Nachdem er den ganzen Tag ziellos im Park umhergewandert war, kehrte Chris um Viertel vor vier nach Hause zurück. Die Vorhänge waren zugezogen und die Post quoll aus dem Briefkasten, ein untrügliches Zeichen, dass seine Mutter einen schlechten Tag gehabt hatte. Er ging hinein, ließ seine Tasche fallen und trat ins Wohnzimmer.
Seine Mutter saß in demselben Sessel wie am Morgen, als er weggegangen war. Sie hatte sich umgezogen, aber wieder die Decke über sich gebreitet, und stierte mit leerem Blick auf den Fernseher, der ein flackerndes dunkelblaues Licht auf ihr Gesicht warf. Chris ging zum Fenster und zog die verblichenen Vorhänge auf. Das graue Licht der Wintersonne strömte ins Zimmer.
Seine Mutter zuckte zusammen.
»Hi, Mum«, sagte er fröhlich.
Seine Mutter hob die Hand und beschirmte ihre Augen.
»Könntest du sie wieder zuziehen?«, fragte sie, aber es war weniger eine Frage als eine Aufforderung.
Er zögerte, denn er merkte an ihrem Tonfall, dass es heute nicht ratsam war, sie zu reizen. Dennoch beschloss er, ihre Aufforderung zu ignorieren.
»Mum, ich habe mir gedacht, wir könnten mal ausgehen.«
»Ausgehen?«, fragte sie.
»Ja, ausgehen. Ich habe mir gedacht, wir könnten ins Kino gehen oder so.«
Sie drehte sich zu ihm hinüber und sah ihn groß an.
»Sei nicht albern, Christopher. Ich war nicht mehr aus dem Haus, seit …«
»Seit Dad tot ist, ich weiß. Aber das ist sieben Jahre her. Du kannst nicht den Rest deines Lebens vor dem Fernseher sitzen. Du bekommst ja nicht mal mehr Besuch … seit ich alt genug bin, um mich um dich zu kümmern. Das ist nicht gut für dich.«
»Sag mir nicht, was gut für mich ist, Christopher.« Ihre Stimme wurde lauter. »Nichts ist gut für mich. Auf ein Unheil folgt nur noch größeres Unheil – das ist die Geschichte meines Lebens, und ich werde nicht aus dem Haus gehen und zulassen, dass noch mehr Elend zu dem ganzen Mist kommt, mit dem ich jetzt schon zu schaffen habe.«
»Ich habe mir nur gedacht, heute wäre ein guter Tag …«
»Ein guter Tag? Soweit ich mich erinnere, hatte ich seit Jahren keinen guten Tag mehr. Was ist denn heute so besonders? Wie kommst du denn darauf, dass heute irgendwas anders ist?«
Chris öffnete den Mund, um zu sprechen, aber seine Mutter wartete seine Antwort nicht ab.
»Nichts. Der heutige Tag ist so sinnlos wie der gestrige und wie der vorgestrige und jeder einzelne davor. Verstehst du?«, fragte sie und blickte, ohne eine Antwort abzuwarten, wieder zum Fernseher.
»Mach die Vorhänge zu, wenn du rausgehst«, sagte sie dann und gab damit zu verstehen, dass das Gespräch für sie beendet war.
Chris überlegte, ob er etwas erwidern sollte, sah aber ein, dass es nur in den Wind geredet wäre. Er trat ans Fenster und zog die Vorhänge wieder zu. Er wollte gerade aus dem Zimmer gehen, als es an der Tür klingelte. Er sah seine Mutter an.
»Erwartest du Besuch?«, fragte er verdutzt.
»Natürlich nicht«, entgegnete sie und sah ihn vorwurfsvoll an. »Wen hast du eingeladen?«
»Ich habe niemand eingeladen.«
»Sag, dass wir nichts kaufen. Und dass wir die Polizei rufen, wenn sie noch mal vorbeikommen.«
Es klingelte erneut.
»Ich seh mal nach«, sagte Chris überflüssigerweise.
Er öffnete die Tür. Draußen stand, an den Zaun vor dem Haus gelehnt, Miss Sonata, die Frau, die er am Morgen in der Schule getroffen hatte, und kramte in einem aufgeklappten Aktenkoffer aus braunem Leder. Sie richtete sich auf.
