Ernest Genever hatte über eine Stunde lang seinen Zwillingsbruder gesucht und fast in jedem der ungefähr fünfzig Zimmer des Hauses nachgesehen, aber ohne Erfolg. Er wollte nur etwas Gesellschaft, jemanden zum Spielen, aber Mortimer war nirgends aufzufinden. Enttäuscht schlich er über das gebohnerte Parkett im Westflügel, wobei er es vermied, die grimmig dreinschauenden Herrschaften auf den Ölgemälden an den Wänden anzusehen, und blieb vor dem letzten Zimmer im Flur stehen. An der schweren Holztür prangte eine goldene Tafel, in die »Gästesuite Whitehall« eingraviert war. Er drehte vorsichtig am Knauf, öffnete die Tür und zuckte beim Quietschen der ungeölten Angeln zusammen – so reagierte er auf jedes laute Geräusch, das seine Mutter stören könnte. Er verharrte eine Weile nervös, bis er überzeugt war, dass sie ihn nicht gehört hatte. Dann trat er mit einem leisen Seufzer der Erleichterung ein.
Die Vorhänge waren aufgezogen und draußen schien noch hell die Sonne, doch der Raum selbst wirkte düster und beklemmend wie ein selten besuchter Ausstellungssaal in einem Museum. Er war vollgestopft mit dunklen, alten Möbeln, die nicht ihres Aussehens, sondern ihrer Größe und ihres Wertes wegen angeschafft worden waren. Doch Ernest nahm davon kaum Notiz. Hier sah es genauso aus wie in jedem anderen der ungenutzten Gästezimmer von Darkwhisper Manor, dem einzigen Zuhause, das er je gekannt hatte.
»Mortimer«, flüsterte er und schlich auf Zehenspitzen hinein. »Mortimer, bist du da?«
Er ging im Zimmer umher, sah in den Schränken nach, dann unter dem Himmelbett, wobei er kleine Staubwolken aufwirbelte, die in der verbrauchten Luft flimmerten. Keine Spur von seinem Bruder. Er stand wieder auf und klopfte sich den Staub von den Knien. Na schön, dann musste er sich eben alleine beschäftigen. Er trat wieder hinaus auf den Flur, zog leise die Tür hinter sich zu und schlug den Weg zum Spielzimmer am anderen Ende des Hauses ein.
»Ernest!«
Er zuckte zusammen, blieb wie angewurzelt auf dem Treppenabsatz stehen und blickte nach unten. Mitten in der Marmorhalle stand seine Mutter, und obwohl er auf sie hinabsah, hatte er das Gefühl, dass sie hoch aufragte und mit ihrer Gegenwart den großen Raum unter ihm ausfüllte. Man hätte Dulcia Genever schön nennen können, wäre da nicht dieser eisige Panzer gewesen, der sie zu umgeben schien und in Menschen den Wunsch weckte, sich abzuwenden und davonzulaufen. Ihr schwarzes Haar war tadellos frisiert und bildete einen starken Kontrast zu ihrer bläulichweißen Haut, die so hell war, dass sie fast leuchtete. Wie jeden Tag trug sie ein langes schwarzes Abendkleid und eine Halskette aus funkelnden Diamanten, die, wenn sie sich bewegte, das Licht einfingen und grelle weiße Blitze versprühten. Was den Menschen, die Dulcia begegneten, jedoch am meisten an ihr auffiel, waren ihre Augen. Sie waren vollkommen schwarz und durchbohrten jeden, der sie anzusehen wagte.
»Was tust du?«, fragte sie vorwurfsvoll.
»Ich suche Mort, Mutter«, antwortete er kleinlaut und wich ihrem durchdringenden Blick aus.
»Ich könnte mir denken, dass er übt, und das solltest du auch tun. Wir haben viele Jahre auf diesen Augenblick gewartet und du hast offenbar nur deine Spiele im Sinn.«
Ernest ließ beschämt den Kopf hängen.
»Liebst du deine Mutter, Ernest?«, fragte Dulcia kühl.
»Ja, Mutter, natürlich«, antwortete er. Und das tat er. Ernest hatte in seinem Leben eigentlich nur zwei Menschen richtig kennengelernt – seine Mutter und seinen Bruder – und wäre nie auf den Gedanken gekommen, an seiner Liebe zu ihnen zu zweifeln. Sosehr ihn seine Mutter auch ängstigte und so gemein sein Bruder auch sein konnte, so glaubte er doch fest daran, dass sie nur sein Bestes wollten. Nur leider konnte er es den beiden niemals recht machen, ganz gleich was er tat oder wie sehr er sich auch bemühte.
