Die Reden waren gehalten, die Gäste gingen hinaus, um sich im Garten umzusehen.
»Was für Blumen wünschst du dir eigentlich für deinen Brautstrauß?«, fragte Jeremiah mich leise.
Mit einem Achselzucken sagte ich lächelnd: »Irgendwas Hübsches?« Was verstand ich schon von Blumen? Abgesehen davon – was verstand ich schon von Hochzeiten? Ich war auch nicht auf vielen gewesen, nur bei der meiner Cousine Beth, da war ich Blumenmädchen, und später einmal, als die Tochter von Nachbarn heiratete. Aber mir gefiel dieses Spiel, das wir spielten. Als hätten wir uns etwas ausgedacht, das aber doch Wirklichkeit war.
Auf einmal sah ich ihn. Ganz hinten stand er, Conrad, in einem grauen Anzug. Ich starrte ihn an, und er hob die Hand zu einem Gruß. Ich hob ebenfalls die Hand, rührte mich aber nicht von der Stelle. Ich konnte nicht.
Jeremiah neben mir räusperte sich, und ich zuckte zusammen. Ich hatte völlig vergessen, dass er ja neben mir stand. Für einige wenige Sekunden hatte ich alles vergessen.
Dann drängte Mr. Fisher an uns vorbei, ging mit großen Schritten auf Conrad zu, und die beiden umarmten sich. Auch meine Mutter schloss Conrad herzlich in die Arme, und Steven kam von hinten und klopfte Conrad auf den Rücken. Nun ging auch Jeremiah zu ihm hin.
Ich war die Letzte. Steif ging ich zu der Gruppe hinüber und sagte »Hi«. Ich wusste nicht, wohin mit meinen Händen, und ließ sie einfach seitlich hinunterhängen.
Auch Conrad sagte »Hi«. Dann öffnete er die Arme weit und sah mich mit einem Blick an, den ich stark als Herausforderung empfand. Zögernd ging ich auf ihn zu. Er drückte mich fest an sich und hob mich ein Stück hoch. Ich quiekte und strich meinen Rock nach unten, was mit allgemeinem Gelächter quittiert wurde. Als Conrad mich wieder auf den Boden stellte, rückte ich näher an Jere heran. Er lachte als Einziger nicht.
»Conrad freut sich, seine kleine Schwester mal wieder zu sehen«, bemerkte Mr. Fisher auf seine joviale Art. Ich fragte mich, ob er je mitbekommen hatte, dass Conrad und ich mal zusammen waren. Vermutlich nicht. Es waren ja auch nur sechs Monate gewesen. Nichts im Vergleich mit der langen Zeit, die Jeremiah und ich jetzt schon zusammen waren.
»Wie geht es dir, Schwesterchen?«, fragte er. Noch immer hatte er diesen Blick – teils spöttisch, teils so, als führte er etwas im Schil-de. Ich kannte diesen Blick; ich hatte ihn schon so oft gesehen.
»Gut«, sagte ich mit einem Blick auf Jeremiah. »Uns geht’s richtig gut.«
Jeremiah erwiderte meinen Blick nicht. Er zog sein Handy aus der Tasche und sagte: »Ich komm bald um vor Hunger.« Ich spürte, wie sich mir der Magen leicht zusammenzog. War Jere sauer auf mich?
»Lasst uns noch ein paar Fotos im Garten machen, bevor wir aufbrechen«, sagte meine Mutter.
Mr. Fisher klatschte in die Hände und rieb sie aneinander. Dann legte er die Arme um Jeremiah und Conrad und sagte: »Ich will ein Foto von den drei Fischermännern!« Darüber mussten wir alle lachen, dieses Mal auch Jeremiah. Dieser Ausdruck gehörte zu Mr. Fishers ältesten und abgedroschensten Witzen. Jedes Mal, wenn er mit den Jungs von einem Angelausflug zurückgekommen war, hatte er schon von unterwegs gebrüllt: »Die Fischermänner sind zurück!«
In Susannahs Rosengarten machten wir Bilder in allen möglichen Kombinationen – von Jeremiah und Mr. Fisher und Conrad, dann eins, auf dem auch Steven dabeistand, und schließlich eins von meiner Mutter und mir und Steven und Jeremiah. »Ich will eins nur von Belly und mir«, sagte Jere zu meiner Erleichterung, und unmittelbar bevor meine Mutter abdrückte, küsste Jeremiah mich auf die Wange.
