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Als Conrad und ich das nächste Mal miteinander sprachen, saß ich gegen Mittag mit dem Hochzeitsordner am Küchentisch. Nachdem die Gästeliste fertig war, musste ich jetzt als Nächstes die Anzeigen rausschicken. Bei den wenigen Gästen kam es mir fast ein bisschen blöd vor, überhaupt so förmlich einzuladen, aber eine Rundmail zu schicken schien mir auch unpassend. Die Karten, weiß mit helltürkisen Muscheln, hatte ich aus einem Brautgeschäft, ich musste sie nur durch den Drucker laufen lassen, und im Nu hatte man seine Einladungen.

Conrad öffnete die Schiebetür und betrat die Küche. Sein graues T-Shirt war schweißnass, vermutlich kam er vom Joggen. »War’s schön?«, fragte ich.

»Ja«, antwortete er mit überraschter Miene. Er sah auf meinen Stapel Umschläge und fragte: »Hochzeitsanzeigen?«

»Ja, jetzt fehlen nur noch die Briefmarken.«

Er goss sich ein Glas Wasser ein. »Ich muss sowieso in die Stadt, einen neuen Bohrer kaufen. Da kann ich dir Marken mitbringen, die Post liegt auf dem Weg.«

Nun war ich diejenige, die überrascht aussah. »Danke«, sagte ich, »aber ich möchte gern selbst schauen, was sie an Hochzeitsmarken dahaben.«

Er leerte sein Wasser auf einen Zug.

»Weißt du, was das ist?«, fragte ich, ohne seine Antwort abzuwarten. »Briefmarken mit einem speziellen Motiv und dem Wort Liebe darauf. Die werden vor allem für Hochzeiten gekauft. Ich weiß das auch nur, weil Taylor mir gesagt hat, ich müsse unbedingt solche nehmen.«

Conrad deutete ein Lächeln an. »Wir können mit meinem Wagen fahren, dann sparst du dir die Strecke.«

»Na gut«, sagte ich.

»Ich will nur noch schnell duschen. In zehn Minuten bin ich startklar«, sagte er und raste nach oben.

Tatsächlich war er zehn Minuten später zurück, wie er gesagt hatte. Er schnappte sich die Schlüssel, ich packte die Umschläge in meine Handtasche, und dann gingen wir aus dem Haus.

»Wir können auch mein Auto nehmen«, bot ich ihm an.

»Schon gut, ich fahre«, sagte er.

Ein merkwürdiges Gefühl war es schon, nach so langer Zeit wieder auf dem Beifahrersitz von Conrads Auto zu sitzen. Das Auto war sauber, und es roch wie immer.

»Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal in deinem Auto gesessen habe«, sagte ich und stellte das Radio an.

Ohne eine Sekunde zu zögern, antwortete er: »Bei deinem Abschlussball.«

O Gott.

Der Abschlussball. Als wir Schluss machten. Als wir im Regen auf dem Parkplatz standen und stritten. Die Erinnerung war mir peinlich. Wie ich geweint hatte, wie ich ihn angebettelt hatte, nicht zu fahren. Nicht gerade eine meiner Sternstunden.

Ein betretenes Schweigen herrschte zwischen uns, vermutlich erinnerten wir uns beide an dieselben Szenen. Um die Stille zu durchbrechen, sagte ich munter: »Lieber Himmel, das ist ja wirklich Ewigkeiten her, stimmt’s?«

Dieses Mal antwortete er nicht.

Er setzte mich vor der Post ab und sagte, er werde mich in ein paar Minuten wieder abholen. Ich sprang aus dem Auto und ging schnell ins Gebäude.

Die Schlange am Schalter verkürzte sich schnell, und als ich an der Reihe war, fragte ich: »Könnte ich bitte Ihre Hochzeitsmarken sehen?«

Die Angestellte griff in eine Schublade und reichte mir einen Bogen. Die Marken zeigten Hochzeitsglocken, die mit einer Schleife zusammengebunden waren, auf der das Wort LIEBE stand.

Ich legte meine Einladungen auf die Ablage und zählte rasch durch. »Ich nehme einen Bogen.«

Sie sah mich an und zögerte einen Moment, dann fragte sie: »Sind das Hochzeitsanzeigen?«

»Ja«, antwortete ich.

