Am nächsten Morgen erwachte Chris, noch bevor sein Wecker klingelte. Er blieb im Bett liegen, und als der Nebel des Schlafes sich lichtete, fiel ihm wieder alles ein, was tags zuvor geschehen war: wie er beschlossen hatte, seine Lehrerin zu bestehlen, seine Suspendierung, die Gewissenbisse, die ihn geplagt hatten, als er mit dem Geld im Supermarkt einkaufte, und die Lügen, die er seiner Mutter aufgetischt hatte, als er nach Hause kam. Er dachte über den Plan nach, der ihm irgendwann in der Nacht eingefallen war, und obwohl er überzeugt war, dass er ihn ausführen musste, war ihm kein bisschen wohler bei dem Gedanken. Schon komisch, dachte er, heute war immer noch ein besonderer Tag. Nur leider aus den falschen Gründen.
Er fröstelte und zog sich die Bettdecke über die Schultern. Er konnte hören, wie der kalte Wind durch die Ritzen der morschen Fensterrahmen pfiff, und als er ausatmete, stieg eine Wolke warmer Luft in Richtung Zimmerdecke, ehe sie sich verflüchtigte. Er atmete erneut ein und öffnete den Mund, doch als er ausatmete, stach ihm etwas ins Auge, und er machte den Mund wieder zu. Er setzte sich auf. Zwischen dem Regal in der Ecke und dem oberen Türrahmen spannte sich ein großes Spinnennetz, das offenbar über Nacht entstanden war, ein kompliziertes Gespinst aus feinen, silbernen Fäden, die im Morgenlicht glitzerten. Er schlug die Decke zurück und ging hin. Eine kleine braune Spinne, nicht größer als ein Zwanzig-Penny-Stück, wob fleißig am Rand des Netzes, und Chris sah fasziniert zu, wie sie sich langsam voranarbeitete.
»Ein tolles Netz baust du da«, sagte Chris und tippte mit dem Finger sachte dagegen. Das Netz wackelte und die Spinne erstarrte.
»Tut mir leid«, sagte Chris. »Mach ruhig weiter.«
Als hätte die Spinne ihn verstanden, nahm sie sofort wieder die Arbeit auf.
Chris lachte. Er sah die Spinne an.
»Halt!«
Die Spinne hörte auf. Diesmal lachte Chris nicht. Er betrachtete die Spinne verwirrt.
»Los, spinne weiter dein Netz«, sagte er noch einmal leise und sah mit großen Augen zu, wie augenblicklich wieder Bewegung in die Spinne kam.
»Eigenartig«, dachte er und kratzte sich im Weggehen am Kopf. Er zog sich langsam an und beobachtete dabei die Spinne bei der Arbeit, bis er zum Wecker blickte und bemerkte, dass es gleich acht war. Er band sich rasch die Schuhe zu, schnappte seine Tasche und nahm das kleine blaue Samtetui vom Nachttisch, wobei er kurz verharrte und das Foto daneben ansah. Es war ein Foto seines Vaters in Uniform, aufgenommen zwei Wochen vor seinem Tod. Chris war damals erst fünf Jahre alt gewesen.
»Tut mir leid, Dad, ich hoffe, du verstehst es«, sagte Chris, steckte das Etui in seine Tasche und zog den Reißverschluss zu.
So leise wie möglich schlich er die Treppe hinunter. Im Flur war es dunkel, obwohl es draußen schon hell war. Er spähte um die Ecke ins Wohnzimmer. Seine Mutter schlief in ihrem Sessel, gut zugedeckt, so wie er sie am Abend verlassen hatte. An den meisten Tagen ging er geradewegs zum Fenster und zog die Vorhänge auf, aber heute wollte er, dass seine Mutter weiterschlief. Auf Zehenspitzen trippelte er zum Couchtisch und nahm die Schlüssel.
»Bis später, Mom«, flüsterte er, gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging zurück zur Tür.
Seine Mutter schlug mit einem sanften Lächeln im Gesicht die Augen auf und einen Augenblick lang sah sie genauso aus wie früher.
»Wohin gehst du?«, fragte sie schläfrig.
