Dienstag, 20. November

Chris setzte sich mit seinem Tablett an einen freien Tisch und griff zu seinem Besteck.

»Ist der Platz noch frei?«

Chris ignorierte die vertraute Stimme Kevin Blunts und begann zu essen.

»Ich habe gefragt, ob der Platz noch frei ist!«

Chris blickte stur auf seinen Teller, ohne zu antworten. Er nahm noch einen Bissen, doch im nächsten Moment erhielt er einen Schlag gegen den Rücken, wurde nach vorn geworfen und spuckte vor Schreck alles wieder aus.

Hinter ihm lachten Kevin und seine Clique. Er wischte sich langsam mit dem Handrücken den Mund ab, hob die Gabel auf, die ihm auf den Tisch gefallen war, und aß weiter.

»Taubstumm«, hörte er Kevin sagen. Chris spürte, wie er sich neben ihn setzte, und wie auf Kommando nahmen auch die vier anderen Jungen, die bei ihm waren, Platz.

»So, Chrissie«, fuhr Kevin fort, der genau wusste, dass Chris diesen Spitznamen nicht ausstehen konnte, »wenn du taubstumm bist, bedeutet das, dass wir alles sagen können, ohne dass du ein Wort verstehst.«

»Genau.« Arch imitierte die tiefe Stimme eines erwachsenen Mannes. »Wie zum Beispiel, dass er ein Idiot und ein Habenichts ist.« Christopher schielte kurz zu ihm hinüber und sah, wie er sich ein ganzes Stück Pizza auf einmal in seinen überdimensionalen Mund stopfte. Tomatensoße lief ihm übers Kinn, aber er machte sich nicht die Mühe, sie abzuwischen.

»Er ist so ein armer Schlucker, dass Bettler ihm Geld geben«, sagte einer der Jungs. Alle lachten bis auf Arch, der einen Moment brauchte, ehe er kapierte, und dann in lautes Gewieher ausbrach und den Rest Pizza, den er noch im Mund hatte, auf seinen Teller spuckte. Er nahm das halb zerkaute Stück und stopfte es sich wieder in den Mund.

»Warum lachst du nicht, Chrissie? Findest du das nicht lustig?«, fragte Kevin und am Tisch wurde es still.

Chris nahm noch einen Bissen und kaute schweigend.

»Wohl zu sehr mit Essen beschäftigt«, meinte Kevin achselzuckend, und eine Sekunde lang dachte Chris, er würde es dabei bewenden lassen, aber offensichtlich fing er gerade erst an.

»Die einzige Mahlzeit, die er den ganzen Tag bekommt«, fuhr Kevin fort und die anderen kicherten.

»Ja, seine Mum ist heute Abend wahrscheinlich zu sehr mit Betteln beschäftigt, um ihm etwas zu essen zu machen.«

Chris zuckte nur leicht zusammen, aber doch genug, dass Kevin es bemerkte.

»Ach, es gefällt dir wohl nicht, dass wir über deine Mum reden? Warum? Lebt deine Mum in der Gosse, oder was?«, fragte er mit einem breiten Grinsen.

Chris legte die Gabel weg und sah ihn an.

»Sag noch ein Wort über meine Mutter und …«

»Und was?«, fragte Kevin.

»Und es wird dir leidtun.«

»Leidtun?«, wiederholte Kevin und stand auf. Chris stand ebenfalls auf und sah ihm gerade ins Gesicht.

»Du willst dafür sorgen, dass es mir leidtut? Wenn ich mich recht erinnere, warst du es, der letzte Woche in der Toilette auf dem Boden gelegen hat. Du warst es, der nach ein paar Schlägen zu Boden gegangen ist. Leidtun? Dass ich nicht lache.« Kevin beugte sich so weit vor, dass nur noch Zentimeter ihre Gesichter trennten.

Chris blieb regungslos stehen, die Augen fest auf Kevin gerichtet.