»Ach, hallo! Ich dachte schon, du bist nicht da. Ich wollte dir gerade eine Nachricht hinterlassen.«
Sie trat auf Chris zu, der schweigend in der offenen Tür stand.
»Tut mir leid, wenn ich dich heute in Schwierigkeiten gebracht habe«, sagte sie.
»Schon gut«, erwiderte Chris angespannt. »Es war nicht Ihre Schuld.«
»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich unangemeldet hier auftauche. Ich wollte dich unter der Nummer anrufen, die man mir in der Schule gegeben hat, bin aber nicht durchgekommen, da habe ich mir gedacht, ich schau kurz vorbei.«
»Ah ja«, sagte Chris.
»Darf ich reinkommen? Ich möchte nur kurz mit dir und deiner Mum reden, falls sie da ist.«
Chris zog die Tür hinter sich ein Stück zu.
»Es ist nur so«, erklärte er mit gedämpfter Stimme, »dass es Mom seit einiger Zeit nicht besonders gut geht, und ich wollte sie nicht noch mehr aufregen. Sie weiß nicht, dass ich vom Unterricht suspendiert bin. Ich war bis Schulschluss im Park.«
Miss Sonata nickte.
»Alles klar. Ich sage kein Wort. Ich möchte nur einen Termin für den Eignungstest mit dir machen. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du es probieren würdest.«
»Wofür ist er denn?«, fragte er misstrauisch.
»Für eine neue Schule … eine sehr exklusive staatliche Schule, die demnächst eröffnet wird.«
»Aber … na ja … ich bin eigentlich kein guter Schüler«, gestand er, verwundert darüber, dass ihr das nicht schon längst klar war.
»Wie du bisher in der Schule warst, interessiert uns nicht, Christopher. Wir wollen Schüler, die etwas anderes zu bieten haben.«
»Kreativität, Fantasie und ähnliche Dinge. Ich weiß, wir haben uns heute Morgen nur kurz unterhalten, aber ich habe das deutliche Gefühl, dass du gut abschneiden würdest.«
Chris überlegte einen Moment.
»Ich bespreche das mit meiner Mum.«
»Wunderbar«, sagte Miss Sonata. »Ich warte hier.«
»Gut. Bin gleich wieder da«, sagte Chris und kehrte, die Haustür offen lassend, ins Wohnzimmer zurück.
Miss Sonata lehnte sich gegen das Geländer und wartete. Sie hörte gedämpfte Stimmen, und obwohl sie nicht verstand, was gesprochen wurde, merkte sie, dass die Unterhaltung hitzig wurde. Dann ertönten Schritte und eine Tür knallte.
»Tu, was du willst … Ich gehe auf mein Zimmer!«, schrie eine Frauenstimme, und bevor Miss Sonata wegschauen konnte, stand Chris’ Mutter vor ihr in der Diele.
»Was glotzen Sie denn so?«, fauchte sie, das Haar verfilzt und zerzaust, das Gesicht faltig und müde, und Miss Sonata, die sich plötzlich ihrer teuren Frisur und ihres maßgeschneiderten Kostüms bewusst wurde, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.
»Mum, bitte«, sagte Chris, der neben seiner Mutter auftauchte. Er fasste sie am Arm, um sie zu beruhigen, aber sie entwand sich ihm zornig.
»Ich komme ein andermal wieder«, sagte Miss Sonata. »Ich möchte keine Unannehmlichkeiten bereiten.«
Chris’ Mutter zuckte mit den Schultern und steuerte auf die Treppe zu. »Nur zu, machen Sie ruhig den Test oder was Sie mit ihm vorhaben. Ich gehe schlafen.« Und ohne sich umzusehen, sagte sie zu Chris: »Du brauchst mir nichts zum Abendessen zu machen.« Damit bog sie um die Ecke und verschwand auf der dunklen Treppe.
Chris und Miss Sonata standen einen Moment betreten da.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Miss Sonata.
Chris nickte, sagte aber nichts. Zum zweiten Mal an diesem Tag war er in Miss Sonatas Gegenwart beschämt und aufgebracht.
»Soll ich gehen?«, fragte sie sanft.