»In die Schule«, log er mit schlechtem Gewissen. »In der Küche stehen Cornflakes und Milch – bitte iss etwas, wenn du aufstehst. Ich war gestern einkaufen, es ist genug da.«
Seine Mutter holte tief Luft und schlug die Decke zur Seite. Sie trug dieselben Sachen wie an den meisten Tagen: eine Jogginghose und ein altes Hemd ihres Vaters, in dem ihre zierliche Gestalt versank. Sie sah ihn an. Das Lächeln war verschwunden.
»Bist du immer noch da?«, fragte sie und rieb sich die Stirn, vermutlich um die aufkommenden Kopfschmerzen zu vertreiben.
»Bin schon weg.«
Sie nickte ausdruckslos, lehnte sich in den Sessel zurück und schloss die Augen, als hätte dieses kurze Gespräch ihre ganze Kraft aufgezehrt.
»Ich komme nach der Schule gleich nach Hause. Soll ich dir etwas mitbringen?«, fragte er, aber er bekam keine Antwort. Seine Mutter war schon wieder eingeschlafen.
Er beugte sich vor und zog ihr die Decke wieder über die Schultern. Er steckte die Schlüssel ein, schwang die Schultasche über die Schulter, trat aus der Haustür und schloss sie leise hinter sich. Am Ende der Straße bog er links ab. Nieselregen setzte ein. Er beschleunigte seine Schritte. Zu dumm, dass er den Schirm nicht mitgenommen hatte. Aber umkehren kam nicht infrage. Seine Mutter könnte aufwachen und Fragen stellen. Und er hasste es, sie anzulügen. Obwohl sie an ihm oder seinen Leistungen in der Schule seit Jahren nicht das geringste Interesse zeigte, wollte er sie auf keinen Fall enttäuschen. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und eilte weiter in Richtung Hauptstraße.
Der Regen war stärker geworden, als er die King Street erreichte. Die meisten Geschäfte hatten noch zu, aber die Straße wimmelte bereits von Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule waren. Er ging wieder langsamer, ohne auf das Glucksen seiner nassen Schuhe zu achten, und dachte noch einmal über gestern nach. Er konnte seine Klassenlehrerin nicht besonders leiden, und trotzdem hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er sie bestohlen hatte. Die halbe Nacht hatte er überlegt, wie er die Sache wieder geradebiegen konnte. Irgendwann in den frühen Morgenstunden war ihm eine Idee gekommen und erst dann war er eingeschlafen.
Er marschierte wie von einem Autopiloten gesteuert und so in Gedanken versunken, dass er beinahe an der Pfandleihe vorbeigegangen wäre. Er blieb stehen und sah sich die Ladenfront an. Schaufenster und Glastür waren schwarz gestrichen, damit Passanten nicht sehen konnten, wer in einer so verzweifelten Lage war, dass er seine Wertsachen versetzen musste. Ein Schild an der Tür verriet, dass geöffnet war, doch erneut kamen ihm Zweifel. Gab es denn wirklich keine bessere Lösung? Da ihm auch keine einfiel, nachdem er noch eine Weile nachgedacht und der Regen allmählich seine Kleider durchnässt hatte, holte er tief Luft, stieß die Tür auf und trat in einen dunklen, feucht riechenden Raum. Eine Türglocke schlug an und meldete Kundschaft.
In der Mitte des Ladens blieb er stehen und sah sich um, verlegen und unschlüssig, was er tun sollte. Eine Glasvitrine bildete eine Grenze zwischen Kunden und Personal. An den Wänden dahinter reihten sich Regale, die sich unter dem Gewicht der Fernseher, Stereoanlagen und sonstigen größeren Elektrogeräten bogen, mit denen sie vollgestopft waren. In der Vitrine selbst lagen unter verschmierten Scheiben Schmuckstücke, Kameras, Uhren und andere kleine Artikel. Jeder einzelne Gegenstand, so dachte er, stand für einen Menschen, der in einer ähnlich verzweifelten Lage war wie er.
»Kann ich dir helfen, mein Sohn?«, fragte eine barsche Stimme zu seiner Rechten.
