Christopher Lane saß auf seinem üblichen Stuhl im Schulsekretariat und wartete nervös. Seine Klassenlehrerin hatte sich ihm gegenübergesetzt und behielt ihn scharf im Auge, als könnte er jeden Augenblick Reißaus nehmen – was ihm tatsächlich auch durch den Kopf gegangen war. Heute war erst Mittwoch, und trotzdem saß er schon das dritte Mal diese Woche hier und wartete darauf, dass der Direktor ihn hineinrief. Und ihm war klar, dass er diesmal nicht so glimpflich davonkommen würde.
Am anderen Ende des kurzen Flurs freute sich Mr Tuckdown, seit vierzehn Jahren Direktor der Black Mash Secondary School, darauf, in seinem Büro in aller Ruhe eine Tasse Tee zu trinken, das Kreuzworträtsel in der Tageszeitung zu lösen und dazu ein oder zwei Ingwerkekse zu naschen – oder auch drei. Die Nähe des ihm verhasstesten Schülers nicht ahnend, stieß er einen wohligen Seufzer aus, strich die fettigen Haarsträhnen glatt, die er quer über seinen kahlen Schädel gelegt hatte, und ließ sich in seinen ausgeleierten schwarzen Ledersessel sinken. Gemächlich breitete er die Zeitung auf seinem leeren Mahagoni-Schreibtisch aus, zog die oberste Schublade auf und entnahm ihr einen Kuli.
Es klopfte an die Tür und Margaret, die Schulsekretärin, kam herein.
»Ihren Tee, Sir?«
Mr Tuckdown winkte sie mit dem Finger herein, ohne sich die Mühe zu machen aufzuschauen.
»Das wäre dann alles für heute Nachmittag«, sagte er, als Margaret die Tasse Tee (mit Milch und sechs Würfeln Zucker) neben den Teller mit den Keksen stellte. »Bitte stellen Sie heute keine Anrufe mehr durch. Ich bin beschäftigt.«
»Ja, Sir, selbstverständlich. Da wäre nur noch eine Kleinigkeit …«
»Ja?«, fragte er und zog eine Augenbraue hoch.
»Nun, Mrs Tanner würde Sie gern sprechen. Sie wartet draußen mit Chri…«
»Christopher Lane?«, unterbrach Mr Tuckdown und setzte sich ruckartig auf.
Margaret öffnete den Mund, um etwas zu sagen, klappte ihn aber gleich wieder zu, als sie sah, dass Mr Tuckdown kurz vorm Explodieren stand. Nervös beobachtete sie, wie er aus seinem Sessel hochfuhr und ärgerlich grummelnd ans Fenster trat.
»Dieser Junge … dieser Junge … Also wirklich, Margaret, ich verfluche den Tag, an dem er seinen Fuß in diese Schule gesetzt hat. Ich habe die Nase voll von ihm!«, brüllte er und sein Gesicht bekam dunkelrote Flecken.
»Sir«, flüsterte Margaret, »der Junge steht draußen.«
»Das ist mir egal. Ich habe die Nase voll von dir. Hörst du mich, Christopher Lane? Gestrichen voll!«
Mr Tuckdown holte tief Luft und sah Margaret an.
»Der Junge ist noch keine zwei Monate hier und schon treibt er mich langsam, aber sicher in den Herzinfarkt. Meine Gesundheit leidet und schuld daran ist nur er.« Er schnappte sich einen Keks und verschlang ihn mit zwei großen Bissen.
Margaret, die langsam zur Tür zurückgewichen war, stand schweigend da und sah zu, wie Mr Tuckdown im Zimmer auf und ab tigerte. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn und im Gehen schimpfte er leise vor sich hin.
»Meine Teepause wird wohl warten müssen«, sagte er schließlich. »Wieder einmal. Geben Sie uns fünf Minuten, dann kommen Sie herein und sagen, ich hätte einen dringenden Anruf.« Margaret nickte, ging rückwärts hinaus und ließ die Tür offen. Von Margaret im Flüsterton vor der schlechten Laune des Direktors gewarnt, trat Mrs Tanner, die Klassenlehrerin der 7c, einen Augenblick später in das Büro. Ihr folgte ein Junge, fast ebenso groß wie sie, der die Hände in den Taschen vergraben hatte und trotzig den Kopf gesenkt hielt.
»Verzeihen Sie die Störung«, sagte Mrs Tanner, den Mund zu einem Dauerflunsch verzogen, und steuerte auf den Schreibtisch des Direktors zu, wobei ihre hochhackigen, auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhe über den Holzboden klapperten.
»Wird’s bald, Christopher?«, rief sie mit strenger, schriller Stimme. Nach kurzem Zögern durchquerte dieser den Raum und blieb neben seiner Lehrerin stehen.
»Ihre Besuche werden langsam lästig, Mrs Tanner«, sagte der Direktor.
»Es tut mir leid, Mr Tuckdown«, erwiderte sie, obwohl Chris den Eindruck hatte, dass es ihr nicht im Geringsten leidtat, »aber bedauerlicherweise ist es diesmal etwas Ernsteres. Die Sache ist nämlich die: Ich habe heute Morgen meine Handtasche unter meinen Stuhl im Klassenzimmer gestellt. Und als ich sie in der Mittagspause holte, musste ich feststellen, dass jemand …«, sie warf einen Seitenblick auf Chris, »… an meiner Brieftasche gewesen war und das Geld herausgenommen hatte.«
Sie und der Direktor sahen Chris auffordernd an, doch der machte keine Anstalten, etwas zu sagen. Er schaute nur auf seine abgetragenen, schmutzigen Schuhe und wartete ab.