Er schüttelte den Kopf. »Jetzt können Sie genauso gut bleiben. Mum wird heute Abend nicht mehr runterkommen.«
»Soll ich jemanden anrufen … vielleicht könnte jemand aus der Verwandtschaft vorbeikommen und dir beim Abendessen helfen?«, fragte Miss Sonata.
»Nein, ich komme schon klar, ehrlich«, sagte Chris. »Das passiert dauernd. Ich bin es gewohnt.«
Miss Sonata zögerte kurz und schloss dann die Tür hinter sich. Die Schulsekretärin hatte sie bereits hinter vorgehaltener Hand vor Chris’ häuslicher Situation gewarnt, doch als sie eintrat, war sie schockiert. Das Haus war dunkel und dringend renovierungsbedürftig. Farbe blätterte von den Wänden und dort, wo im Lauf der Jahre der Putz abgebröckelt war, kam das nackte Mauerwerk zum Vorschein. Der Teppich auf der Treppe war durchgelaufen und rollte sich an den Rändern hoch, obwohl er notdürftig mit Klebeband festgeklebt war. Von der Decke hing ein Kabel mit einer Lampenfassung ohne Glühbirne und weiter hinten im Flur standen zwei Mausefallen auf dem Fußboden. Es roch nach Feuchtigkeit und hier drinnen kam es ihr kälter vor als draußen.
»Wir … äh … müssten einiges am Haus machen lassen, entschuldigen Sie«, sagte Chris, ohne sie anzusehen. Sie folgte ihm schweigend ins Wohnzimmer.
Chris sprang zum Sofa und nahm die Decke weg, damit Miss Sonata Platz nehmen konnte.
Sie lächelte und setzte sich. Dann legte sie sich den Aktenkoffer auf den Schoß, klappte ihn auf und kramte darin.
Chris ließ sich am anderen Ende des Sofas nieder.
»Da hätten wir sie«, sagte Miss Sonata, zog eine bedruckte Hochglanzkarte hervor und reichte sie Chris. »Das ist die Schule, von der ich gesprochen habe.«
Er sah sich die Vorderseite an. Oben stand in schnörkeliger goldener Schrift »Myers Holt Academy, Kompetenzzentrum«, und darunter war ein altes, imposantes Stadthaus aus der Zeit um 1800 abgebildet, mit einer breiten Treppe, die zu einem schwarzen Portal mit einer goldenen Tafel hinaufführte. Er drehte die Karte um. Auf der Rückseite waren keine weiteren Fotos, nur ein kurzer Text, den er im Stillen las:
Die Lehranstalt Myers Holt Academy ist eine unlängst gegründete, staatlich anerkannte Schule im Herzen Bloomsburys, direkt gegenüber dem British Museum. Die Zahl der Plätze ist begrenzt und wird einer ausgewählten Gruppe von Schülern für die Dauer von lediglich einem Jahr angeboten. In dieser Zeit wird das Lehrerkollegium von Myers Holt die Schüler in kleinen Klassen einer intensiven Fachausbildung unterziehen, die darauf abzielt, den Geist zu schulen und zu erweitern. Darüber hinaus werden sich die Schüler an einer Vielfalt außerschulischer Betätigungen erfreuen, die gewährleisten, dass Ihr Kind Myers Holt mit Fähigkeiten verlassen wird, die ihm eine erfolgreiche Zukunft garantieren.
Weitere Informationen erhalten Sie unter:
Zulassungsstelle
Myers Holt Academy
40 Montague Street
London WC1 6JO
»Der Test dauert nur etwa zehn Minuten«, sagte Miss Sonata. »Das ist Zeit genug, um festzustellen, ob du das besitzt, was wir suchen. Was meinst du? Es könnte eine glänzende Chance für dich sein.«
»Sieht teuer aus«, sagte Chris und betrachtete das Foto auf der Vorderseite.
Miss Sonata schmunzelte. »Ganz im Gegenteil. Wir nehmen sehr gerne Schüler auf, die aus der Ausbildung, die Myers Holt bietet, den größtmöglichen Nutzen ziehen. Herkunft oder Einkommen der Eltern sollen dabei keine Rolle spielen. Deshalb kommen wir für alle Schulgebühren auf und übernehmen auch die Kosten für Bücher, Uniform und andere schulbezogene Aufwendungen. Und das ist noch nicht alles. Außerdem würdest du von uns ein Vollstipendium für deine gesamte weitere Ausbildung erhalten.«
»Dann müsste ich für gar nichts bezahlen, wenn ich diese Schule besuche?«, fragte er, um ganz sicherzugehen.