»Ich habe nur noch eins zu sagen«, flüsterte Kevin. »Deine Mum ist eine Diebin und eine Bettlerin, und dein Dad wollte nicht mehr weiterleben, weil er euch so gehasst hat.«

»Aaahhh!«, brach es aus Chris heraus. Er holte mit der rechten Faust aus und schlug zu, doch bevor er Kevin treffen konnte, taumelte der plötzlich nach hinten.

Kevins Augen weiteten sich vor Schreck, als sein Körper in die Luft gehoben wurde. Er fiel nicht, er flog förmlich nach hinten, als wäre er eine Papierkugel, die Chris durch den Raum geworfen hatte. Die Jungen um ihn herum und die übrigen Schüler und Lehrer im Raum sahen zu, wie er im hohen Bogen auf die Schlange der Wartenden an der Essensausgabe zusauste und dann auf die Theke krachte, sodass Tabletts, Speisen, Gläser und Schüler nach allen Seiten auseinanderflogen. Fassungslose Stille kehrte ein, als jeder zu begreifen versuchte, was soeben geschehen war.

»Helft mir …«, wimmerte es von der Theke herüber, wo Kevin in einer Wanne mit Vanillesoße lag, ein paar durchweichte Salatblätter auf dem Kopf. Alle fingen an zu lachen. Chris blickte in die Runde. Kevins Kumpels starrten ihn aus angsterfüllten Augen an, die Münder weit offen vor Schreck. Chris wollte ihnen erklären, dass er Kevin gar nicht berührt hatte, aber bevor er dazu kam, kehrten sie ihm den Rücken zu und rannten davon. Er blickte auf seine Hände und fragte sich, was um alles in der Welt gerade passiert war.

Chris saß ruhig auf seinem Platz neben Mrs Tanner und beobachtete Mr Tuckdown, der im Zimmer auf und ab ging. Seit nunmehr einer Stunde war er hier im Rektorat und lauschte den Auslassungen Mr Tuckdowns, dessen anfängliche Entrüstung der Freude gewichen war, als ihm dämmerte, dass er den Vorfall zum Anlass nehmen konnte, eine längere Suspendierung auszusprechen.

»Einen Monat mindestens, finden Sie nicht auch, Mrs Tanner?«

»Ein Monat ist das allermindeste, Mr Tuckdown«, antwortete Mrs Tanner. »Wie wäre es mit zwei? Vergessen wir nicht den seelischen Schock, den er dem armen Kevin zugefügt hat.«

»Ganz recht, zwei wären vielleicht besser. Immerhin könnte es uns den Rugby-Pokal kosten, wenn Kevin noch zu angeschlagen ist, um an dem Turnier nächste Woche teilzunehmen.«

Chris verdrehte die Augen, sagte aber nichts.

Mrs Tanner und Mr Tuckdown hatten bei einer Woche angefangen und in der letzten Stunde immer neue Gründe für eine Verlängerung der Suspendierung gefunden. Langsam verlor Chris die Geduld.

»Warum verweisen Sie mich nicht einfach von der Schule?«, fragte er schließlich.

Der Direktor blieb wie angewurzelt stehen und sah ihn an.

»Warum wir dich nicht von der Schule verweisen? Am fehlenden Willen unsererseits liegt es jedenfalls nicht, das kann ich dir versichern. So etwas ist heutzutage nicht so einfach«, sagte er beinahe traurig und nahm mit einem Seufzer seine Wanderung durchs Zimmer wieder auf. Chris machte sich auf die nächste Gardinenpredigt gefasst.

»Du bist ein unsagbar dummer Junge, Christopher. Ein verkommener Taugenichts, ein Nichtsnutz, der lügt und stiehlt und sich prügelt. Ein hinterhältiger kleiner Dieb, der mich in meinen Teepausen stört. Ein Mann kann ohne seine Teepausen nicht arbeiten, verstehst du?«

»Er hat Sachen über meinen Dad gesagt!«, brüllte Chris zurück, der nach den heutigen Vorfällen seine sonstige Selbstbeherrschung verloren hatte.

Mr Tuckdown holte tief Luft und hielt sie an, bis er rot anlief, und dann explodierte er.