»Wie kann ich das glauben, wenn du lieber spielst, als zu arbeiten und mir zu helfen? Dein Bruder hat sich gegen Cecil Humphries vortrefflich geschlagen und wird bald deine Hilfe brauchen. Du willst deinen Bruder doch nicht im Stich lassen, oder?«
»Gut, dann geh lernen.«
»Ja, Mutter«, sagte Ernest und entfernte sich schnell.
Das Spielzimmer war trotz seines Namens kein vergnüglicherer Ort als all die anderen Zimmer in dem großen Herrenhaus. Tatsächlich war es, jedenfalls die meiste Zeit, ein Schulzimmer und unnötig groß, wenn man bedachte, dass nur zwei Schüler darin unterrichtet wurden. Ernest ging zum anderen Ende des Raums. Dort standen zwei hölzerne Schreibpulte vor einer riesigen Wandtafel, auf die seine Mutter ihre heutigen Aufgaben geschrieben hatte:
Lest »Die Theorie der Telekinese« von Boris Karparow.
Test morgen 9 Uhr.
Ihr werdet imstande sein müssen, ein Objekt von einem Ende des Raums zum anderen zu bewegen.
Ernest seufzte, ging zu seinem Pult und nahm das Buch, das dort für ihn bereitlag. Der verblasste rote Einband war schmucklos bis auf den goldgeprägten Titel. Er schlug es auf und blätterte die vergilbten Seiten rasch bis nach hinten durch. Das Buch hatte 457 Seiten. Er würde schätzungsweise zwanzig Minuten dafür brauchen, etwa doppelt so lange wie sein Bruder. Er rutschte in die Bank, die an dem Pult angebracht war, und begann, die Einführung zu lesen.
Telekinese (altgriechisch für »Fernbewegung«) bezeichnet das Beeinflussen und Bewegen von Gegenständen durch geistige Kräfte und …
Er überflog die restliche Seite, blätterte um und betrachtete ein paar Sekunden lang die nächste Seite, bevor er sich der übernächsten zuwandte. So blätterte er alle paar Sekunden weiter und hatte sich etwa zwei Drittel des Buches eingeprägt, als er plötzlich hinter sich die Tür aufgehen hörte. Er drehte sich um.
»Mort! Ich habe dich gesucht«, rief er, während sein Bruder ins Zimmer trat, in der Hand einen kleinen, unscheinbaren Pappkarton.
»Ich hatte etwas Besseres zu tun, als mit dir zu spielen«, erwiderte Mortimer trocken.
»Ja, klar«, sagte Ernest, bemüht, seine Kränkung zu verbergen. »Was hast du da in dem Karton?«
»Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht, Ernest«, antwortete Mortimer lächelnd.
Ernest stand auf und sah den Bruder ungläubig an.
»Guck nicht so überrascht, Blödmann, du bist doch mein Zwillingsbruder«, sagte Mortimer, stellte den Karton auf Ernests Pult und hob die Deckelklappen.
»Schon, aber normalerweise schenkst du mir nie … oh …«
Ernest sah seinen Bruder erstaunt an, fasste mit beiden Händen in den Karton und hob vorsichtig ein kleines graues Kätzchen heraus. Das Kätzchen blinzelte ein paarmal und betrachtete ihn neugierig. Dann, als es merkte, dass er ihm nichts Böses wollte, rollte es sich zusammen und schloss die Augen.
»Ach, ist die niedlich. Ich kann es nicht glauben. Danke, Mort.« Ernest stutzte. »Weiß Mutter davon?«
»Ja, ich habe sie vorher gefragt. So, können wir jetzt arbeiten?«
»Arbeiten?«, fragte Ernest geistesabwesend und kraulte das schnurrende Kätzchen unterm Kinn.
»Ja, Ernest. Deswegen habe ich doch das Kätzchen mitgebracht.«
Verwirrt schaute Ernest auf. Ein gemeines Grinsen schlich sich auf das Gesicht seines Bruders, ein Grinsen, das er allzu gut kannte.
»Oh, nein, Mort. Was hast du vor?«
Mortimer schaute zur Tafel und Ernest folgte seinem Blick.
»Ich würde sagen, ein Kätzchen ist ein Objekt, findest du nicht auch?«
»Ich glaube nicht, dass Mutter das gemeint hat«, erwiderte Ernest und spürte, wie Panik in ihm aufstieg.
