Draußen sang ein Goldfink. Oder vielleicht auch eine Singammer. Mein Dad hatte mir immer beizubringen versucht, Vögel an ihrem Gesang zu erkennen, doch ich erinnerte mich nur vage.
Der Himmel war grau. Noch war es trocken, aber jeden Moment konnte es einen Sturzregen geben. Es fühlte sich an wie ein ganz gewöhnlicher Morgen in Cousins Beach. Doch das war es nicht, denn heute würde ich heiraten.
Jedenfalls war ich mir einigermaßen sicher, dass ich heiraten würde. Das Problem war nur, dass ich keine Ahnung hatte, wo Jeremiah war und ob er überhaupt zurückkommen würde.
Ich saß in meinem rosa Bademantel vor dem Spiegel meiner Frisierkommode und versuchte, mir Locken zu drehen. Taylor war beim Friseur. Sie hatte versucht, mich zu überreden mitzukommen, doch ich hatte abgelehnt. Ich hatte mir erst ein einziges Mal die Haare machen lassen, und anschließend sah ich ganz schrecklich aus, fand ich. Mit starren, hoch aufgetürmten Haaren, als wollte ich zu einem Schönheitswettbewerb. Ich sah überhaupt nicht nach mir selbst aus. Aber gerade an diesem Tag wollte ich doch wie ich selbst aussehen.
Es klopfte.
»Komm rein«, sagte ich. Ich war gerade dabei, eine Locke zu fixieren, die sich wieder aushängte.
Die Tür ging auf, und meine Mutter trat ein. Sie war schon fertig angekleidet für die Feier, mit einer Leinenhose und einem Jackett. Sie hielt einen zitronengelben Umschlag in der Hand, den ich auf den ersten Blick erkannte: Er gehörte zu Susannahs privatem Briefpapier. Typisch Susannah, so eine Geste! Ich wünschte nur, ich hätte sie auch verdient. Es tat mir weh, dass ich sie so enttäuscht hatte. Was würde sie sagen, wenn sie davon wüsste?
Meine Mutter schloss die Tür hinter sich. »Möchtest du, dass ich dir helfe?«, fragte sie.
Ich hielt ihr den Lockenstab hin. Sie legte den Brief auf meine Kommode und stellte sich hinter mich. Dann unterteilte sie meine Haare in drei Partien. »Hat Taylor dich geschminkt? Sehr hübsch.«
»Ja, hat sie. Danke. Aber du siehst auch wirklich hübsch aus.«
»Nur innerlich bin ich nicht wirklich bereit«, sagte sie.
Ich sah sie im Spiegel an, wie sie mit gesenktem Kopf eine Strähne aufrollte. In dem Moment fand ich meine Mutter so schön.
Sie legte mir die Hände auf die Schultern und erwiderte meinen Blick im Spiegel. »So hatte ich mir das nicht für dich gewünscht. Aber ich bin da. Es ist der Tag, an dem du heiratest. Meine einzige Tochter.«
Ich langte über die Schulter nach ihrer Hand. Sie drückte meine Hand ganz fest, so fest, dass es wehtat. Ich hätte mich ihr so gern anvertraut, ihr gestanden, dass alles völlig verkorkst war, dass ich nicht einmal wusste, wo Jeremiah war und ob ich tatsächlich an diesem Tag heiraten würde. Aber sie hatte sich so überwinden müssen hierherzukommen – wenn ich jetzt auch nur den kleinsten Zweifel in ihr weckte, wäre das für sie mehr als ausreichend, um der ganzen Sache ein Ende zu bereiten. Sie würde mich schnappen und mich von hier fortbringen, nur weg von dieser Hochzeit.
Daher brachte ich nicht mehr hervor als ein »Danke, Mommy«.
»Bitte schön«, sagte sie. Dann warf sie einen Blick durchs Fenster. »Glaubst du, das Wetter hält?«
»Keine Ahnung. Ich hoffe es.«
»Na ja, schlimmstenfalls verlegen wir die Feier ins Haus. Auch kein Drama.« Dann überreichte sie mir den Brief. »Susannah hat gewollt, dass du diesen Brief an deinem Hochzeitstag bekommst.«
Meine Mutter küsste mich auf den Kopf und ging aus dem Zimmer.
Ich nahm den Brief und strich mit den Fingern über meinen Namen in Susannahs eleganter Handschrift. Dann legte ich den Brief auf die Kommode zurück. Noch nicht.
Wieder klopfte es. »Wer ist da?«, fragte ich.