»Wie kannst du es wagen, mich anzubrüllen? Es ist nicht mein Problem, dass dein Dad in einem Krieg gefallen ist, an den wir uns heute kaum noch erinnern. Es ist nicht mein Problem, dass deine Mutter sich gehen lässt. Es ist nicht mein Problem, dass du die Späße deiner Klassenkameraden nicht verträgst, und trotzdem, trotzdem machst du das alles zu meinem Problem. Ach, zum Teufel mit den Vorschriften!«, sagte er zu Mrs Tanner. »Wir behaupten einfach, er hätte einen Lehrer tätlich angegriffen.« Er sah Chris an.

»Christopher Lane … ich verweise dich hiermit von der Schule!«, brüllte er und knallte die flache Hand auf den Tisch. Durch die Wucht des Schlages geriet der Tisch ins Wackeln und der mittlerweile erkaltete Tee in seiner Tasse schwappte über und ergoss sich auf den Tisch und in den Teller mit den Keksen.

»Bravo!«, rief Mrs Tanner verzückt und klatschte vor Freude in ihre knochigen, runzligen Hände.

Der Direktor lächelte und nahm einen feuchten Keks vom Tisch.

Es klopfte an die Tür und er hielt mitten im Abbeißen inne.

»Ja?«

»Verzeihen Sie bitte, Mr Tuckdown, aber Sir Bentley und Miss Sonata von Myers Holt wünschen Sie zu sprechen. Sie warten schon eine ganze Weile und«, Margaret senkte theatralisch die Stimme, »ich glaube, sie können alles verstehen, was Sie sagen.«

»Ah ja … äh … also … tja … hmmm. Am besten, Sie führen sie herein.« Er wandte sich an Chris. »Raus mit dir, Christopher, und lass dich nie wieder hier blicken.«

Chris ließ sich nicht zweimal bitten. Er stand auf und schlappte – die Schulter hochgezogen, den Kopf gesenkt – zur Tür.

»Christopher!«

Er schaute auf. Vor ihm stand Miss Sonata und neben ihr ein älterer Herr im Anzug.

»Hi, Miss Sonata«, grüßte er errötend und fragte sich, wie viel sie wohl von dem Gespräch mitbekommen hatte.

»Mr Tuckdown«, sagte sie, »der Junge kann ruhig bleiben – wir werden Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und zog ihn ins Zimmer zurück.

Chris wollte protestieren, aber Miss Sonata und der Mann waren bereits an ihm vorbeigegangen. Er überlegte, ob er trotzdem einfach verschwinden sollte, beschloss dann aber, vor Miss Sonata keine Szene zu machen. Er linste zu Mr Tuckdown hinüber. Der Direktor warf ihm einen finsteren Blick zu, ehe er sich seinen Besuchern zuwandte und ein breites Lächeln aufsetzte.

»Sir Bentley, Miss Sonata, wie schön, Sie zu sehen«, flötete er und streckte ihnen die Hand entgegen.

Sir Bentley schüttelte sie mit kühlem Blick und Miss Sonata folgte seinem Beispiel.

»Aber bitte nehmen Sie doch Platz«, sagte Mr Tuckdown und deutete auf die beiden leeren Stühle neben Mrs Tanner. »Ein Keks gefällig?«, fragte er und hielt ihnen den Teller mit den Keksen hin, die in kaltem Tee schwammen.

Sir Bentley und Miss Sonata schüttelten den Kopf.

»Mr Tuckdown«, begann Sir Bentley, »wir möchten gleich zur Sache kommen.«

»Aber selbstverständlich.« Der Direktor sank in seinen Sessel. »Ich nehme an, Sie haben erfreuliche Neuigkeiten?«

»Nun ja, wir denken schon«, antwortete Sir Bentley ausdruckslos. »Es wird Sie freuen zu hören, dass ein Schüler Ihrer Schule dieses Jahr für einen Wechsel an die Myers Holt Academy ausgewählt worden ist.«