»Das kann man so oder so sehen, Ernest«, entgegnete Mortimer und nahm ihm das Kätzchen ab.
Das Kätzchen hob überrascht den Kopf. Seine kleinen Beine baumelten von Mortimers Händen herab.
»Du wirst immer gleich so … gefühlsduselig«, spöttelte Mortimer und setzte das Kätzchen auf den Boden. Das Tier schaute sich um und streckte sich, nicht ahnend, in welcher Gefahr es schwebte.
»Bitte nicht, Mort«, flehte Ernest, aber Mortimer hörte nicht hin. Er fixierte das Kätzchen und seine Augen wurden glasig.
Zisch!
Entsetzt sah Ernest zu, wie das Kätzchen plötzlich über den Holzfußboden rutschte.
»Nein!«, schrie er, als das erschrockene Tier immer schneller wurde und verzweifelt mit den Beinen strampelte, um die Fahrt zu stoppen. Er hielt sich die Augen zu, als es mit einem dumpfen Schlag gegen die Wand prallte.
Eine quälende Stille folgte. Ernest war starr vor Entsetzen und wagte nicht hinzusehen.
Miauuuu!
Langsam ließ er die Hände sinken und hob den Kopf. Das Kätzchen war völlig verstört, aber noch am Leben und allem Anschein nach unverletzt. Es erhob sich auf seine vier Pfoten und versuchte zu gehen, wankte aber hin und her und fiel wieder hin.
Mortimer brach in Lachen aus. Empört sah Ernest zu, wie er hysterisch nach Luft schnappte und jedes Mal, wenn er sich zu beherrschen versuchte, wieder einen Lachkrampf bekam.
Schweigend ging Ernest zu dem Kätzchen. Er setzte sich auf den Boden, nahm es auf den Schoß und streichelte es sanft, bis es sich allmählich beruhigte. Nach ein paar Minuten verstummte das Lachen seines Bruders. Er hörte seine Schritte nahen.
»Du bist dran, Ernest.«
Ernest schaute zu seinem Bruder auf, antwortete aber nicht. Er fragte sich, wie es möglich war, dass jemand genauso aussah wie er und doch so anders war. Einen kurzen Augenblick lang spürte er ein Gefühl von Hass in sich aufsteigen, so ungewohnt, dass es ihn selbst überraschte.
»Nein.«
»Was?«, fragte Mortimer schockiert.
»Nein, Mort, ich werde es nicht tun. Das ist grausam«, sagte Ernest mit einer Entschiedenheit, die er in seinen zwölf Lebensjahren noch nie an den Tag gelegt hatte.
»Was fällt dir ein, mir zu widersprechen? Du tust es jetzt sofort!«
»Nein, Mort. Ich werde dem Kätzchen nicht wehtun. Wir brauchen es nicht, um zu üben.«
Mortimer sagte nichts und dachte über diese Wendung der Ereignisse nach, während Ernest so tat, als wäre er Luft für ihn, und das Kätzchen streichelte.
»Ernest?«
Ernest schaute auf. »Ja?«
»Wenn du es nicht tust, werde ich es töten. Du weißt, dass meine GABE stärker ist als deine. Wenn du nicht dasselbe tust wie ich, lasse ich das Kätzchen gegen alle vier Wände knallen und werfe es hinterher aus dem Fenster.«
Ernests Augen füllten sich mit Tränen. »Warum, Mort? Warum soll ich das tun?«
Mortimer zuckte mit den Schultern.
»Weil es lustig ist. Und Mutter findet, dass du lernen musst, härter zu werden.«
»Mutter weiß Bescheid?«
»Natürlich. Ich habe ihr gesagt, dass du meiner Meinung nach nicht stark genug bist für die Aufgabe, die vor uns liegt, und sie hat mir zugestimmt. Tust du es jetzt, ja oder nein?«
Ernest zögerte.
»Ernest. Du bist mein Zwillingsbruder und wir haben beide dasselbe Lebensziel. Ich will nur dein Bestes. Das weißt du.«
Ernest überlegte einen Moment. Dann nahm er mit resignierter Miene das Kätzchen aus seinem Schoß und setzte es neben sich auf den Boden. Mortimer grinste. Ernest stand auf. Dann sah er nach unten und ließ seine Augen glasig werden. Das Kätzchen geriet langsam in Bewegung.