»Steven.«
»Komm rein.«
Die Tür ging auf, und Steven kam herein und machte hinter sich zu. Er trug das weiße Leinenhemd und die Khakishorts der Trauzeugen. »Hey«, sagte er und setzte sich auf mein Bett. »Hübsche Frisur.«
»Ist er wieder da?«
Steven zögerte.
»Sag’s mir, Steven.«
»Nein, er ist nicht zurück. Conrad ist losgefahren, um ihn zu suchen. Er glaubt, er weiß, wo Jere sein könnte.«
Ich atmete tief aus. Ich war erleichtert, aber andererseits – was würde Jeremiah tun, wenn er Conrad sah? Würde das nicht alles noch schlimmer machen?
»Er ruft an, sobald er ihn gefunden hat.«
Ich nickte und griff wieder nach dem Lockenstab. Meine Finger zitterten, und ich musste eine Hand mit der anderen stützen, damit ich mir nicht noch die Wange verbrannte.
»Hast du Mom irgendwas gesagt?«, fragte Steven.
»Nein, niemandem. Bisher gibt’s ja auch noch nichts zu erzählen.« Ich wickelte die nächste Strähne um das Eisen. »Er kommt schon noch, da bin ich mir ganz sicher.« Fast war ich wirklich davon überzeugt.
»Klar«, sagte Steven. »Klar, du hast bestimmt recht. Möchtest du, dass ich bei dir bleibe?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss mich mal langsam anziehen.«
»Ganz sicher?«
»Ganz sicher. Sag mir einfach Bescheid, sobald du irgendwas hörst.«
Steven stand auf. »Mach ich.« Dann kam er zu mir und tätschelte mir unbeholfen die Schulter. »Wird schon werden, Belly.«
»Ja, ich weiß. Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Wichtig ist nur, dass ihr Jere findet.«
Sobald er gegangen war, legte ich den Lockenstab wieder zur Seite. Meine Hand zitterte. Ich sollte lieber aufhören, sonst verbrannte ich mich tatsächlich noch. Außerdem hatte ich schon genug Locken.
Er würde zurückkommen. Er würde zurückkommen. Ich wusste es.
Und da ich sonst nichts zu tun hatte, zog ich mein Brautkleid an.
Ich saß am Fenster und sah zu, wie Dad Weihnachtslichterketten an der Veranda entlang anbrachte, als Taylor ins Zimmer stürmte.
Ihre Haare waren hochgesteckt, sehr straff über der Stirn. Sie trug eine braune Papiertüte in der einen Hand und einen Eiskaffee in der anderen. »Hier kommt dein Mittagessen, Anika hilft deiner Mom mit den Tischen, und dieses Wetter ist Gift für meine Haare«, sagte sie, ohne einmal Luft zu holen. »Und ich weiß nicht, wie ich’s dir beibringen soll, aber es kam mir so vor, als hätte ich auf dem Weg ins Haus einen Regentropfen abbekommen.« Sie musterte mich. »Wieso hast du denn dein Kleid schon an? Es ist noch jede Menge Zeit bis zur Trauung. Zieh’s aus, es wird sonst bloß knitterig.«
Als ich nicht antwortete, fragte sie: »Was ist los?«
»Jeremiah ist nicht da.«
»Natürlich ist er nicht da, Dummchen. Er darf die Braut ja auch vor der Hochzeit nicht sehen, das bringt Unglück.«
»Er ist nicht zu Hause. Er ist heute Nacht weggefahren und seither nicht zurückgekommen.« Meine Stimme klang erstaunlich ruhig. »Ich habe ihm alles erzählt.«
Taylor riss die Augen weit auf. »Was meinst du damit – alles?«
»Conrad hat mir vor ein paar Tagen gesagt, dass er immer noch etwas für mich empfindet, und das habe ich Jeremiah heute Nacht erzählt.« Ich atmete aus, und es klang wie ein tiefer Seufzer. Diese letzten Tage kamen mir vor wie Wochen. Ich wusste selbst nicht, wann und wie das alles passiert war. Wie es zu diesem Durcheinander kommen konnte. In meinem Kopf, meinem Herzen herrschte ein einziges Chaos.
»O mein Gott.« Taylor schlug sich beide Hände vor den Mund und ließ sich auf mein Bett sinken. »Was machen wir jetzt?«
»Conrad ist losgefahren, um ihn zu suchen.« Wieder schaute ich durchs Fenster. Dad war mit der Veranda fertig, jetzt kamen die Sträucher an die Reihe. Ich trat vom Fenster zurück und fing an, den Reißverschluss meines Kleides aufzuziehen.