Chris fuhr herum. Hinter der Ladentheke stand ein mürrisch dreinblickender, hagerer alter Mann in einem tristen, dunkelgrauen Anzug.
Der Mann musterte ihn argwöhnisch, während er näher kam.
»Ich möchte etwas … äh …«
»Versetzen?«
»Ja«, sagte Chris.
»Nur zu. Was ist es denn?«
Chris griff in die Jackentasche, zog das Samtetui heraus und legte es behutsam auf den Tisch.
Der Mann ergriff das Etui, klappte es langsam auf und nahm den Inhalt in Augenschein. Im Laden herrschte völlige Stille. Nach einer Weile hob er den Kopf und sah Chris an.
»Mein Sohn, weißt du, was das ist?«
»Ja. Ein Orden.«
»Das ist nicht einfach nur ein Orden. Das ist ein sehr seltener Militärorden, den ein Junge deines Alters nicht in der Tasche mit sich herumtragen sollte. Wem gehört er?«
»Mir.«
»Dann bist du entweder der jüngste Soldat der britischen Armee oder ein Lügner. So oder so, ich bin nicht interessiert.« Er klappte den Deckel wieder zu, legte das Etui auf die Theke und schob es zu Chris hinüber. »Bring ihn zurück, bevor der Besitzer sein Verschwinden bemerkt.« Der alte Mann wandte sich zum Gehen.
»Er gehört mir«, protestierte Chris verzweifelt. »Nach dem Tod meines Vaters habe ich ihn bekommen, also gehört er jetzt mir.«
Der Mann blieb stehen, drehte sich wieder um und sah Chris an.
»Er ist gestorben, als ich fünf war.«
»Und deine Mutter? Weiß sie, dass du hier bist?«
»Nein. Meiner Mom ist es egal. Seit er tot ist, geht es ihr nicht gut.«
Der Mann bemerkte das Stocken in Chris’ Stimme und sah, dass er mühsam um Fassung rang. Er schaute zum Etui und dann wieder zu Chris. Sein Blick wurde milder.
»Warum willst du ihn dann loswerden?«, fragte er.
»Ich will ihn nicht loswerden«, erwiderte Chris entrüsteter, als er beabsichtigt hatte. Er holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Ich will ihn ja zurückkaufen. Es ist nur so …«
Er zögerte. In diesem Augenblick hätte er den Laden am liebsten wieder verlassen und wäre nach Hause gegangen, aber er wusste, dass er keine Wahl hatte. Es fiel ihm schwer, um Hilfe zu bitten, aber er sah keinen anderen Ausweg, als dem Mann die Wahrheit zu sagen.
»Ich bin in Schwierigkeiten und brauche das Geld.«
Der Mann überlegte einen Moment. Dann sagte er:
»Hast du denn nichts anderes, was du versetzen könntest?«
»Nein, gar nichts«, antwortete Chris.
»Tja, mein Sohn, tut mir leid, aber ich kann den Orden nicht nehmen. Er ist mehr Geld wert, als ich hier habe. Und ich wüsste auch gar nicht, was ich damit anfangen sollte. Außerdem darf ich mit Minderjährigen keine Geschäfte machen.« Er deutete auf das Schild an der Tür.
Chris machte ein langes Gesicht. Die Entscheidung, hierherzukommen, war die schwierigste seines Lebens gewesen, und wie sich nun herausstellte, hatte er sich ganz umsonst damit gequält. Er nahm das Etui und steckte es wieder in die Tasche.
»Trotzdem danke«, sagte er ausdruckslos und sah den Mann an, in der Hoffnung, er könnte vielleicht doch noch seine Meinung ändern. Aber der Mann blickte ihn nur stumm an, mit einem unergründlichen Ausdruck im Gesicht. Schließlich wandte sich Chris ab und ging zur Tür.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte der Mann, als Chris gerade die Klinke drücken wollte. Überrascht drehte er sich um.
»Chris. Chris Lane.«
»Aha. Komm doch mal her, Chris.«
Er wartete, bis Chris bei ihm war.
»Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Ob ich jetzt sentimentale Anwandlungen bekomme oder was, aber ich werde dir etwas Geld geben.«
»Dann wollen Sie den Orden also doch nehmen?«, fragte Chris.