»Schneller, Ernest.«
Ernest runzelte konzentriert die Stirn und das Kätzchen nahm an Fahrt auf.
Mortimer lachte.
»Genau so, Ernest! Los, Kätzchen, los!«
Das Kätzchen sauste an den Pulten und Bücherregalen vorbei und hatte fast die Wand erreicht, als es direkt neben der Tür plötzlich zum Stehen kam.
Mortimer blickte zu Ernest, doch der war bereits auf dem Weg zur Tür, grapschte das Kätzchen und stürmte, ohne sich umzudrehen, mit ihm hinaus.
»Feigling!«, schrie Mortimer.
Ernest rannte den Flur entlang, dann, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter, zur Haustür hinaus und über den gepflegten Rasen in den Wald. Sein Bruder beobachtete ihn vom Spielzimmerfenster aus. Ernest sah sich nicht um.
An diesem Abend spielte, von Darkwhisper Manor nur ein paar Meilen die Straße runter, eine junge Familie entzückt mit dem neuen Kätzchen, das am Nachmittag plötzlich vor ihrer Tür gesessen hatte. Ernest sah ihnen im Geiste dabei zu, ein neuer Trick, den er erst kürzlich gelernt hatte, und die Erleichterung darüber, dass das Kätzchen fröhlich hinter einem Wollknäuel herjagte, lenkte ihn von den bösen Blicken ab, die ihm sein Bruder über den Esstisch hinweg zuwarf.
»Ernest!« Die schneidende Stimme seiner Mutter holte ihn ins Esszimmer zurück.
»Entschuldige, Mutter«, sagte Ernest.
»Ich habe gesagt, ihr sollt den Tisch abräumen, dann nach oben gehen und euch fürs Bett fertig machen. In einer halben Stunde komme ich hoch und erzähle euch eure Gutenachtgeschichte.«
»Ja, Mutter«, sagte Ernest folgsam und stand auf.
Nachdem die Teller gespült und die Zähne geputzt waren, zog Ernest seinen Schlafanzug an und schlüpfte ins Bett. Er drehte sich zu Mortimer hinüber, der in dem Bett daneben bereits unter der Decke lag.
»Es tut mir leid, Mort«, sagte er, »ich wollte dem Kätzchen nur nicht wehtun.« Seine Wut vom Nachmittag war vergessen.
»Tu das nie wieder, Ernest. Wir müssen zusammenarbeiten.«
»Ich weiß.«
»Vielleicht bist du ja doch nicht so ein Schwächling, wie ich dachte«, sagte Mortimer.
Ernest lächelte in sich hinein, denn er wusste, dass er aus dem Mund seines Bruders nie Worte hören würde, die einer Entschuldigung näher kamen als diese. Er drehte sich auf den Rücken, zog die Decke bis zum Kinn und wartete, bis die vertrauten Schritte seiner Mutter nahten.
Die Jungen drehten sich um, als ihre Silhouette in der Tür erschien. Sie schritt langsam zu dem alten, cremefarbenen Ledersessel, der zwischen ihren Betten stand, und strich sorgfältig ihr Kleid glatt, bevor sie sich setzte.
»Wie ich höre«, sagte sie mit leiser, aber völlig gefühlloser Stimme, »gab es heute einen gewissen Widerstand gegen unsere Arbeit.«
Ernest schielte erschrocken zu seinem Bruder. Mortimer erwiderte seinen Blick und zuckte selbstgefällig mit den Schultern.
»Ernest«, sagte Dulcia, stur geradeaus blickend, »ich mache mir Sorgen.«
Eine Pause trat ein, die Ernest nicht unterbrechen wollte, denn er wusste, dass er damit alles nur noch schlimmer machen würde, ganz gleich, was er sagte.
»Vor sieben Jahren habe ich beschlossen, euch beide aus dem Waisenhaus zu holen und zu mir zu nehmen, und hat es euch seitdem jemals an etwas gefehlt?«
»Nein, Mutter«, antworteten die Jungen im Chor.
»Habe ich euch nicht wie mein eigen Fleisch und Blut behandelt?«
»Ja, Mutter.«
»Und jetzt bitte ich euch um einen einfachen Gefallen, nämlich dass ihr mir zum Dank für meine Gewogenheit ein Jahr eures Lebens opfert. Dafür werdet ihr ein bequemes Leben im Wohlstand führen und eines Tages dies alles«, sie machte eine ausladende Handbewegung, »euer Eigen nennen. Sag mir, Ernest, ist das zu viel von euch verlangt?«
Ernest schüttelte den Kopf.
