»Mir ist nicht wohl bei der Sache«, sagte Edward und wippte nervös mit dem Fuß. Das Klopfen, das sein Schuh beim Auftreffen auf dem Blechboden verursachte, hallte im Innenraum des Vans wider und übertönte das Tosen der Wellen, die unweit der Stelle, wo sie parkten, gegen die Klippen brandeten.
Tapp. Tapp. Tapp.
Anna warf Edward einen warnenden Blick zu und im nächsten Moment fuhr ihr Lehrer, Cecil Humphries, auf dem Fahrersitz herum, das Gesicht rot vor Zorn.
»Hör sofort damit auf, sonst werfe ich deine Schuhe aus dem Fenster.«
Edward erwiderte nichts, aber das Klopfen hörte auf. Mr Humphries wandte sich an Miss Arabella Magenta, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, und seufzte.
»Also ehrlich, womit habe ich das verdient? Sobald das Jahr rum ist, ziehe ich aufs Land – und möglichst weit weg von irgendwelchen Gören.«
»Wir können Sie hören, Sir.«
»Gut so«, sagte Mr Humphries, ohne nach hinten zu schauen.
Anna schwieg, während die vier anderen Kinder um sie herum tuschelten. Sie spürte ganz deutlich die Angst der anderen und hoffte, dass sie diese Mission schnell hinter sich brachten, damit sie aus dieser trostlosen, düsteren Gegend verschwinden und in ihre Schule zurückkehren konnten.
Genau wie es ihr ausgeklügelter Zeitplan vorsah, trug Mr Bentley Jones genau in diesem Augenblick den Aktenkoffer voller Geld zu dem Cottage auf der Klippe. Der Wall aus Bäumen, hinter dem sie den Van geparkt hatten, verdeckte die Sicht auf das kleine Haus, und dennoch konnte Anna genau sehen, was in diesem Moment geschah. Sie und Clarissa hatten heute Abend die Aufgabe, mithilfe ihrer GABE ihren Lehrer im Auge zu behalten.
»Mr Jones ist fast bei dem Cottage. Das Fenster ist erleuchtet.«
»Gut«, sagte Miss Magenta. »Sobald er drin ist, steigen wir aus und gehen näher ran.«
»Wozu müssen wir denn aussteigen?«, fragte Danny nervös. »Wir können es doch auch von hier aus tun.«
»Du liebe Zeit, das haben wir doch schon hundertmal durchgekaut«, sagte Miss Magenta aufgebracht. »Wenn wir die Gedanken dieser Leute auslöschen wollen, dürfen wir nicht weiter als sieben Meter von ihnen entfernt sein.«
»Können wir ihnen nicht einfach das Geld geben?«, fragte Danny. Anna, Edward, Clarissa und Richard nickten zustimmend.
»Unsinn«, erwiderte Mr Humphries. »Sie würden bald noch mehr verlangen, und wohin würde das führen? Wenn wir nicht wollen, dass jemand von der GABE erfährt – und glaubt mir, das wollen wir nicht –, dann müssen wir INFERNO gegen sie einsetzen. Wir haben keine andere Wahl.«
»Aber wir haben es nie geübt. Was ist, wenn es nicht funktioniert?«, fragte Clarissa.
»Es wird funktionieren«, erwiderte Miss Magenta gereizt. »Man hat es in Italien ausprobiert. Dort sind die Vorschriften nicht so streng und es hat tadellos geklappt. Wo ist er jetzt?«
Anna und Clarissa besannen sich wieder auf ihre Aufgabe und schlossen die Augen.
»Er ist noch nicht dort – schätzungsweise noch eine Minute.«
Anna hielt die Augen geschlossen und beobachtete, wie Bentley Jones mit großen Schritten weiterging, den Kopf gesenkt, als schlage er sich eine Bresche durch die Wand aus Wind und Regen.