»Nein, mein Sohn, den Orden nehme ich nicht. Der gehört zu dir. Ich werde dich dafür bezahlen, dass du für mich arbeitest.«
»Ach«, sagte Chris erstaunt. »Es ist nur so, dass ich …«
»Dass du das Geld sofort brauchst?«, fragte der alte Mann.
»Ja.«
»Kein Problem. Ich gebe dir einen Vertrauensvorschuss – und das tue ich nicht oft, aber irgendwas überkommt mich gerade. Ich gebe dir fünfzig Pfund, und dafür hilfst du mir, Ordnung in das Durcheinander hier zu bringen. Mein Rücken ist nicht mehr das, was er mal war, deshalb kann ich keine schweren Sachen mehr heben.« Er deutete mit dem Kopf auf die überquellenden Regale und die Kartons, die sich um ihn herum auf dem Fußboden stapelten.
Chris wollte schon Ja sagen, zögerte dann aber.
»Geben Sie mir hundert Pfund, und ich mache alles allein.«
Der Mann lachte.
»Hm. Du hast vielleicht Nerven, mein Sohn. Also, ich weiß nicht – das ist ein bisschen happig.«
»Hundert Pfund, und Sie werden Ihren Laden nicht wiedererkennen«, sagte Chris mit einer Entschlossenheit, die ihn selbst überraschte.
Der Mann sah ihn an und nach einigem Überlegen lächelte er.
»Abgemacht. Aber dass du mir auch Wort hältst.«
»Vielen Dank. Ich werde hart arbeiten«, sagte Chris leise.
Der Mann sah ihm in die Augen und lächelte.
»Ich weiß sofort, ob ich jemandem vertrauen kann. Du wirst mich nicht enttäuschen.« Damit zückte er eine Brieftasche, entnahm ihr fünf Zwanzigpfundscheine und blätterte sie auf den Ladentisch.
»Und jetzt raus mit dir. Komm am Sonntag, den 16. Dezember, wieder. An dem Wochenende haben wir geschlossen. Das ist eine günstige Gelegenheit, um vor dem großen Weihnachtsandrang klar Schiff zu machen.«
»Ich werde hier sein. Danke … Sir.«
»Frank.«
»Danke, Frank.«
Chris nahm die Geldscheine, faltete sie sorgfältig zusammen und steckte sie in die Jackentasche. Er lächelte dankbar und zögerte, unschlüssig, was er sagen sollte.
»Nun verschwinde schon«, sagte der Mann streng und deutete zur Tür. »Wir sehen uns dann im Dezember.«
Chris nickte, drehte sich um und ging hinaus auf die Straße. Der Regen hatte aufgehört und die Sonne blinzelte durch die Wolken. Er klopfte an seine Tasche und schlug grinsend den Weg zur Bushaltestelle ein.
Es war noch früh, als Chris an der Schule ankam. Er hatte zwanzig Minuten – Zeit genug, um zu tun, was getan werden musste, und um rechtzeitig vor Unterrichtsbeginn wieder zu verschwinden. Ein paar Schüler liefen schon herum, aber sie schenkten ihm nicht die geringste Beachtung. Er war erst seit zwei Monaten an der Schule und abgesehen von den Zusammenstößen mit Lehrern und Kevin Blunt, dem Obermobber der Schule, war er für sich allein geblieben. Es war nicht so, dass er keine Freundschaften schließen wollte. Er wollte nur nicht ständig erklären müssen, warum er nach der Schule immer gleich nach Hause ging oder warum er nie Geld fürs Kino oder andere Dinge hatte, die Kinder seines Alters gern taten. Diesmal jedoch kam ihm seine Fähigkeit, unbemerkt in der Menge unterzugehen, sehr gelegen. Er überquerte den Schulhof, betrat den Haupteingang und stieg die Treppe hinauf. Er wollte gerade den Korridor betreten, als vor ihm eine Tür aufschwang. Er erstarrte. Eine Teetasse in der Hand, kam Mrs Tanner aus dem Klassenzimmer und bog in die entgegengesetzte Richtung ab. Er drückte sich an die Wand und hielt den Atem an, bis sie durch die Tür am anderen Ende verschwunden war.
