Am nächsten Morgen

Als Chris erwachte, zwitscherten Vögel und ein warmes Licht schien auf sein Gesicht. Er schlug die Augen auf und erblickte über sich einen klaren blauen Himmel.

»Was …?« Verwirrt setzte er sich auf, dann fiel ihm wieder ein, wo er war. Erstaunt schaute er sich um. Die Landschaft war jetzt in Morgenlicht getaucht. Tau glitzerte auf den Wiesen und die Bäume in der Ferne wiegten sich sanft im Wind, dessen Säuseln er ringsum hören konnte. Er beugte sich zur Wand hinüber und betastete sie. Sie war kalt und glatt wie Glas, und er begriff, dass er einen Bildschirm betrachtete.

Es klopfte an der Tür.

»Darf ich reinkommen?«, rief eine vertraute Stimme.

»Ja«, antwortete er.

Die Tür ging auf und Maura trat ein. Sie kam ans Bett und reichte ihm einen Becher.

»Ich weiß, es ist noch früh, aber du solltest das trinken und dann kurz unter die Dusche springen. Wir sehen uns im Kartenraum. Oben wartet ein Wagen auf dich.«

»Ein Wagen?«

»Miss Sonata hat veranlasst, dass du dir neue Sachen zum Anziehen kaufen kannst. Alles ist bereit. Frühstücken kannst du, wenn ihr dort seid.«

Chris zögerte.

»Was hast du, mein Junge?«

»Es ist nur so … ich habe kein Geld, um mir etwas zum Anziehen zu kaufen.«

Maura lächelte. »Mach dir darüber keine Sorgen. Ich weiß von Miss Sonata, dass du etwas überstürzt von zu Hause fort bist.«

Chris errötete und fragte sich, wie viel Maura wohl wusste.

»Deswegen musst du dich doch nicht schämen, mein Junge«, sagte diese sanft. »Jeder braucht mal Hilfe. Miss Sonata hat sich um alles gekümmert. Freu dich einfach.«

»Wirklich? Ich könnte es zurückzahlen, wenn …«

»Sei nicht albern«, unterbrach ihn Maura. »Du brauchst nichts zurückzuzahlen. Jeder heranwachsende Junge braucht ab und zu neue Sachen, also hör auf, dir einen Kopf zu machen, und trink deinen Tee.«

Chris nickte dankbar und nippte an dem heißen Becher.

»Wir sehen uns in zehn Minuten im Kartenraum«, sagte Maura und ging hinaus.

Chris nahm noch einen Schluck, dann stellte er den Becher auf das Regal neben dem Bett und stieg die Leiter hinunter. Beim Duschen sah er den Quallen zu, die im Aquarium gemächlich ihre Runden drehten. Anschließend schlüpfte er in die Kleider, in denen er gekommen war.

Maura erwartete ihn im Kartenraum und zusammen fuhren sie mit dem Küchenlift nach oben ins Erdgeschoss. Diesmal durfte er den Kessel zu seiner großen Freude selbst aktivieren.

Draußen war es noch dunkel. Ron stand am Fuß der Treppe neben dem wartenden Wagen. John hatte sich bereits hinters Lenkrad gequetscht und war startklar.

»Viel Spaß«, sagte Maura zu Chris, als Ron die Tür öffnete und ihn hineinscheuchte, »bis später.«

»Danke«, sagte Chris, während Ron die Tür hinter ihm schloss.

»Morgen«, grüßte John und ließ den Motor an.

Chris lächelte. »Hi«, erwiderte er und schnallte sich an.

»Fahren wir«, sagte Ron. »Zu Cleaver & Hawkes.«

»Das Kaufhaus?«, erkundigte sich John.

»Cleaver & Hawkes?«, fragte Chris. Er hatte erwartet, dass sie in irgendeinen billigeren Kleiderladen fahren würden, um eine Jeans und ein paar T-Shirts zu kaufen, und nicht in das teuerste Londoner Kaufhaus.

»Richtig«, sagte Ron.