»Das ist hübsch geworden«, sagte meine Mutter. »Jetzt noch eins mit allen Kindern.«
Wir stellten uns zusammen auf – Jeremiah, Conrad, Steven und ich. Conrad legte mir und Jeremiah die Arme um die Schultern. Auf einmal schien es, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen. Die Sommerkinder waren wieder zusammen.
Ich fuhr mit Jeremiah zum Restaurant. Meine Mutter und Steven fuhren zusammen, Mr. Fisher und Conrad getrennt.
»Vielleicht sollten wir es ihnen doch nicht heute erzählen«, sagte ich auf einmal. »Vielleicht sollten wir noch warten.«
Jeremiah stellte die Musik leiser. »Wie meinst du das jetzt?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht sollte sich heute alles nur um Susannah drehen und um ihre Familie. Vielleicht warten wir lieber noch.«
»Ich will aber nicht länger warten. Dass du und ich heiraten, das hat doch ganz viel mit der Familie zu tun. Damit, dass aus unseren beiden Familien eine wird.« Grinsend nahm er meine Hand und hob sie hoch. »Ich will, dass du meinen Ring tragen kannst, jetzt gleich, vor allen, mit Stolz.«
»Ich bin doch stolz!«, sagte ich.
»Dann lass es uns durchziehen wie besprochen.«
»Okay.«
Als wir auf den Parkplatz des Restaurants einbogen, sagte Jeremiah: »Und sei nicht verletzt, wenn er – ich meine, wenn er irgendeine Bemerkung macht.«
Ich blinzelte. »Wer?«
»Mein Dad. Du weißt, wie er ist. Nimm’s nicht persönlich, okay?«
Ich nickte.
Hand in Hand betraten wir das Restaurant. Die anderen waren bereits da und saßen um einen runden Tisch herum.
Ich setzte mich zwischen Steven und Jeremiah und griff sofort nach dem Brotkorb. Ich nahm mir eins der kleinen Brötchen, bestrich es mit Butter und stopfte es mir fast komplett in den Mund.
Steven sah kopfschüttelnd zu. »Ferkel!«, sagte er kaum hörbar.
Ich funkelte ihn an. »Ich hatte heute noch kein Frühstück!«
»Ich habe schon mal diverse Platten mit Appetithäppchen bestellt«, beruhigte mich Mr. Fisher.
»Danke, Mr. Fisher«, sagte ich, noch immer mit halb vollem Mund.
Er lächelte. »Belly, wir sind alle erwachsen hier. Ich denke, du solltest mich langsam mal Adam nennen und nicht mehr Mr. Fisher.«
Unter dem Tisch kniff Jeremiah mich ins Bein. Fast hätte ich laut gelacht. Doch dann ging mir etwas anderes durch den Kopf. Würde ich Mr. Fisher »Dad« nennen müssen, wenn Jeremiah und ich verheiratet waren? Darüber musste ich unbedingt mit Jeremiah sprechen.
»Ich versuch’s mal«, antwortete ich, und als Mr. Fisher mich erwartungsvoll ansah, fügte ich hinzu: »Adam.«
Steven fragte Conrad: »Wieso kommst du eigentlich so gut wie nie her von Kalifornien?«
»Ich bin doch da, oder?«
»Schon, aber praktisch zum ersten Mal, seit du da hingezogen bist.« Steven stieß Conrad leicht in die Seite und fragte mit gesenkter Stimme: »Da gibt’s wohl ein Mädchen da drüben, wie?«
»Nein«, sagte Conrad, »kein Mädchen.«
In dem Moment wurde der Champagner gebracht, und als eingeschenkt war, klopfte Mr. Fisher mit seinem Messer ans Glas. »Ich würde gern einen Toast aussprechen«, sagte er.
Meine Mutter rollte ganz leicht mit den Augen. Mr. Fisher war berühmt für seine Reden, doch der heutige Tag verlangte tatsächlich nach einer.