Mit doppelter Vorsicht schlich er zur Tür des Klassenzimmers und spähte hinein. Das Zimmer war leer. Da er nicht wusste, wann Mrs Tanner zurückkommen würde, schlüpfte er schnell hinein und steuerte geradewegs auf das Lehrerpult zu. Ihre Handtasche stand nicht am gewohnten Platz. Wahrscheinlich war das, was er getan hatte, dafür der Grund, aber er schob den Gedanken beiseite – er musste sich auf die anstehende Aufgabe konzentrieren. Er schaute sich noch einmal um, dann griff er in seine Tasche, zog die oberste Schublade auf und legte den Zwanzigpfundschein hinein. Er wollte die Schublade gerade wieder schließen, da ertönte hinter ihm ein Quietschen.
Er zuckte zusammen und fuhr herum. In der Tür stand eine blonde Frau, die er nicht kannte. Ihr tailliertes graues Kostüm, ihre manikürten Fingernägel und ihre perfekte Frisur ließen vermuten, dass sie keine Lehrerin war.
»Hi. Ich suche die Kantine, kann sie aber nicht finden. Anscheinend bin ich im Kreis gelaufen.«
»Oh«, sagte Chris mit rotem Kopf, »die ist auf der anderen Seite. Über den Hof und die Treppe rauf.«
»Ach ja, natürlich. Bis du gerade beschäftigt? Könntest du mir zeigen, wo sie ist, und mir behilflich sein? Ich muss ein paar Stühle in die Kantine bringen.«
Chris zögerte, da ihm aber auf Anhieb keine Ausrede einfiel, willigte er ein.
»Okay«, sagte er und schob hinter sich die Schublade zu. Eilends folgte er der Frau hinaus auf den Korridor.
»Danke für deine Hilfe«, sagte die Frau hinter dem Stapel Stühle hervor, den sie trug.
»Keine Ursache«, sagte Chris. »Wofür sind die denn?«
»Ich bin vom Erziehungsministerium. Wir führen heute ein paar Befragungen durch. Wie alt bist du denn?«
»Elf … ich meine, zwölf.«
»Na wunderbar. Das bedeutet, dass wir uns später wiedersehen – wir werden dann erklären, worum es geht. Wie heißt du?«
»Chris. Christopher Lane.«
»Freut mich, Christopher«, sagte sie, »ich bin Allegra Sonata – Miss Sonata.« Sie sah zu ihm herüber und lächelte, während sie die Stühle absetzte. Sie öffnete die Kantinentür und sicherte sie mit dem Feststeller, damit sie nicht zufiel.
»Ich brauche sie da drüben«, sagte sie und deutete zum anderen Ende des Raums.
Sie trugen die Stühle hin und setzten sie ab.
Jetzt könnte ich eine Tasse Kaffee gebrauchen, dachte Miss Sonata bei sich.
»Oben im Lehrerzimmer können Sie eine bekommen. Das ist eine Treppe höher, am Ende des Flurs.«
»Wie bitte?«, fragte Miss Sonata und sah ihn verwirrt an.
»Im Lehrerzimmer können Sie Kaffee bekommen. Das ist oben …«
»Nein, nein, ich habe schon verstanden, was du gesagt hast, aber woher weißt du, dass ich einen Kaffee möchte?«
Jetzt war es an Chris, verwirrt zu schauen.
»Sie haben es doch gerade gesagt.«
Miss Sonata öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, hielt dann aber inne und schloss ihn wieder. Sie überlegte kurz.
»Wie, sagtest du, heißt du mit Nachnamen?«, fragte sie und nahm einen Ordner von dem Tisch neben ihr.
»Lane.«
»Lane. Hm«, sagte sie und blätterte in dem Ordner. Sie fand, was sie suchte, und fuhr mit dem Finger die Seite ab.
»Ah, da haben wir dich ja. Du gehst in die 7c, richtig?«
Chris nickte.
»Ausgezeichnet. Deine Befragung ist um Viertel vor zwölf. Ich freue mich darauf.«
Chris zögerte und beschloss dann, die Wahrheit zu sagen.