Chris erwiderte nichts – er dachte an seinen letzten Besuch bei Cleaver & Hawkes an einem kalten Dezembertag, als er vier Jahre alt war. Sein Vater hatte Urlaub von der Armee und war mit ihm und seiner Mutter dorthin gegangen, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen und sich ein wenig umzusehen. Er erinnerte sich noch gut daran – an die Weihnachtssänger, die im Gedränge die Kunden begrüßten, an den riesigen Christbaum in der Marmorhalle und an die lächelnden Gesichter seiner Eltern, als sie ihm dabei zusahen, wie er mit großen Augen in der Spielzeugabteilung umherlief. Es war eine der wenigen klaren Erinnerungen, die er von seinen beiden Eltern zusammen hatte.

»So, du willst also ein paar Besorgungen machen?«, fragte Ron und riss Chris aus seinen Gedanken.

»Äh … ja«, antwortete er.

»Nur Besorgungen, sonst nichts?«

»Äh … nein. Nur Besorgungen.«

»Du kannst uns vertrauen, Christopher«, sagte Ron mit leicht säuerlicher Stimme, wie Chris fand. »Wir müssen auf dem Laufenden gehalten werden, wenn wir dich beschützen sollen. Also, noch mal von vorn: Willst du wirklich nur ein paar Besorgungen machen, Christopher?«

Chris wusste nicht, was für eine Antwort Ron erwartete. »Ja. Ich bekomme ein paar neue Sachen zum Anziehen.«

»Schön«, sagte Ron und blickte durch seine Sonnenbrille nach vorn auf die Straße. »Also nur eine kurze Einkaufstour, um ein paar Designergürtel und Eau de Cologne zu besorgen?«

»Wohl eher nicht«, antwortete Chris verwirrt. »Wahrscheinlich nur ein paar Hosen und Shirts.«

Im Nu hatte sich Ron losgeschnallt, wirbelte im Sitz herum und sah Chris an. »Was hast du wirklich vor?«, brüllte er.

John blickte überrascht zu ihm hinüber und packte ihn am Arm.

»Um Himmels willen«, herrschte er ihn im Fahren an, »beruhige dich.«

Ron schnallte sich wieder an und atmete schwer. »Ich weiß, ich weiß«, sagte er und holte ein paarmal tief Luft, »aber er sagt uns nicht die Wahrheit, und du weißt, dass ich Geheimniskrämerei nicht ausstehen kann, John.«

John antwortete nicht. Stattdessen warf er einen Blick in den Außenspiegel, fuhr an die Seite, hielt an und zog die Handbremse.

Dann wandte er sich Ron zu, während Chris vom Rücksitz aus eingeschüchtert zusah.

»Hör mal, Ron, du musst dich beruhigen. Der Junge braucht dir nicht alles zu erzählen. Wenn er sagt, dass er ein paar Socken braucht, dann fahren wir ihn hin, damit er sie kaufen kann, denn dafür werden wir bezahlt.«

Ron zuckte mit den Schultern, drehte den Kopf weg und blickte aus dem Seitenfenster. Chris rutschte tief in seinen Sitz. Am liebsten hätte er sich in Luft aufgelöst.

»Es ist nur so …«, sagte Ron nach einer Weile, »… irgendwas stimmt da nicht, John. Zwölf Jahre bei den Spezialeinsatzkräften – Leibwächter der Queen, zum Donnerwetter! –, und jetzt begraben sie uns bei lebendigem Leib in einem Keller, damit wir auf einen Haufen Kids aufpassen – kommt dir das nicht komisch vor, John?«

John dachte einen Moment lang darüber nach, bevor er antwortete:

»Da ist schon was dran, Ron, das bestreite ich nicht, aber wir haben zu tun, was uns gesagt wird.« Damit lenkte er den Wagen zurück auf die Straße und sie setzten schweigend die Fahrt fort.

»Wir warten hier auf dich«, sagte John, als sie vor dem Kaufhaus Cleaver & Hawkes hielten.

»Danke«, sagte Chris mit leiser Stimme, froh, dass er aussteigen konnte.