»Ich möchte euch allen danken, dass ihr heute hierhergekommen seid, um Susannah zu feiern. Es ist ein besonderer Tag, und ich freue mich, dass wir ihn gemeinsam begehen können.« Mr. Fisher hob sein Glas. »Auf Suz.«
Meine Mutter nickte und sagte: »Auf Beck.«
Wir stießen an und tranken, und noch bevor ich mein Glas abgestellt hatte, warf Jeremiah mir einen Blick zu, der so viel bedeutete wie: Pass auf, jetzt geht’s los.
Mir drehte sich der Magen um. Schnell trank ich noch einen Schluck und nickte.
»Ich habe euch etwas mitzuteilen«, sagte Jeremiah.
Während alle darauf warteten, was Jeremiah zu berichten hatte, sah ich unauffällig zu Conrad hinüber. Er hatte einen Arm über Stevens Stuhllehne gelegt, seine Miene war entspannt. Die beiden hatten gerade über irgendetwas gelacht.
Ich hatte den wilden Impuls, Jeremiah aufzuhalten, ihm den Mund zuzuhalten, damit er nicht weitersprach. Alle waren gerade so glücklich. Wir würden die Stimmung ruinieren.
»Aber ich warne euch – es sind extrem gute Nachrichten.« Jeremiah strahlte alle am Tisch an, und ich wappnete mich innerlich. Jeremiah war zu locker, dachte ich. Meiner Mutter würde das nicht gefallen. »Ich habe Belly gebeten, mich zu heiraten, und sie hat Ja gesagt. Sie hat Ja gesagt! Noch diesen August heiraten wir!«
Es war, als wäre es im ganzen Restaurant plötzlich still geworden, als wäre all das Geklapper und Gerede mit einem Mal hinausgesogen worden. Als wäre alles zum Erliegen gekommen. Ich sah meine Mutter auf der anderen Seite des Tisches an. Ihr Gesicht war aschgrau. Steven verschluckte sich an dem Wasser, das er gerade trank. Noch hustend sagte er: »Was zum …?« Conrads Miene war völlig ausdruckslos.
Es war ein absolut unwirklicher Moment.
Der Kellner erschien mit den Vorspeisen – Calamari und Cocktailshrimps und ein Berg Austern. »Dürfte ich dann die Bestellung für die Vorspeisen aufnehmen? Wären Sie so weit?«, fragte er, während er auf dem Tisch Platz schaffte.
»Ich glaube, wir brauchen noch ein paar Minuten«, sagte Mr. Fisher mit einem Blick auf meine Mutter.
Sie wirkte wie weggetreten. Sie öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Dann sah sie mir ins Gesicht und fragte: »Bist du schwanger?«
Ich fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Jeremiah neben mir schien die Luft wegzubleiben.
Mit schriller, bebender Stimme sagte meine Mutter: »Ich fasse es nicht. Wie oft haben wir beide uns über Empfängnisverhütung unterhalten, Isabel?«
Eine peinlichere Situation hätte ich mir nicht vorstellen können. Ich sah erst Mr. Fisher an, der mit puterrotem Gesicht dasaß, dann den Kellner, der am Nebentisch Wasser einschenkte. Unsere Blicke trafen sich, und ich war mir sicher, dass wir uns vom College kannten. »Mom, ich bin nicht schwanger!«
»Laurel, ich schwöre dir, es ist nichts dergleichen«, sagte Jeremiah.
Meine Mutter beachtete ihn gar nicht, sondern sah nur mich an. »Kannst du mir sagen, was das dann soll? Wie kommt ihr bloß auf so eine Idee?«
Plötzlich waren meine Lippen ganz trocken. Für den Bruchteil einer Sekunde ging mir durch den Kopf, was zu Jeremiahs Antrag geführt hatte, doch ebenso schnell verflog dieser Gedanke auch wieder. Nichts von alldem war noch wichtig. Worauf es ankam, war, dass wir uns liebten. »Wir wollen heiraten, Mom«, sagte ich.
»Du bist zu jung«, sagte sie tonlos. »Ihr seid beide noch viel zu jung.«
Jeremiah hustete. »Laur, wir lieben uns, und wir wollen zusammen sein.«
»Ihr seid zusammen«, fuhr meine Mutter ihn an. Dann wandte sie sich mit zusammengekniffenen Augen an Mr. Fisher. »Hast du davon gewusst?«
»Ganz ruhig, Laurel. Das sollte ein Witz sein. Ihr macht Witze, stimmt’s?«
Jere und ich warfen uns einen Blick zu, dann sagte er leise: »Nein, wir machen keine Witze.«
Meine Mutter leerte den restlichen Champagner in ihrem Glas in einem Zug. »Ihr seid zu jung zum Heiraten, Punkt. Aus. Um Gottes willen, ihr geht doch beide noch aufs College! Das ist einfach lächerlich.«
Mr. Fisher räusperte sich und sagte: »Vielleicht nach eurem Abschluss, dann können wir noch einmal darüber reden.«
»Einige Jahre nach dem Abschluss«, warf meine Mutter ein.