»Willst du ins Waisenhaus zurück? Ohne deinen Bruder? Ich musste sehr lange auf Zwillinge warten, die zur Adoption freigegeben wurden, denn ich wollte zwei Kinder, die ich gleichzeitig in der GABE unterweisen konnte. Aber wenn du dich der Aufgabe nicht gewachsen fühlst, wird es dein Bruder auch ohne dich schaffen, davon bin ich überzeugt.«
Ernest traten Tränen in die Augen. Er wischte sie mit dem Handrücken weg.
»Nein, Mutter. Bitte, schick mich nicht zurück. Ich werde brav sein.«
Dulcia nickte zufrieden.
»Die Sache mit dem Kätzchen mag dir harmlos vorgekommen sein, aber das, worum ich euch bitte, verlangt entschlossenes Handeln, denn es geht dabei um weit mehr als darum, einem Kätzchen ein paar Schrammen zuzufügen. Wenn du nicht einmal diese einfache Aufgabe bewältigst, wie kann ich dann darauf vertrauen, dass du einem Menschen in die Augen siehst und ihn für immer zerstörst?«
Ernest setzte sich auf.
»Aber das ist doch etwas anderes, Mutter. Diese Leute haben dir wehgetan. Das sind böse Menschen.«
Dulcia zeigte ein seltenes Lächeln.
»Nun, das ist wahr. Trotzdem, du musst Willensstärke beweisen. Du musst tun, was dein Bruder dir sagt, denn wir wissen nicht, was geschehen wird, und es wird nicht immer so leicht sein wie bei Cecil Humphries. Die GABE deines Bruders ist stärker als deine, deshalb musst du ihm vertrauen. Vertraust du ihm?«
»Ja.«
»Gut. Leg dich wieder hin. Ich möchte, dass ihr mir jetzt aufmerksam zuhört. Seit sieben Jahren erzähle ich euch jeden Abend meine Erlebnisse, und ich habe darauf vertraut, dass ihr die Ängste und die Leiden nachempfinden könnt, die ich durchgemacht habe, als ich zwölf Jahre alt war und noch Anna Willows hieß. Doch ich weiß: Um ganz zu verstehen, was mir widerfahren ist, müsst ihr die Nacht durchleben, in der mich die Verräter im Stich gelassen haben. Nur dann könnt ihr wirklich nachvollziehen, warum ich will, dass sie leiden. Versteht ihr das?«
Die Jungen sahen einander an, und ermutigt durch den verwirrten Gesichtsausdruck des jeweils anderen, schüttelten beide den Kopf.
»Heute Abend werde ich euch beiden erlauben, euch mit Hilfe eurer GABE selbst ein Bild davon zu machen, was in jener Nacht geschehen ist.«
Die fragenden Mienen der beiden verrieten, dass sie nur Bahnhof verstanden.
»Ich werde euch meine Gedanken lesen lassen.«
»Oh«, stieß Ernest überrascht hervor.
»Aber es gibt gewisse Regeln, und ich erwarte von euch, dass ihr sie einhaltet, sonst wird das ernste Konsequenzen für euch haben. Verstanden?«
Ernest und Mortimer nickten feierlich.
»Ich werde mir die Ereignisse vor Augen führen, die ihr miterleben sollt. Wenn ihr meine momentanen Gedanken lesen wollt, wo müsst ihr dann hin, um Zugang zu ihnen zu erhalten?« Sie sah Mortimer an.
»In die Rezeption, den ersten Raum, in den man gelangt, wenn man in die Gedanken eines anderen eindringt. Dort sind die gegenwärtigen Gedanken gespeichert.«
»Gut. Das heißt, ihr dürft nicht weiter als bis dahin gehen. Denkt daran: Wie weit ihr vordringt, merke ich daran, wie laut es in meinen Ohren klingelt. Solltet ihr versuchen, über die Rezeption hinauszugehen, werde ich das merken. Wir brechen dann sofort ab und ihr bekommt eine Strafe. Habt ihr verstanden?«
Wieder ein feierliches Nicken.
»Gut, dann könnt ihr jetzt anfangen.«
Die beiden setzten sich auf und wandten sich ihrer Mutter zu. Ernest konzentrierte sich auf ihre ruhigen, schwarzen Augen und spürte, wie er in ihre Gedanken hineingezogen wurde. Schließlich stand er in einem großen Raum, der erfüllt war von einem einzigen dunklen Bild, das ihn langsam umhüllte, als er zurückreiste bis zu der Erinnerung an eine Nacht vor dreißig Jahren – eine Erinnerung, die damit begann, dass seine Mutter als zwölfjähriges Mädchen mit mehreren anderen Kindern hinten in einem Van saß.