Er trat hinaus auf die Regent Street und schaute sich um. Der Tag graute bereits, aber die Straßenlampen brannten noch und die Gehwege waren fast leer. Er blickte zu der Uhr über dem Eingang. Es war erst halb acht. Er ging zu der Tür. Drinnen brannte schon Licht, aber das Schild an der Tür verriet, dass noch geschlossen war. Er wollte gerade zum Wagen zurückkehren und John sagen, dass sie zu früh dran seien, als er eine Dame in der unverwechselbaren marineblauen und goldenen Einheitskleidung von Cleaver & Hawkes herannahen sah. Sie lächelte und schloss die Tür auf.

»Christopher Lane?«, fragte sie und Chris nickte überrascht.

»Ich heiße Victoria. Willkommen bei Cleaver & Hawkes. Bitte komm rein.«

Chris folgte der Aufforderung und sah sich in dem großen Verkaufsraum um. Überall wuselten Verkäufer und Verkäuferinnen herum, die letzte Vorbereitungen vor der Öffnung trafen.

»Folge mir. VIP-Shopping ist oben im fünften Stock.«

Victoria führte Chris in den Aufzugvorraum und drückte auf die Ruftaste.

»Warst du schon einmal bei Cleaver & Hawkes?«, fragte Victoria, während sie auf den Aufzug warteten.

»Äh … einmal«, antwortete Chris, ohne näher darauf einzugehen, und Victoria fragte nicht nach.

Sie traten in den Lift und Chris erblickte sich im Spiegel. Er sah müde und verlottert aus, obwohl er geduscht hatte, und mit einem Mal kam er sich hier völlig fehl am Platz vor.

Victoria bemerkte, dass er sich ansah, und lächelte aufmunternd.

»Es wird dir gefallen«, sagte sie, »das verspreche ich dir.«

Chris lächelte verlegen zurück.

Die Tür ging auf, und sie traten in einen dunklen Vorraum, den beleuchtete Vitrinen umsäumten, in denen teure Uhren, Krawatten und Gürtel lagen. In der Mitte stand eine große Blumenvase auf einem Podest und auf der Seite ein gläserner Couchtisch mit zwei Sesseln dahinter.

»Nimm Platz, Christopher, die Ankleidekabine wird gleich fertig sein.«

Chris setzte sich und schaute Victoria nach, die eilig den Gang hinunterging. Er sah sich die Zeitschriften an, die fächerförmig vor ihm ausgebreitet lagen, und nahm sich eine, auf deren Titelseite ein Auto abgebildet war.

Er hatte sie kaum aufgeschlagen, als von vorn Schritte nahten. Ein Mann mit zurückgegeltem Haar und mürrischem Gesicht kam in seine Richtung. Als er Chris erblickte, blieb er abrupt stehen. Chris rutschte unbehaglich in dem Sessel herum, während der Mann ihn von oben bis unten musterte und entsetzt zusammenzuckte, als er seine ausgelatschten Schuhe sah.

»Junger Mann«, fragte er mit hochnäsiger Stimme, »weißt du, wo du hier bist?«

Chris öffnete den Mund, um zu antworteten, aber der Mann ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Du hast hier nichts verloren«, sagte er. »Dieser Bereich ist nur für unsere VIP-Kunden. Also scher dich raus, bevor dich jemand sieht. Wir haben einen Ruf zu verlieren.« Er riss Chris die Zeitschrift aus der Hand und wischte mit dem Zipfel seines Cleaver-&-Hawkes-Jacketts die Umschlagseite ab.

»Ich …«, sagte Chris.

»Nun mach schon. Verschwinde, bevor ich hier alles desinfizieren muss.«

»Ah, Julian, hier sind Sie!«

Es war Victoria.

»Wie ich sehe, haben Sie sich mit Christopher schon bekannt gemacht. Christopher kauft auf Rechnung der Millbank ein.«

Julians Augen weiteten sich vor Entsetzen.

»Der Millbank?«, wiederholte er.