Miss Sonata nickte.
»Nicht einmal fürs Essen?«
»Nein, du wärst in einem Internat untergebracht, Verpflegung inbegriffen.«
»In einem Internat?«, fragte Chris.
»Ja«, sagte Miss Sonata. »Aber du könntest mit deiner Mutter telefonieren und an Feiertagen nach Hause fahren.«
Chris dachte einen Moment nach.
»Es tut mir leid, aber selbst wenn Sie mich nehmen würden, was ich nicht glaube, könnte ich meine Mum nicht allein lassen.«
Miss Sonata nickte mitfühlend.
»Das verstehe ich vollkommen. Ich kann dazu nur so viel sagen: Wir sind eine kleine Schule mit nur einer Klasse, denn wir wollen einen Unterricht bieten können, der ganz auf den Einzelnen zugeschnitten ist. Es stehen maximal sechs Plätze zur Verfügung, und wir testen über zweitausend Schüler. Falls dir ein Platz angeboten werden sollte, ließe sich vielleicht eine Lösung für euch beide finden. Wenn nicht, nun ja, dann bleibt für dich sowieso alles beim Alten. Mit anderen Worten, du hast nichts zu verlieren, wenn du den Test machst.«
Chris zuckte mit den Schultern.
»Okay. Ich mache ihn. Wann?«, fragte er.
»Von mir aus jetzt gleich«, sagte Miss Sonata. »Er dauert nur zehn Minuten. Aber wenn du jetzt keine Zeit hast, machen wir einen Termin aus und du kommst zu uns. Wir sitzen mitten in der City.«
»Ich kann ihn jetzt machen«, sagte Chris. »Ich habe ja nichts zu tun.«
»Okay, gut.« Miss Sonata sah sich nach einer Arbeitsfläche um, aber alles, was sie entdeckte, war ein kleiner runder Couchtisch, auf dem sich alte Fernsehzeitschriften stapelten.
»Wenn Sie einen größeren Tisch brauchen, können wir in die Küche gehen«, schlug Chris vor und klaubte die beiden Becher vom Fußboden, die seine Mutter dort hatte stehen lassen.
Miss Sonata lächelte und stand auf. Er führte sie den Flur hinunter und durch eine Bogentür in die Küche, die, obwohl alt und ebenfalls renovierungsbedürftig, blitzblank war. Wenigstens putzt seine Mutter, dachte sie, doch dann sah sie, wie Chris die Wasserhähne aufdrehte und die Becher sorgfältig spülte. In diesem Augenblick überkam sie tiefes Mitleid mit diesem Jungen, dem so viele Erwachsenenpflichten aufgeladen wurden. Sie trat auf die kleine Glasveranda, die an die Küche angrenzte und von einem imposanten Esstisch aus Eiche beherrscht wurde, um den verschiedene, nicht zusammenpassende Stühle standen. Sie zog einen davon zurück und nahm Platz.
Sie öffnete ihren Aktenkoffer, entnahm ihm einen dunkelroten Ordner und wartete, während Chris Tee machte. Sie fröstelte. Dann bemerkte sie in der Ecke einen Eimer, der mit Wasser gefüllt war, und hob den Blick: Oben im Glasdach fehlte eine Scheibe. Sie beschloss, nichts dazu zu sagen.
Chris stellte die Becher auf den Tisch und setzte sich ihr gegenüber.
»Danke«, sagte Miss Sonata und legte die Hände um den Becher, um sich zu wärmen. »Gut. Fangen wir an.« Sie lächelte. »Wie ich schon sagte, uns interessiert eigentlich nicht, wie du in der Schule bist. Uns sind bestimmte Fähigkeiten wichtiger als schulische Leistungen. Darum sind die Fragen, die ich dir nun stellen werde, etwas ungewöhnlich.«
»Was für Fähigkeiten?«, fragte Chris.