Erschrocken fragte Taylor: »Was machst du da?«
»Du hast doch gesagt, es knittert!« Ich stieg aus dem Kleid und ließ es auf den Boden sinken, wie eine seidige weiße Pfütze sah es aus. Ich hob es auf und hängte es auf einen Bügel.
Taylor legte mir meinen Bademantel um die Schultern, dann drehte sie mich um und band mir den Gürtel zu, so als wäre ich ein kleines Mädchen. »Alles wird gut, Belly.«
Es klopfte, und wir schauten beide zur Tür. »Ich bin’s, Steven«, sagte mein Bruder und kam auch schon herein. Dann schloss er die Tür hinter sich. »Er ist wieder da. Conrad hat ihn hergebracht.«
Ich sank auf dem Boden zusammen und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Er ist wieder da«, echote ich.
»Jetzt duscht er gerade«, sagte Steven. »Anschließend zieht er sich an, und dann ist er startklar. Ich meine, startklar, um zu heiraten. Nicht, um wieder wegzugehen.«
Taylor kniete sich neben mich. Auf Knien fasste sie nach meiner Hand, schob ihre Finger zwischen meinen hindurch. »Deine Hand ist ganz kalt«, sagte sie und wärmte sie mit ihrer anderen. »Willst du es wirklich noch? Du musst es nicht durchziehen, wenn du nicht willst.«
Ich kniff die Augen ganz fest zusammen. Ich hatte solche Angst gehabt, er würde nicht zurückkommen. Doch erst jetzt, wo er hier war, stiegen die Angst und die Panik an die Oberfläche.
Steven setzte sich zu Taylor und mir auf den Boden. Er legte einen Arm um mich und sagte: »Belly, mach es so, wie es für dich richtig ist, okay? Du hast nur zwei Möglichkeiten. Willst du sie hören?«
Ich machte die Augen auf und nickte.
Mit feierlicher Miene sagte er: »Vollgas oder Vollbremsung.«
»Was zum Teufel soll das denn jetzt heißen, Steven?«, blaffte Taylor ihn an.
Ein Lachen löste sich ganz tief in meiner Brust. »Vollgas oder Vollbremsung?« Ich musste so lachen, dass mir die Tränen übers Gesicht liefen.
Taylor sprang auf. »Dein Make-up!«
Sie schnappte sich die Kleenex-Schachtel von der Kommode und tupfte mir vorsichtig das Gesicht ab. Ich musste immer noch lachen. »Kannst du mal aufhören, Conklin«, sagte Taylor mit einem besorgten Blick auf meinen Bruder. Die Blüte in ihrem Haar war verrutscht. Sie hatte recht gehabt: Die Feuchtigkeit war Gift für ihre Frisur.
»Keine Sorge, der geht’s gut. Sie muss nur gerade mal lachen. Stimmt’s, Belly?«
»Vollgas oder Vollbremsung«, wiederholte ich kichernd.
»Ich glaube, sie wird hysterisch oder so. Soll ich ihr eine knallen?«, fragte Taylor meinen Bruder.
»Das mach ich schon selbst«, sagte er und beugte sich vor.
Ich hörte auf zu lachen. Ich war nicht hysterisch. Oder vielleicht doch, ein kleines bisschen. »Mir geht’s gut, Leute. Keiner von euch schlägt mich. Du lieber Himmel.« Ich stand auf. »Wie spät ist es?«
Steven zog sein Handy aus der Tasche. »Zwei Uhr. Wir haben immer noch ein paar Stunden, bis die Gäste kommen.«
Ich holte tief Luft. »Okay. Steven – würdest du Mom bitte sagen, dass ich finde, wir sollten die Feier ins Haus verlegen? Wenn wir die Sofas ganz an die Wand schieben, dann müssten wir eigentlich noch ein paar Tische im Wohnzimmer unterbringen.«
»Ich sag den Jungs Bescheid, sie sollen mal anpacken.«
»Danke, Steven. Und du, Taylor, würdest du …«
»… hier bleiben und dein Make-up erneuern?«, fragte sie mich erwartungsvoll.
»Nein, ich wollte dich fragen, ob du bitte auch rausgehst. Ich muss nachdenken.«
Die beiden wechselten einen vielsagenden Blick, doch sie gingen hinaus. Ich schloss die Tür hinter ihnen.
Wenn ich ihm erst ins Gesicht sah, dann wäre alles wieder sonnenklar. So musste es sein.