»Ja«, sagte Victoria. »Er ist ein persönlicher Gast Sir Bentleys.« Bei dem Namen hob sie die Augenbrauen, als wollte sie seine Bedeutung unterstreichen.

Chris sah zu, wie Julian sich wand und krümmte, während er die Neuigkeit verdaute.

»Ja, natürlich«, sagte Julian verlegen. »Christopher und ich haben gerade ein wenig miteinander gescherzt.« Er drehte sich zu Chris und deutete eine Verbeugung an.

»Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Sir. Der Anproberaum ist für Sie bereit.«

Der Anproberaum war größer als sein Zimmer zu Hause und Chris betrachtete ehrfürchtig die luxuriöse Ausstattung. Rings um ihn standen große Vasen mit frischen Blumen und an der Decke hing ein prunkvoller Kristallleuchter. Der Raum war fast leer bis auf ein langes, cremefarbenes Sofa in der Mitte, eine Umkleidekabine an der Seite, vor der ein schwerer blauer Samtvorhang hing, und einen großen, verschnörkelten Spiegel am anderen Ende. Der helle Teppich sah so aus, als hätte ihn noch nie jemand betreten, und in einem Anflug von Panik blickte Chris hinter sich, weil er befürchtete, seine schmutzigen Schuhe könnten Flecken hinterlassen haben. Aber zum Glück war das nicht der Fall.

Julian zog ein Maßband und ein Notizbuch aus der Jackentasche und begann, Chris’ Maße zu nehmen und aufzuschreiben. Chris stand unbeholfen da, während Julian mit dem Band um ihn herumkreiste und ihn an Armen und Beinen zog, als wäre er eine Puppe. Die ganze Zeit über wechselten sie kein Wort, bis Julian schließlich mit einem verlegenen Lächeln zurücktrat.

»Haben Sie vielen Dank für Ihre Geduld, Sir. Ich bin fertig. Wenn Sie bitte Platz nehmen wollen, solange ich mir ein paar Notizen mache. Das Frühstück kommt gleich.«

»Okay, danke«, sagte Chris, der sich immer noch völlig deplatziert vorkam. Er ging zu dem cremefarbenen Sofa und setzte sich ungelenk auf die Kante, wobei er den Rücken durchdrückte und die Hände in den Schoß legte, während Julian eifrig Zahlen in sein kleines schwarzes Notizbuch kritzelte.

Nach ein paar Minuten kam Victoria wieder. Hinter ihr schob eine zweite Frau einen Servierwagen herein, der mit einem weißen Tischtuch gedeckt war. Darauf war ein reichhaltiges Frühstück angerichtet mit Gebäck, Toasts, Frühstücksflocken, Säften, Tee und Kaffee sowie verschiedenen Zeitschriften. Victoria dirigierte den Wagen zu Chris hinüber, dann drückte sie Julian ein Klemmbrett in die Hand und er eilte davon.

»Miss Sonata hat uns eine Liste mit Kleidungsstücken geschickt, die du brauchst. Wir werden jetzt eine Auswahl für dich zusammenstellen, aus der du dir aussuchen kannst, was dir gefällt. Lass dir inzwischen das Frühstück schmecken.«

»Großartig, danke«, sagte Chris und stand auf, während Victoria den Raum verließ. Er inspizierte den reich gedeckten Tisch, nahm sich ein Croissant und biss kräftig hinein. Dann schnappte er sich die Autozeitschrift, die oben auf dem Stapel lag, und setzte sich wieder aufs Sofa. Vielleicht ist es hier doch gar nicht so übel, dachte er sich und machte es sich bequem.

Zwei Stunden später marschierte Chris in steifen neuen Jeans, weißem Hemd, grünem Pulli, einem schwarzem Jackett und einem Paar nagelneuer Turnschuhe wieder aus dem Geschäft. Hinter ihm trugen Julian und andere Angestellte Tüten voller Kleidungsstücke und Schuhe und verstauten sie im Kofferraum des wartenden Wagens.