»Fantasie zum Beispiel, Beobachtungsgabe, Einfühlungsvermögen. Das bedeutet nicht, dass in Myers Holt nicht auch Schulfächer wie Mathematik und Englisch unterrichtet werden. Nur glauben wir, dass du die größten Fortschritte erzielst, wenn wir uns mit der Art und Weise deines Denkens beschäftigen und nicht mit den Fakten, die du gelernt hast. Leuchtet dir das ein?«
»Ja«, antwortete Chris, obwohl er nur Bahnhof verstand.
»Gut«, sagte sie, schlug den Ordner auf, entnahm ihm eine Fotografie und reichte sie Chris.
»Sieh dir das Foto bitte gut an. In einer Minute nehme ich es dir weg und stelle ein paar Fragen dazu.« Plötzlich hielt sie eine Stoppuhr in der Hand, die er vorher noch gar nicht bemerkt hatte, und drückte einen Knopf.
Chris senkte den Blick auf das Foto. Es zeigte einen kleinen Jungen, ungefähr vier Jahre alt, mit einem großen Geschenk auf dem Schoß. Er saß auf einem mit Teppich ausgelegten Boden neben einem hell erleuchteten Weihnachtsbaum und am linken Rand des Fotos war die Ecke eines Fernsehgeräts zu erkennen, das auf einem Holzschränkchen stand. Chris ließ seine Augen über das Bild huschen und versuchte angestrengt, sich möglichst viele Einzelheiten einzuprägen, bis Miss Sonata ihn aufforderte, aufzuhören und ihr das Foto zurückzugeben. Sie öffnete behutsam den Ordner und legte es wieder hinein. Dann schob sie den geschlossenen Ordner in die Mitte des Tisches.
»Jetzt schau bitte auf den Ordner, während ich dir die Fragen stelle. Bemühe dich nicht krampfhaft, die richtigen Antworten zu geben. Versuche lieber, den Kopf freizubekommen und das Erste zu antworten, was dir in den Sinn kommt. Wenn du die Antwort nicht weißt, sage einfach ›weiter‹. Alles klar?«
Chris nickte und Miss Sonata griff zu Klemmbrett und Stift.
»Erste Frage: Welche Farbe hat der Schlafanzug des Jungen?«
»Blau-grün gestreift.«
Miss Sonata schrieb etwas auf ihr Blatt. Chris suchte in ihrem Gesicht nach einem Hinweis darauf, ob die Antwort richtig war, entdeckte aber nichts.
»Bitte halte deinen Blick auf den roten Ordner gerichtet«, sagte sie und klopfte auf den Tisch. »Frage Nummer zwei: Welche Farbe haben die Hausschuhe des Jungen?«
»Er hat gar keine Hausschuhe an«, sagte Chris voller Überzeugung. »Er ist barfuß.«
»Gut. Frage Nummer drei: Wie viele Geschenke liegen unter dem Baum?«
»Sechs«, sagte Chris, erleichtert, dass er diese Frage vorausgesehen hatte.
Miss Sonata machte sich rasch eine Notiz und fuhr fort:
»Vierte Frage: Wie heißt der Junge?«
Chris zögerte einen Moment.
»Ich muss dich zur Eile mahnen. Sag einfach, was dir als Erstes in den Sinn kommt.«
»Matthew«, antwortete Chris, der sich plötzlich erinnerte, den Namen in weißen Buchstaben auf dem Strumpf gelesen zu haben, der in der Ecke des Fotos am Kaminsims gehangen hatte.
»Letzte Frage«, fuhr Miss Sonata fort. »Was ist in dem Paket, das der Junge in der Hand hält?«
Chris schaute verdutzt auf.
»Auf manche Fragen gibt es keine richtige Antwort, Christopher«, erklärte Miss Sonata beruhigend. »Sag einfach, was dir einfällt.«
»Äh … ein Pinguin?« Kaum waren die Worte heraus, bereute er sie auch schon. Was für eine bescheuerte Antwort!
Miss Sonata zeigte keinerlei Reaktion und schrieb sie ruhig auf.
»War das richtig?«, fragte er.
Sie schaute auf, sah sein besorgtes Gesicht und lachte.
