverzeihlich. Ich weiß, dass ich uns beiden damit geschadet habe und dass ich mich sehr anstrengen muss, damit du mir wieder vertraust. Ich werde alles dafür tun, wenn du mich nur lässt. Würdest du … es mich versuchen lassen?«

»Ich weiß nicht«, flüsterte ich.

Er schluckte, und sein Adamsapfel bewegte sich auf und ab. »Ich werde mir alle Mühe geben, das schwöre ich dir. Wir mieten uns eine Wohnung außerhalb vom Campus und machen es uns ganz gemütlich. Ich kann mich auch um die Wäsche kümmern. Und ich lerne Kochen, damit wir nicht von Nudeln und Müsli leben müssen.«

»Müsli in eine Schüssel kippen ist nicht gerade kochen«, sagte ich und wich seinem Blick aus. Die Bilder, die er mir da in den Kopf setzte, waren zu viel für mich. Ich sah es ja selbst, wie schön es werden könnte. Wir beide, in einer eigenen Wohnung. Ein Neuanfang.

Jeremiah nahm meine Hände, aber ich zog sie weg. »Siehst du es nicht, Belly? Wir haben immer schon zusammengehört, Belly, du und ich. An uns kommt keiner dran.«

Ich schloss die Augen und versuchte, ein bisschen Ordnung in meinen Kopf zu kriegen. Als ich sie wieder aufschlug, sagte ich: »Du glaubst, du kannst das, was du getan hast, einfach ungeschehen machen, indem du mich heiratest.«

»Nein, das ist es nicht. Nach dem Abend neulich« – er zögerte – »ist mir eins klar geworden: Ich will nicht ohne dich sein. Nie mehr. Du bist die Einzige für mich. Das habe ich immer gewusst. Auf der ganzen Welt gibt es kein Mädchen, das ich je so lieben könnte wie dich.«

Wieder nahm er meine Hand, und dieses Mal zog ich sie nicht weg. »Liebst du mich noch?«, fragte er.

Ich schluckte. »Ja.«

»Dann heirate mich. Bitte!«

»Aber du darfst mich nie wieder so verletzen«, sagte ich. Es war eine Warnung und zugleich eine flehentliche Bitte.

»Ganz bestimmt nicht«, sagte er, und ich wusste, er meinte es auch so.

Er sah mich mit solcher Entschlossenheit an, solchem Ernst. Ich kannte sein Gesicht gut, inzwischen vielleicht besser als jeder andere. Jede Linie, jede Wölbung. Den kleinen Hubbel auf der Nase, wo er sie sich einmal beim Surfen gebrochen hat, die fast verblasste Narbe auf der Stirn, die er sich zugezogen hat, als Conrad und er einmal gekämpft und dabei einen Blumentopf umgeschmissen hatten. Das waren Momente, die ich miterlebt hatte. Vielleicht kannte ich sein Gesicht besser als mein eigenes – wie lange hatte ich es angeschaut, wie oft mit dem Finger über seine Wangenknochen gestrichen, während er schlief.

Vielleicht hatte er dasselbe bei mir getan.

Ich wollte nicht eines Tages eine Narbe auf seinem Gesicht sehen und nicht wissen, woher sie kam. Ich wollte immer bei ihm sein. Sein Gesicht war das Gesicht, das ich liebte.

Wortlos zog ich meine Hand aus seiner, und seine Gesichtszüge erstarrten. Dann hielt ich ihm meine Hand hin, und seine Augen leuchteten wieder auf. Die Freude, die ich in dem Moment empfand – ich hätte sie nie in Worte fassen können. Seine Hand zitterte, als er mir den Ring an den Finger schob.

»Isabel Conklin, willst du mich heiraten?«, fragte er mit einer so ernsten Stimme, wie ich sie nie zuvor bei ihm gehört hatte.

»Ja, ich will dich heiraten«, sagte ich.

Er legte beide Arme um mich, und wir hielten einander ganz fest, umklammerten uns gegenseitig, als wäre jeder für den anderen das rettende Floß. Ich hatte nur diesen einen Gedanken: Wenn wir diesen Sturm überstanden haben, dann schaffen wir alles. Er hatte Fehler begangen, so wie ich auch. Aber wir liebten uns, und darauf kam es an.

Bis spät in die Nacht machten wir Pläne – wo wir leben würden, wie wir es unseren Eltern sagen würden. Die vergangenen Tage schienen eine Ewigkeit entfernt. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, beschlossen wir an jenem Tag, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Die Zukunft war unser Ziel.