»Haben Sie vielen Dank, Sir«, sagte Julian und gab Chris die Hand. »Ich hoffe, es hat Ihnen bei uns gefallen, und, nun ja, das Missverständnis zu Beginn tut mir schrecklich leid.«

»Ist schon in Ordnung«, erwiderte Chris fröhlich und stieg ins Auto. »Es hat großen Spaß gemacht. Danke.«

Julian neigte den Kopf. »Nicht doch, ich habe zu danken. Ich hoffe, Sie beehren uns bald wieder.« Damit schloss er die Tür hinter Chris.

»Danke, dass Sie gewartet haben«, sagte Chris zu Ron und John, als der Wagen losfuhr.

»Keine Ursache«, antwortete John vergnügt, offensichtlich, um Rons Schmollen wettzumachen.

»Es ist nicht zu fassen«, grummelte Ron und sah aus dem Fenster. »Er hat tatsächlich nur eingekauft.«

John beugte sich vor und stellte das Radio an, und Chris atmete erleichtert auf, denn diesmal konnte er sich gemütlich zurücklehnen und Countrymusik hören.

Maura begrüßte Chris bei seiner Rückkehr nach Myers Holt und half ihm, die Einkaufstüten in sein Zimmer zu tragen, wobei sie ihm auf dem ganzen Weg nach unten vorschwärmte, wie gut er in seinen neuen Sachen aussehe. Chris musste zugeben, dass er sich auch gut fühlte, aber all die Aufmerksamkeit war ihm etwas peinlich.

»Die anderen Kinder werden in ein paar Stunden hier sein«, sagte Maura, als sie die Kleider in seinem Zimmer aufhängten. »Freust du dich darauf?«

Chris zuckte mit den Schultern. »Glaub schon.«

»Ihr werdet euch sicher gut vertragen«, sagte Maura, um ihn zu beruhigen, aber Chris war sich da nicht so sicher. Er kam sich unter Gleichaltrigen immer wie ein Außenseiter vor, teils weil er keine Ahnung von den neuesten Filmen und Spielen hatte, teils weil er wusste, dass keiner von den anderen sich um die eigenen Eltern kümmern oder dafür sorgen musste, dass Rechnungen bezahlt wurden. Aber vielleicht wurde es diesmal ja anders.

In den folgenden Stunden sah er fern und spielte Poolbillard gegen sich selbst. Schließlich, um halb zwölf, ging die Tür auf und herein trat Sir Bentley, gefolgt von einem Mädchen, das ein rosa Kleid und eine rosa Wolljacke trug und vor sich hin schniefte.

»Guten Morgen, Christopher«, grüßte Sir Bentley. Chris legte den Queue auf den Tisch und ging ihm entgegen.

»Das ist Daisy Fields. Daisy, das ist Christopher Lane.«

»Hi«, sagte Chris. »Cooler Name.« Das Mädchen sah ihn nur kurz an und brach dann in Tränen aus.

Sir Bentley tätschelte ihr unbeholfen den Rücken.

»Der Abschied von den Eltern hat Daisy ein wenig mitgenommen. Vielleicht kannst du sie etwas trösten. Ich werde … ach, du machst das schon«, sagte er und war im Nu wieder zur Tür hinaus.

Chris und Daisy standen verlegen voreinander, ohne etwas zu sagen. Daisy hielt den Kopf gesenkt, sodass ihre glatten blonden Haare ihr Gesicht verdeckten, und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg.

»Hier ist es gar nicht so übel«, sagte Chris, um sie zu beruhigen.

Daisy nickte, schaute aber nicht auf.

»Schau mal«, sagte Chris und ging zu dem Messingknopf neben dem Sessel. Er drückte darauf und der Fernseher tauchte hinter dem Gemälde auf.

Er drehte sich zu Daisy um, die zum Bildschirm blickte. Sie rang sich ein Lächeln ab und schniefte erneut.

»Schön«, sagte sie leise.