»Richtig«, sagte Mr. Fisher.
»Dad …«, begann Jeremiah.
Bevor Jeremiah zu Ende bringen konnte, was immer er sagen wollte, tauchte wieder der Kellner hinter Mr. Fisher auf. Einen Moment lang stand er nur verlegen da, dann fragte er: »Haben Sie vielleicht Fragen zur Speisekarte? Oder – ähm, sollen es heute nur die Häppchen sein?«
»Die Rechnung bitte«, sagte meine Mutter knapp.
Das ganze Essen stand auf dem Tisch, und niemand rührte es an. Niemand sagte etwas. Es war ein Fehler gewesen, ein taktischer Fehler riesigen Ausmaßes. Niemals hätten wir es ihnen auf diese Art sagen dürfen. Jetzt waren sie ein Team, das sich gegen uns verbündet hatte. Sie ließen uns kaum noch zu Wort kommen.
Ich langte in meine Tasche und steckte mir unter dem Tisch meinen Verlobungsring an. Etwas anderes fiel mir nicht ein. Als ich nach meinem Wasserglas griff, sah Jeremiah den Ring und kniff mich wieder ins Bein. Auch meine Mutter bemerkte ihn. Ihre Augen blitzten kurz auf, dann sah sie zur Seite.
Mr. Fisher bezahlte, und dieses Mal protestierte meine Mutter ausnahmsweise nicht. Wir standen auf. Steven füllte sich noch schnell eine der Stoffservietten mit Shrimps, und dann gingen wir hinaus – ich hinter meiner Mutter, Jeremiah hinter seinem Vater. Hinter uns flüsterte Steven Conrad zu: »Was für ein Scheiß, Mann! Das ist doch der reine Wahnsinn. Hast du davon gewusst?«
Ich hörte, wie Conrad Nein sagte. Dann umarmte er meine Mutter zum Abschied, stieg in sein Auto und fuhr davon. Er sah sich nicht einmal um.
Als wir vor unserem Auto standen, fragte ich meine Mutter sehr leise: »Kann ich den Schlüssel haben?«
»Wozu?«
Ich fuhr mir rasch mit der Zunge über die Lippen. »Ich will mir meinen Rucksack aus dem Kofferraum holen. Ich fahr doch mit Jeremiah, weißt du nicht mehr?«
Ich sah, wie meine Mutter um Fassung rang. Dann sagte sie: »Nein, das wirst du nicht. Du kommst mit uns nach Hause.«
»Aber, Mom …«
Bevor ich meinen Satz beenden konnte, reichte sie Steven die Schlüssel, stieg auf der Beifahrerseite ein und zog die Tür zu.
Ich sah Jeremiah hilflos an, der noch auf mich wartete, während sein Vater bereits im Auto saß. Mehr als alles andere wünschte ich mir, ich könnte mit Jere fahren, solche Angst hatte ich, bei meiner Mutter einzusteigen.
Nie zuvor hatte ich so tief in Schwierigkeiten gesteckt.
»Steig schon ein, Belly«, sagte Steven. »Mach’s nicht noch schlimmer.«
»Geh lieber«, sagte Jeremiah.
Ich lief zu ihm und umarmte ihn fest. »Ich ruf dich heute Abend an«, flüsterte er mir ins Haar.
»Wenn ich dann noch lebe«, flüsterte ich zurück.
Damit ging ich zum Auto und stieg ein.
Steven ließ den Motor an. Das Serviettenbündel mit den Shrimps hatte er auf dem Schoß liegen. Meine Mutter sah mich durch ihren Rückspiegel an und sagte: »Den Ring da gibst du zurück, Isabel.«
Wenn ich jetzt nachgab, war alles verloren. Ich musste stark sein.
»Das werde ich nicht«, sagte ich.