»Du machst deine Sache gut. Aber lass uns jetzt auf den Pinguin zurückkommen. Beschreibe ihn mir etwas genauer.«
»Hm«, machte Chris und senkte wieder den Blick. Er rief sich das Bild des Pinguins wieder vor Augen und versuchte, es mit mehr Details auszuschmücken.
»Er trägt eine gelbe Fliege um den Hals, mit roten Tupfen darauf. Und auf dem Kopf einen schwarzen Zylinder.«
Miss Sonata notierte die Antwort und schaute wieder auf.
»Sehr schön«, sagte sie und legte das Klemmbrett weg. »Teil eins wäre damit beendet. Bist du bereit für den nächsten Fragenblock?«
Chris nickte.
Sie zückte einen gefalteten Stadtplan und breitete ihn auf dem Tisch aus.
»Weißt du, was der Plan darstellt?«
Chris erkannte den Fluss, der sich über das Papier schlängelte, sofort.
»Ja, das ist London.«
»Sehr schön. Siehst du das Kreuz hier?« Sie deutete auf ein kleines rotes X in der Mitte der Karte, nördlich des Flusses. Chris nickte.
»Ich möchte, dass du es dir ansiehst, bis dir alles vor den Augen verschwimmt, und dabei deinen Gedanken freien Lauf lässt.«
Chris konzentrierte sich auf die Mitte der Karte und kniff die Augen zusammen, bis die Einzelheiten unscharf wurden.
»Jetzt stell dir vor, dass du vom Himmel fällst, direkt auf das rote X zu. Du brichst durch die Wolken und siehst die Straße unter dir. Sag mir Bescheid, wenn du unten auf dem Boden gelandet bist, dann fangen wir an.«
Während die Karte vor seinen Augen verschwamm, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass dies der merkwürdigste Test war, den er jemals gemacht hatte. Dennoch befolgte er Miss Sonatas Anweisungen und stellte sich vor, wie er auf eine graue Wolkendecke zustürzte, die rasch näher kam. Dann sah er einen Moment lang nur grauen Nebel, und auf einmal tauchte die unverwechselbare Stadtlandschaft Londons unter ihm auf. Während er in Gedanken weiter auf den Boden zuraste, schaute er sich um. Die Straßen wimmelten von Menschen und Autos, bunten kleinen Punkten, die in alle Richtungen strebten. Langsam gewöhnte er sich an die Vogelperspektive und erkannte vertraute Wahrzeichen: die Themse, die aussah wie ein dunkles Band, das auf die Landschaft gelegt worden war, in einiger Entfernung den Piccadilly Circus mit seinen vielen Lichtern und unter sich den Trafalgar Square mit seinen beiden Brunnen. Er stellte sich das Standbild Admiral Nelsons hoch oben auf seiner Säule vor. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Szenerie direkt unter sich und beobachtete, wie seine Füße sanft auf dem grauen Gehweg der belebten Straße aufsetzten. Er schaute sich um. Menschen hasteten an ihm vorüber, anscheinend ohne ihn zu bemerken. Er wartete.
»Äh, okay, und was jetzt?«, fragte er nach längerem Schweigen.
»Was siehst du?«
»Menschen. Eine Straße. Autos.«
»Geht es etwas genauer? Kannst du mir sagen, was genau du siehst?«
Chris hob den Kopf, hielt die Augen geschlossen, aber das Bild in seinem Kopf verblasste.
»Ich kann nicht viel erkennen. Alles wird grau, wie Nebel.«
»Sieh wieder nach unten, Christopher. Ich glaube, du wirst feststellen, dass das Bild dann wieder deutlicher wird.«
Und tatsächlich: Als Chris wieder auf den Tisch schaute, erschien erneut das Bild der belebten Straße vor ihm.
»Ich sehe eine Familie an mir vorbeigehen und eine Autoschlange wartet vor einer Ampel.«
»Was für Häuser siehst du?«
»Da ist eine Buchhandlung und daneben ein Café. Und auf der anderen Straßenseite ist ein Kino …«
»Hmmm«, unterbrach Miss Sonata. »Okay. Kannst du ein Stück nach rechts gehen und mir sagen, was du dann siehst?«
Es entstand eine Pause, während Chris sich vorstellte, wie er durch die Straße eilte.