»Du kannst jederzeit fernsehen, wann immer du willst«, sagte Chris und hielt ihr die Fernbedienung hin. Daisy nahm sie, zog die Schuhe aus, die ebenfalls rosa waren, und rollte sich auf dem Sofa zusammen. Chris überlegte kurz, was er jetzt tun sollte, dann kehrte er zum Billardtisch zurück und spielte weiter.

Einige Minuten später ging erneut die Tür auf und Sir Bentley führte einen Jungen und ein Mädchen herein. Das Mädchen trug einen blauen Trainingsanzug, hatte hellbraune Haut und durchdringende grüne Augen, die eine dunkle Mähne umrahmte. Der Junge neben ihr war mollig und hatte das Gesicht voller Sommersprossen. Seine Haare waren ganz kurz geschoren und man sah ihm auf den ersten Blick an, dass er sehr von sich eingenommen war.

»Alles klar?«, sagte er zu Chris. Der nickte.

»Christopher Lane, das sind Rex King und Lexi Taylor«, stellte Sir Bentley vor. Lexi nickte ihm zu, sagte aber nichts. Chris erwiderte das Nicken.

»Wo ist Daisy?«, fragte Sir Bentley und Chris deutete auf das Sofa, das mit dem Rücken zu ihnen stand. Langsam tauchte Daisys Kopf hinter der Lehne auf. Ihre Augen waren gerötet und sie schaute verängstigt.

»Was ist denn mit der los?«, fragte Rex.

»Sie vermisst ihre Eltern«, antwortete Chris.

»Ich werd verrückt, schon nach fünf Minuten«, sagte Rex, und Daisy brach wieder in Tränen aus.

»Vielleicht könntet ihr sie ja ein bisschen aufheitern«, sagte Sir Bentley. »Die anderen müssen auch gleich hier sein. Besser, ich gehe rauf, um sie zu begrüßen.« Sir Bentley ließ die Kinder stehen und verließ den Raum.

»Wie wär’s mit einer Partie?«, wandte sich Rex an Chris. Chris nickte, ging zum Billardtisch hinüber und baute die Kugeln auf.

»Was ist das hier?«, rief Lexi und kam ihnen nach. »So eine Art Jungenklub? Ich kann auch spielen.«

»Also, ich schätze, du wirst feststellen, dass du es nicht kannst«, sagte Rex und kreidete seinen Queue ein.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Lexi ärgerlich.

»Mal überlegen. Ach ja, richtig … weil du nur ein Mädchen bist?«

»Wer ist hier nur ein Mädchen?«

»Na du«, sagte Rex mit einem Grinsen. »Oder etwa nicht?«

Lexi runzelte die Stirn.

»Egal. Lass mich einfach spielen.«

Rex zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Aber heul nicht wie Prinzessin Rotznase da drüben, wenn du verlierst.«

Ein lautes Schluchzen drang hinter dem Sofa hervor.

»He, lass sie in Ruhe«, sagte Chris.

»Entschuldigung«, erwiderte Rex. »Ich wusste ja nicht, dass sie deine Freundin ist.«

Chris verdrehte die Augen und reichte Lexi den Queue.

»Sieh zu, dass du gewinnst und ihm den Mund stopfst«, sagte er und trat zurück, um zuzusehen.

»Halt dich da raus, du reicher Schnösel«, sagte Rex und musterte Chris von oben bis unten. Chris blickte verwirrt, bis er begriff, dass Rex auf seine neuen Kleider anspielte. Im ersten Moment wollte er das richtigstellen, aber dann beschloss er, den Mund zu halten.

»Du kannst anfangen«, sagte Rex zu Lexi. »Wahrscheinlich ist das sowieso der einzige Stoß, den du kriegst.«

Mit entschlossener Miene trat Lexi an den Tisch, und die Jungen sahen zu, wie sie sich den Queue unbeholfen auf die Hand legte. Sie holte aus und stieß zu, doch der Queue verfehlte die Kugel völlig.

Chris verzog das Gesicht.