»Lass das!«
Anna öffnete die Augen und sah, wie Richard, der allein die doppelte Portion der beiden anderen Jungen war, Papierkügelchen von seinen Knien in Richtung Danny schnipste.
»Was? Mir ist langweilig«, sagte Richard, als er Miss Magentas missbilligende Miene sah.
Anna seufzte und schloss wieder die Augen. Sie waren seit etwas mehr als fünf Monaten Klassenkameraden, aber Richard ging ihr noch fast genauso auf die Nerven wie am ersten Tag, als er sie den ganzen Morgen über an ihrem langen schwarzen Zopf gezogen und dazu wie verrückt gelacht hatte. Laut Clarissa war das ein sicheres Zeichen dafür, dass Richard sie mochte – ein Gedanke, bei dem sich Anna der Magen umdrehte. Doch mit den beiden anderen Jungen, Danny und Edward, hatte sie sich angefreundet. Edward war ernst und ruhig und stets bemüht, zwischen Richard und jedem, den er ärgerte, Frieden zu stiften. Danny war ein Tollpatsch, aber irgendwie süß, und hatte immer die Nase in einem Buch.
»Er nähert sich der Tür«, meldete Clarissa. Alle blickten gespannt zu den beiden Mädchen.
»So, fertig machen zum Aussteigen. Sobald Mr Jones das Zeichen gibt, springt ihr raus und wartet auf weitere Befehle. Verstanden?«
Sie nickten.
»Gut. Was geschieht im Moment?«
»Er klopft an die Tür. Jemand öffnet … Es ist … es ist eine alte Dame im Morgenmantel!«
»Wie merkwürdig. Eine Erpresserin hätte ich mir etwas anders vorgestellt«, sagte Mr Humphries zu Miss Magenta, die ähnlich verdutzt schien wie er.
»Sie fragt ihn, ob etwas passiert ist, und Mr Jones hält den Aktenkoffer hoch«, sagte Anna, die alles so detailliert wie möglich beschrieb. »Sie fragt ihn, ob er nicht eintreten und sich aufwärmen möchte.«
»Und jetzt?«, fragte Miss Magenta.
»Er ist reingegangen, und drin sitzt ein Mann. Ein alter Mann, der eine Pfeife raucht. Der Mann stellt das Radio ab und kommt Mr Jones entgegen. Sie geben sich die Hand.«
»Sie setzt einen Wasserkessel auf.«
Die Gruppe beobachtete wie gebannt die beiden Mädchen, die abwechselnd in allen Einzelheiten schilderten, was weiter geschah. Die alte Dame brühte Tee auf. Dann trug sie drei dampfende Becher zu dem Sofa, auf dem Bentley inzwischen Platz genommen hatte.
»Mr Jones sagt, er sei gekommen, um das Geld zu übergeben …«
»Und?«
Eine Pause folgte.
»Die alte Dame hat gesagt, dass sie nicht wisse, wovon er spreche.«
»Da ist was faul. Und zwar oberfaul«, knurrte Mr Humphrey und fuhr sich mit der Hand durch die fettigen, schütteren Haare. »Ich finde, wir sollten aussteigen und …«
Er kam nicht weiter, denn in diesem Moment wurden die Heckklappen aufgerissen. Zwei Männer mit schwarzen Kapuzen standen draußen. Anna, die bis dahin im Geiste die Hütte beobachtet hatte, schrak heftig zusammen und schrie auf, als die Männer in den Wagen fassten, sie packten und nach draußen zerrten.
»Es ist eine Falle!«
Anna drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam, und sah eine Gestalt auf den Van zurennen. Es war Bentley Jones.
Die Männer packten sie an Armen und Beinen, hoben sie mühelos hoch, obwohl sie sich krümmte und zappelte, und liefen mit ihr in Richtung der Klippen.
Danny blickte zu den anderen. Sie waren starr vor Schreck.