»Ja, vor mir liegt der Trafalgar Square. Links von mir ist eine Kirche und auf den Stufen davor sitzen Menschen.«
»Geh zu der Kirche und suche auf dem Gehweg vor der Kirche nach einer Zahl.«
»Einer Zahl?«
»Ja, sieh nach, ob du eine entdeckst.«
Chris näherte sich den Kirchenstufen und fragte sich, ob er, wenn dies alles nur in seiner Fantasie geschah, den anderen Fußgängern ausweichen musste. Mit gesenktem Blick ging er den Bürgersteig entlang.
»Ja, ich sehe was! Da ist eine Zahl auf dem Boden, mit roter Farbe hingesprüht.«
»Kannst du mir sagen, was für eine Zahl?«
»Sie beginnt mit eins, zwei, neun, aber den Rest kann ich nicht erkennen. Eine Gruppe Touristen versperrt mir die Sicht.«
»Okay, warten wir, bis sie weitergehen.«
Es wurde still im Raum, während Chris die Gruppe von Männern und Frauen beobachtete, die sich darüber stritten, wie herum ihr Stadtplan gehalten werden musste. Schließlich stürmte eine der Frauen wutentbrannt an ihm vorbei, und die anderen aus der Gruppe hasteten ihr nach, um sie einzuholen. Chris ging zu der Stelle und blickte nach unten.
»Eins, zwei, neun … eins, zwei, neun … zwei, null, zwei, fünf«, las er langsam.
»Interessant, Christopher, wirklich sehr interessant«, sagte Miss Sonata und notierte sich etwas. »Okay, mit diesem Teil wären wir fertig. Gut gemacht. Du kannst die Augen wieder öffnen.«
Chris hatte ganz vergessen, dass er die Augen geschlossen hatte. Er machte sie auf, und das Bild, das er gesehen hatte, verschwand.
Miss Sonata faltete den Stadtplan zusammen und legte ihn weg.
»Eine letzte Frage. An was für ein Tier denke ich gerade?«
Er hatte sie kaum angesehen, da tauchte das Bild eines Tieres vor seinem inneren Auge auf.
»An einen Fuchs.«
Miss Sonata schürzte die Lippen, um ein Schmunzeln zu vermeiden. »Das ist richtig! Ein Zufallstreffer?«
»Ja, ein Zufallstreffer«, antwortete er lächelnd. Er wusste, sie hätte dasselbe gesagt, ganz gleich für welches Tier er sich entschieden hätte.
»Tja, wir sind fertig. Gut gemacht«, sagte Miss Sonata und packte ihren Ordner weg.
»Das war’s schon?«, fragte Chris verdutzt.
»Ja, mit dem Test sind wir fertig. Wir geben dir so bald wie möglich Bescheid, wie du abgeschnitten hast. Aber da wäre noch eine andere Sache. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, aber ich hatte vorhin eine Unterhaltung mit der Schulsekretärin, und von ihr weiß ich, dass du heute wahrscheinlich gar nichts Besonderes vorhast. Na, jedenfalls wollte ich nicht mit leeren Händen hierherkommen, deshalb hoffe ich, es macht dir nicht aus, wenn ich so frei bin und dir noch ein paar Minuten Gesellschaft leiste.«
Sie öffnete ihre Tasche und hob vorsichtig einen weißen Karton heraus. Chris sah neugierig zu, wie sie den Deckel aufklappte und darunter eine wunderschöne große Schokoladentorte zum Vorschein kam. Sie griff erneut in die Tasche, zog ein paar Pappteller hervor und dann eine blauweiß gestreifte Kerze, die sie mitten in die dicke braune Glasur drückte.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Christopher«, sagte sie und sah ihn an.
Er lächelte verlegen. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Ich … woher … ich weiß nicht …«
Miss Sonata lachte.
»Du kannst deinen zwölften Geburtstag doch nicht ohne Torte feiern!«
»Danke … ich …«
»Du brauchst mir nicht zu danken«, unterbrach sie ihn fröhlich. »Hilf mir lieber, die Sachen ins Wohnzimmer zu tragen, damit wir feiern können.«
Chris ergriff die Teller und folgte Miss Sonata aus der Küche, ein breites Lächeln im Gesicht. Nun wurde es doch noch ein besonderer Tag, und aus dem richtigen Grund.