»Da bin ich nicht mehr hier«, sagte er verlegen. »Ich … äh … ich bin vom Unterricht suspendiert.«
Ein Ausdruck von Überraschung huschte über Miss Sonatas Gesicht.
»Oh, das tut mir leid«, sagte sie, sorgfältig ihre Worte wählend. Sie hielt inne, sah ihn an und fragte sich, wieso er dann überhaupt in die Schule gekommen war.
»Ich hatte hier etwas zu erledigen«, erklärte Chris, bevor sie den Gedanken aussprechen konnte. »Ich gehe wieder nach Hause, bevor der Unterricht anfängt.«
Miss Sonata schmunzelte. »Du bist ein interessanter Junge, Chris. Ich möchte, dass du bleibst und den Eignungstest und die Befragung mitmachst, bevor du gehst.«
Chris zögerte.
»Es ist keine große Sache. Es dauert nur ein paar Minuten. Du brauchst nur …«
»Christopher Lane!«, brüllte es da vom anderen Ende des Raums.
Chris und Miss Sonata fuhren herum. Mr Tuckdown stand in der Tür und sperrte das Licht vom Gang draußen aus wie bei einer Mondfinsternis.
Dann kam er herübergestürmt.
»Ich wusste von Anfang an, dass du dumm bist, aber nicht einmal ich hätte dich für so dumm gehalten, dass du in die Schule kommst, obwohl du suspendiert bist!«, schrie er und blieb keine zwei Schritte vor Chris stehen, das Gesicht rot vor Anstrengung und Zorn.
»Mr Tuckdown«, unterbrach ihn Miss Sonata, »ich habe Chris gerade gefragt …«
In seiner Wut hatte der Direktor Miss Sonata noch gar nicht bemerkt.
Er wischte sich mit dem Handrücken die Stirn ab und holte tief Luft.
»Miss Sonata, ich bin untröstlich. Ich hoffe, der Junge hat Sie nicht belästigt.« Er warf einen giftigen Blick auf Chris.
»Aber ganz und gar nicht«, erwiderte Miss Sonata. »Er hat mir geholfen, ein paar Stühle hereinzutragen.«
»Wahrscheinlich, um sich an Ihren Sachen zu vergreifen«, schnaubte Mr Tuckdown verächtlich. »Ich würde in meinen Taschen nachsehen, ob noch alles da ist. Der Bursche ist ein wahrer Langfinger.«
Er wandte sich wieder an Chris. »Ich warte auf eine Erklärung. Wieso bist du heute in der Schule?«
»Ich hab’s vergessen, Sir«, antwortete Chris schroff.
»Nun, deine Vergesslichkeit hat dir soeben einen weiteren Tag Suspendierung eingebracht. Vielleicht gibt dir das etwas Zeit, dein Gedächtnis zu trainieren. Ist das zu fassen!« Er schüttelte den Kopf. »Ich sage es jetzt ganz langsam, damit du es verstehst: Komm … nicht … vor … dem … nächsten … Dienstag … wieder. Und jetzt … raus!«
Chris wandte sich zum Gehen, aber Miss Sonata legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Einen Augenblick noch, Christopher«, sagte sie und sah den Direktor an. »Mr Tuckdown, ich würde mich sehr gern mit dem Jungen unterhalten, wenn Sie erlauben. Wir wären mit dem Test fertig, bevor der Unterricht beginnt.«
»Ach, Miss Sonata, ich weiß nicht, was für Lügen er Ihnen aufgetischt hat, aber ich kann Ihnen versichern, dass Sie nur Ihre Zeit verschwenden würden. Dieser Junge hat so viel Chancen, in eine Akademie für begabte Schüler aufgenommen zu werden, wie ich, fürs Royal Ballet in ein Ballettröckchen zu schlüpfen. Und jetzt raus mir dir, Christopher, bevor ich dich ganz von der Schule verweise.«
Chris blickte zu Miss Sonata, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Er drehte sich um und ging wortlos hinaus, die Blicke Mr Tuckdowns und Miss Sonatas im Rücken.