»Anna!«
Er sprang aus dem Van, bevor ihn jemand daran hindern konnte, und rannte den Männern hinterher. Lehrer und Schüler folgten ihm.
Anna schrie, als sie sah, dass Danny sie einzuholen versuchte, und auf einmal, ohne ein Wort, blieben die Männer stehen. Einer der beiden machte eine ausholende Bewegung und streckte den rechten Arm über Annas Kopf hinweg. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was sie sah.
»Er hat eine Waffe! Danny, bleib stehen!«
Ihre Stimme ging im Knall eines einzelnen Schusses unter. Sie sah, wie Danny zu Boden stürzte. Die Männer liefen mit ihr weiter Richtung Klippen. Schluchzend versuchte sie, sich ihrem Griff zu entwinden. Erst jetzt fiel ihr wieder ihre GABE ein, und sie schloss die Augen, aber es war zu spät. Die Männer blieben stehen, schwangen sie nach hinten, dann nach vorn und ließen sie los. Sie flog durch die Luft, über den Rand der Klippe hinaus. Das Letzte, was sie sah, bevor sie das Bewusstsein verlor, war das schwarze Meerwasser, das rasend schnell näher kam.
»Rasch, wo ist das Messer?«, fragte eine tiefe Stimme, die Anna einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
Anna öffnete die Augen und verzog das Gesicht. Ein heftiger Schmerz pochte in ihrem Kopf. Der Boden, auf dem sie lag, bewegte sich, und sie begriff, dass sie sich auf einem Boot befand. Es war stockdunkel bis auf den Lichtstrahl einer Taschenlampe, die neben ihr auf dem Boden lag. Sie war an Armen und Beinen gefesselt und ihre Kleider waren klatschnass und klebten ihr am Leib. Sie zitterte vor Kälte, und dann fiel ihr auf, dass sie ihre Jacke nicht mehr anhatte. Die Jacke lag jetzt in den Händen einer Frau, die zu ihren Füßen saß. Über Annas Kopf hinweg reichte die Frau das Messer einer behandschuhten Hand.
Anna schrie, als der Mann sie am Arm packte. Sie spürte die Klinge langsam in sie eindringen und dann das Brennen, als der Schmerz sie durchzuckte. Blut tropfte von ihrem Arm. Tränen liefen aus Annas smaragdgrünen Augen. Die Frau beugte sich vor und wischte mit der Jacke das Blut von ihrem Arm.
»Das genügt. Wirf die Jacke ins Meer. Sie werden sie morgen früh finden.«
»Warum tun Sie das?«, fragte Anna.
»Weil du und deine GABE uns sehr reich machen werden, Schätzchen.«
»Sie werden mich suchen«, sagte Anna schluchzend. »Damit kommen Sie nicht durch.«
»Ach, ich glaube nicht, dass sie allzu lange suchen werden. Du bist leicht zu ersetzen.«
»Sie haben doch keine Ahnung, wovon Sie reden. Das sind meine Freunde. Sie werden mich nicht im Stich lassen.«
»Sieh doch.« Anna hörte auf zu weinen und schaute auf. Die Klippen ragten vor ihnen empor und oben war der Lichtschein zu sehen, der aus dem Fenster des Cottage fiel. Neben dem Cottage bewegte sich etwas, und sie kniff die Augen zusammen, um besser zu erkennen, was es war.
»Du siehst schon richtig«, sagte der Mann. »Das ist der Van, mit dem du hergekommen bist. Alle deine angeblichen Freunde sitzen drin, und wie es aussieht, fahren sie jetzt weg. Sie haben dich bereits aufgeben.« Er lachte.
Anna sah hilflos zu, wie der Van davonfuhr und in der dunklen Nacht verschwand. In diesem Moment erkannte sie die Aussichtslosigkeit ihrer Lage und sie begann zu schreien, doch ihr qualvoller Schrei verlor sich im Heulen des Sturms.