Schließlich verlor Mr Tuckdown die Geduld.
»Nun, Junge? Was hast du dazu zu sagen?«
»Nichts, Sir.«
»Nichts! Wie viel hat er denn gestohlen?«
»Zwanzig Pfund«, antwortete Mrs Tanner.
Chris rührte sich nicht. Sein Kopf blieb gesenkt.
»Zwanzig Pfund, Chris. Wo sind sie?«, fragte Mr Tuckdown.
»Ich habe sie nicht gestohlen.«
»Natürlich hast du sie gestohlen. Wo sollen sie denn sonst hingekommen sein?«
»Woher soll ich das wissen?«, brauste Chris auf. »Ich habe sie nicht gestohlen.«
»Ich verbitte mir diesen Ton«, warnte Mr Tuckdown. »Zeige mir deine Taschen.«
Chris schob wortlos die Hände in die Hosentaschen und stülpte sie nach außen. Sie waren völlig leer.
»Nun ja«, sagte Mr Tuckdown, »das wäre wohl auch zu naheliegend, selbst für dich. Das Geld muss woanders sein.«
»Ich sage doch, dass ich es nicht habe«, entgegnete Chris trotzig.
»Wenn du es nicht gewesen bist, wer dann?«, fragte Mrs Tanner.
»Keine Ahnung«, erwiderte Chris und hob den Kopf. Er sah ihr an, dass sie ihm nicht glaubte, und es überraschte ihn nicht.
»Wie praktisch«, bemerkte Mr Tuckdown spöttisch. »Gut, dann gehen wir doch mal die möglichen Verdächtigen durch, Christopher. Könnte es Emma Becksdale gewesen sein, unsere Schulsprecherin? Oder Ibrahim Lamos, der in seinen sechs Jahren hier noch kein einziges Mal Arrest bekommen hat? Oder Jack Riggs, der sich mehr Verdienste erworben hat als jeder andere Schüler in der Geschichte der Black Marsh Secondary? Was meinst du?«
Chris schwieg.
»Oder«, fuhr Mr Tuckdown fort, »könnte es vielleicht doch der Junge gewesen sein, der hier vor mir steht? Dieser kleine Dreckskerl mit Löchern in der Hose, der glaubt, dass unsere Kleiderordnung für ihn nicht gilt? Der Dreckskerl, der schon häufiger, als ich mich erinnern möchte, Lebensmittel aus der Kantine gestohlen hat und gegenüber Lehrern und Mitschülern schnell pampig wird, weil er kein bisschen Spaß verträgt? Der Schüler der ersten Jahrgangsstufe, der nie sein Essensgeld mitbringt und jeden Tag zu spät kommt? Das alles spricht eine deutliche Sprache, und man braucht kein Sherlock Holmes zu sein, um daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.«
Er machte eine theatralische Pause.
»Der Schuldige bist du, Christopher Lane. Du bist für drei Tage vom Unterricht suspendiert«, schloss er abrupt, nahm einen Keks vom Teller und tunkte ihn in den Tee.
Mrs Tanner zeigte ein seltenes Lächeln, das, wie es Chris schien, immer nur dann bei ihr zu sehen war, wenn er bestraft wurde.
»Ich danke Ihnen, Mr Tuckdown, Sie haben mir soeben den Tag gerettet. An dem Sprichwort ›Wo Schatten ist, ist auch Licht‹ scheint etwas Wahres dran zu sein. So, und jetzt gib mir das Geld zurück.«
»Ich habe es nicht gestohlen!«, schrie Chris wutentbrannt.
»Ein Dieb und ein Lügner. Na schön. Dann werden wir deiner Mutter eben einen Brief schicken.« Mrs Tanner lächelte.
Chris spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, und wandte sich zur Tür, bevor es jemand sah.
»Drei Tage des Friedens und der Ruhe könnten die zwanzig Pfund glatt wert sein«, hörte er Mrs Tanner noch zum Direktor sagen, dann war er draußen und rannte den Korridor entlang.
Er rannte an der langen Reihe von Klassenzimmern vorbei, ohne sich darum zu kümmern, ob ihn jemand sah oder was derjenige dachte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er die Treppen hinunter, rempelte Schüler an, die auf dem Weg zum Unterricht waren, und stürzte dann zum Haupteingang hinaus. Es regnete in Strömen, aber er nahm es kaum wahr. Er rannte über den Schulhof, durch das Tor und die leere Straße entlang. Er nahm seine gewohnte Abkürzung und bog nach links in die schmale Gasse ab, die zur Hauptstraße führte. In einiger Entfernung sah er verschwommen im heftigen Regen den Verkehr vorbeibrausen. Er lehnte sich gegen eine nasse Backsteinwand und verschnaufte. Um sich zu beruhigen, begann er, langsam zu zählen, und nach einer Weile ging sein Atem gleichmäßiger. Er stieß sich von der Wand ab, fuhr sich mit den Fingern durchs nasse Haar und trocknete sich mit dem Saum seines Hemds das Gesicht. Dann bückte er sich, knüpfte den abgewetzten Schnürsenkel seines linken Schuhs auf und rollte die nasse Socke herunter. Ein zerknüllter Zwanzigpfundschein fiel zu Boden. Er hob ihn auf, wischte ihn am Ärmel ab und steckte ihn in die Tasche.