»Großartig!«, rief Mr Tuckdown und rieb sich gierig die Hände. »Wir hätten es nicht zu hoffen gewagt, doch ich muss gestehen, ich habe schon mal Gedanken darüber angestellt, wie wir den großzügigen Geldpreis für die Schule verwenden könnten. Ich leide furchtbar unter dem widerwärtigen Mensaessen, daher wird von dem Geld ein Speisezimmer für das Kollegium eingerichtet, mit einem eigenen Koch.« Er spähte zu Chris hinüber. »Der restliche Betrag wird in die Renovierung meines Büros fließen. Schließlich ist es der wichtigste Raum der Schule.«

»Aha, aber wollen Sie denn gar nicht wissen, welchen Schüler wir ausgewählt haben?«

»Aber natürlich«, erwiderte Mr Tuckdown zerstreut, in Gedanken ganz mit der Frage beschäftigt, wo seine neue Chaiselongue am besten zur Geltung kommen würde. Er entschied sich für den Platz bei den hinteren Bücherregalen, ehe er sich wieder seinen beiden Besuchern zuwandte. »Und, wer ist es? Emma Becksdale? Anthea Sylvester? Lucas Longley? Lucas ist es, habe ich recht?«, fragte er begierig.

»Nein«, antwortete Miss Sonata. »Der Schüler, den die Myers Holt Academy aufnimmt, ist Christopher Lane.«

Im Raum wurde es still und alle Augen blickten zu Chris, der an der Wand stand und offensichtlich ebenso fassungslos war wie sein Direktor und seine Klassenlehrerin.

»Meinen Glückwunsch, Christopher«, sagte Sir Bentley und lächelte.

Chris machte den Mund auf, brachte aber kein Wort heraus.

»Aber …«, stieß Mr Tuckdown hervor, dem Schweißperlen auf die Stirn traten, »… da muss ein Irrtum vorliegen. Dieser Junge ist …«

»Dumm?«, fiel ihm Sir Bentley ins Wort. »Ein Taugenichts? Ein Nichtsnutz? Es dürfte Sie überraschen, dass Christophers Testergebnisse herausragend waren.«

»Herausragend?«, wiederholte Mr Tuckdown. »Wenn dieser Junge auf einem Gebiet herausragend ist, dann im Betrügen. Vielleicht sollten Sie noch mal nachprüfen, ob …«

»Ähem«, hüstelte Mrs Tanner. »Mr Tuckdown, wir sollten nicht vergessen, welche Vorteile damit verbunden sind, dass Christopher ausgewählt worden ist.«

»Vorteile? Ach so … Vorteile.« Mr Tuckdown fielen plötzlich wieder die Chaiselongue und der Koch ein. Er überlegte kurz und fasste einen Entschluss. »Na schön, einverstanden! Nehmen Sie den Dummkopf ruhig mit. Er ist hier ohnehin unerwünscht.« Er angelte sich noch einen matschigen Keks.

»Gut … aber da wir schon dabei sind«, sagte Sir Bentley und erhob sich. Der Direktor sah ihn argwöhnisch an und führte einen Keks zum Mund.

»Wir sind unfreiwillig Zeugen des Gesprächs geworden, das Sie vorhin mit Christopher geführt haben und das damit geendet hat, dass Sie ihn in aller Deutlichkeit von der Schule verwiesen haben. Da er also nicht mehr Schüler dieser Schule ist, hat die Black Marsh bedauerlicherweise keinen Anspruch mehr auf den Preis.«

Mr Tuckdown erstarrte, den Keks auf halbem Weg zum offenen Mund. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, und dann fuhr er so jäh in die Höhe, dass der Sessel hinter ihm umkippte.

»A… a… aber …«, stammelte er, doch Sir Bentley schenkte ihm keine Beachtung.

»Christopher, würde es dir etwas ausmachen, uns hinauszubegleiten? Guten Tag, Mr Tuckdown«, sagte er, ohne den Direktor, der auf den Schreibtisch gestützt dastand und verzweifelt nach Luft schnappte, eines Blickes zu würdigen.

Chris blickte zu Miss Sonata, die ihn lächelnd zu sich winkte. Grinsend wandte er sich an Mr Tuckdown und Mrs Tanner.

»Auch von mir einen guten Tag allerseits!«, sagte er und verließ dieses Büro zum letzten Mal.