Das Letzte, was Ernest und Mortimer sahen, bevor ihre Mutter den Befehl zum Aufhören gab, war, wie Anna Willows in einem kalten grauen Keller, der in den folgenden sechs Jahren ihr Zimmer sein sollte, in einen Spiegel schaute, mit ihren leuchtend smaragdgrünen Augen Tränen vergoss und nach ihren Eltern rief.
Obwohl die Jungen die Geschichte von der Entführung ihrer Mutter seit vielen Jahren jeden Abend hörten, hatten die Unmittelbarkeit des Geschehens und die Angst im Gesicht des Mädchens sie beide erschüttert.
»Aber warum haben sie dich zurückgelassen?«, fragte Mortimer hinterher.
»Weil ihr eigenes Leben in ihren Augen mehr wert war als meines, und dafür sollen sie alle büßen. Versteht ihr?«
»Ja, Mutter«, antworteten die Jungen gleichzeitig.
»Du … du siehst heutzutage so anders aus als damals«, sagte Ernest und betrachtete seine Mutter. Sie erwiderte den Blick ihres Adoptivsohns und ihr Gesicht zeigte eine tiefe Traurigkeit, die den stechenden Ausdruck ihrer schwarzen Augen milderte.
»Von dem Tag an, an dem sie mich diesen grausamen und habgierigen Leuten überließen, für die ich dann arbeiten musste, konnte ich nicht mehr Anna Willows sein. An meinem einundzwanzigsten Geburtstag habe ich sie getötet und dies alles wurde mein. Doch ich würde alles Geld dieser Welt dafür geben, wenn ich nur für einen Tag wieder Anna Willows sein könnte.«
»Aber eins verstehe ich nicht«, sagte Ernest verwirrt. »Wieso sind deine Augen jetzt schwarz – bist das da eben wirklich du gewesen?«
»Wenn mein Plan gelingen soll«, antwortete Dulcia, »darf niemand wissen, wer ich wirklich bin. Die Zeit verändert viel am Aussehen eines Menschen, aber seine Augen verändert sie nicht – deshalb verberge ich sie.« Sie fasste sich an die Augen, zog die Lider auseinander und nahm die Kontaktlinsen heraus.
Den Jungen stockte der Atem, als Dulcia sie ansah, mit denselben smaragdgrünen Augen, die sie vorhin im Geist gesehen hatten, und mit einer Traurigkeit, die Ernest nie zuvor an ihr wahrgenommen hatte.
»Ich habe meine Rache viele Jahre lang sorgfältig geplant und gewartet, bis ihr beide zwölf geworden seid. Jetzt endlich fügt sich alles für meinen Plan zusammen. Ihr, meine Söhne, seid der Schlüssel zu meiner Rache, und nun endlich werden sie leiden, wie ich gelitten habe. Darum möchte ich nicht, dass sie sterben – ich möchte, dass sie den Rest ihres Lebens leiden, so wie ich leiden musste. Jetzt wisst ihr alles, und ich hoffe, Ernest, du verstehst nun, warum ich euch beide so sehr brauche.«
»Ja, Mutter.«
»Gut. Cecil Humphries weiß jetzt, was es heißt, in Angst zu leben, so wie ich es musste, und nun kommen die anderen an die Reihe. Und je mehr du ihnen wehtust, desto stolzer werde ich auf dich sein. Dein Bruder hat seine Sache gut gemacht. Lerne von ihm. Verstehst du, wie er seine GABE dazu genutzt hat, Humphries an Leib und Seele Schmerzen zu bereiten? Es war mehr, als ich von ihm verlangt habe. Es war … perfekt. Und du weißt, dass ich dieses Wort nicht oft verwende.«
Mortimers Brust blähte sich vor Stolz.
»Ich möchte es wieder tun«, sagte er. »Wann werden wir INFERNO gegen die anderen einsetzen?«
»Bald, mein Sohn, sehr bald. Morgen beginnen wir mit den Vorbereitungen für Richard Baxter. In ein paar Monaten wird jeder dieser Verräter aus Myers Holt den Tag bereuen, an dem er Anna Willows im Stich gelassen hat.«