»Wünschen Sie Handentwertung?«

»Wie bitte?«

»Wünschen Sie Handentwertung?«, wiederholte sie, dieses Mal schon etwas unfreundlicher.

Ich geriet in Panik. Was sollte das jetzt wieder heißen – Handentwertung? Ich hätte gern Taylor eine SMS geschickt und nachgefragt, doch die Schlange hinter mir wurde immer länger, also sagte ich nur rasch: »Nein, danke.«

Ich zahlte, ging hinaus und setzte mich auf die Bordsteinkante. Dann klebte ich die Marken auf die Umschläge. Auch an meine Mutter hatte ich einen adressiert – für alle Fälle. Vielleicht änderte sie ihre Meinung ja doch noch. Conrad fuhr vor, als ich die Einladungen gerade in den Briefkasten warf. Es war also wirklich wahr, ich würde tatsächlich heiraten. Jetzt gab es kein Zurück mehr. (Es war auch nicht so, als hätte ich das gewollt.)

»Hast du deinen Bohrer bekommen?«, fragte ich, als ich wieder einstieg.

»Jep«, sagte er. »Und du deine Hochzeitsmarken?«

»Jep«, antwortete ich. »Sag mal, was heißt denn Handentwertung?«

»Die Post stempelt Marken ab, damit man sie nicht noch einmal benutzen kann, das nennt man Entwertung. Handentwertung heißt dann wohl, dass Briefe nicht von Automaten, sondern einzeln von Hand abgestempelt werden.«

»Woher weißt du so was?«, fragte ich beeindruckt.

»Ich hab mal Briefmarken gesammelt.«

Stimmt. Das hatte ich ganz vergessen. Conrad hatte Briefmarken gesammelt. Er bewahrte sie in einem Album auf, das sein Vater ihm geschenkt hatte.

»Das hab ich ja total vergessen. O Mann, du hast das so ernst genommen mit diesen Briefmarken, wir durften das Album nicht mal anfassen ohne deine Erlaubnis. Weißt du noch, wie Jeremiah dir mal eine geklaut und auf eine Postkarte geklebt hat? Du hast geheult, so wütend warst du.«

»Na hör mal, das war meine Abraham-Lincoln-Marke, die mein Opa mir geschenkt hatte«, verteidigte sich Conrad. »Eine ganz seltene Marke.«

Ich lachte, und dann lachte Conrad auch. Es hörte sich gut an. Wie lange war es her, dass wir zuletzt miteinander gelacht hatten?

Kopfschüttelnd sagte er: »Ich war so ein kleiner Streber.«

»Nein, das warst du nicht!«

Conrad warf mir einen Blick zu. »Briefmarken sammeln, mit dem Chemiebaukasten experimentieren, wie besessen in der Enzyklopädie lesen.«

»Schon, aber bei dir war das alles irgendwie cool«, sagte ich. In meiner Erinnerung war Conrad kein Streber. Er war einfach älter und schlauer und interessierte sich für erwachsene Themen.

»Du warst ja auch leicht zu beeindrucken«, sagte er. »Als du klein warst, hast du Möhren gehasst. Um nichts in der Welt hättest du sie gegessen. Aber dann habe ich dir erzählt, dass man von Möhren Röntgenaugen bekommt. Und du hast mir geglaubt. Du hast mir alles geglaubt, egal, was ich gesagt habe.«

Das stimmte. Allerdings.

Ich hatte ihm das mit den Möhren und den Röntgenaugen geglaubt. Ich hatte ihm geglaubt, als er mir sagte, dass er sich nie etwas aus mir gemacht habe. Und als er in derselben Nacht versucht hatte, es zurückzunehmen, da habe ich ihm wahrscheinlich wieder geglaubt. Doch jetzt wusste ich nicht mehr, was ich noch glauben sollte. Ich wusste nur, dass ich ihm nicht mehr vertraute.

Ich wechselte abrupt das Thema. »Willst du eigentlich in Kalifornien bleiben, wenn du deinen Bachelor hast?«

»Kommt ganz drauf an, an welcher Med School ich einen Platz bekomme.«

»Bist du … ich meine, hast du da eine Freundin?«

Ich sah, wie er erschrak. Ich sah, wie er zögerte.

»Nein«, sagte er.