»Au, das tut weh«, sagte Rex. »Zwei Stöße für mich.«

Lexi betrachtete den Queue, als wäre er schuld, während Rex die Kugeln in alle Richtungen feuerte und drei davon einlochte. Er machte ein paar weitere Stöße, bis auch ihm ein Fehlversuch unterlief.

»Tut mir echt leid für dich«, sagte er, während sich Lexi weit vorbeugte und ihren Stoß vorbereitete. Sie ließ den Queue nach vorn schnellen, doch statt die rote Kugel zu treffen, versenkte sie die weiße in der Ecktasche.

Chris fasste sich an die Stirn und schüttelte vor Scham den Kopf.

»Mist«, schimpfte Lexi und trat gegen den Tisch.

»Auweia«, lachte Rex. »Sieht so aus, als würde die Partie nicht lange dauern.«

»Mir reicht’s«, knurrte Lexi und stellte den Queue in den Wandständer zurück.

»Sag jetzt nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Rex hielt Chris den Queue hin. »Willst du den Mädchen zeigen, wie das geht?«

Chris schüttelte den Kopf. »Nein, danke«, antwortete er und wandte sich ab.

»Wie du willst«, sagte Rex achselzuckend.

Lexi und Chris ließen ihn allein weiterspielen und nahmen an den gegenüberliegenden Enden des freien Sofas Platz.

»Was schaust du dir an?«, fragte Lexi Daisy, die immer noch zusammengerollt auf dem Sofa daneben saß. Daisy zuckte nur mit den Schultern,

Das kann ja heiter werden, dachte Chris bedrückt und atmete erleichtert auf, als abermals die Tür aufging und Sir Bentley mit zwei Jungen eintrat.

»Hier hätten wir unsere letzten beiden Schüler«, sagte Sir Bentley. »Das ist Sebastian White.« Er legte einem gut aussehenden Jungen mit olivbraunem Teint und dunklen Haaren die Hand auf die Schulter. »Und das ist Philip Lowry.« Er deutete auf einen mageren, blassen Jungen mit Brille, der einen dreiteiligen braunen Anzug trug.

»Hast du dich fürs Büro fein gemacht?«, fragte Rex Philip vom anderen Ende des Raumes aus. Philip lächelte.

»Kleider machen Leute«, antwortete er.

»Wen willst du denn damit beeindrucken?«, lachte Rex. »Meine Oma?«

»Rex, wie wär’s, wenn du deinen Humor etwas zügelst?«, sagte Sir Bentley streng und wandte sich an die beiden Jungen neben ihm. »Philip, Sebastian, das sind Christopher, Lexi, Daisy und Rex.« Philip grüßte verhalten und Sebastian machte eine Verbeugung.

»Encantado.«

»Hä?«, fragte Lexi.

»Das bedeutet ›sehr erfreut‹«, erklärte Sebastian mit starkem Akzent. »Ich bin Spanier.«

»Red keinen Quatsch!«, sagte Rex und kam herüber. »Dein Dad ist aus Manchester. Ihr habt draußen gestanden, als ich ankam – ich habe ihn gehört. Wenn du Spanier bist, fresse ich einen Besen.«

Sebastian kräuselte verächtlich die Lippen und funkelte Rex an.

»Halber Spanier«, sagte er. »Meine Mutter ist Spanierin und bis letztes Jahr habe ich in Spanien gelebt. Du bist ein … idiota.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung in Richtung Rex.

»Das reicht jetzt, Jungs!«, sagte Sir Bentley. »Ihr werdet lernen müssen, miteinander auszukommen. Und Rex, wenn du schon nichts Nettes sagen kannst …«

»… dann sag lieber überhaupt nichts«, unterbrach ihn Rex beleidigt. »Ich weiß, das bekomme ich öfter zu hören.«

»Dann ist es diesmal vielleicht das letzte Mal. Wenn du dich nicht anständig beträgst, können wir dich in Myers Holt nicht gebrauchen. Hast du verstanden?«

Rex nickte.

»Gut, dann lasst uns noch mal von vorn anfangen. Ich schlage vor, ihr setzt euch jetzt alle hin, dann kann es losgehen.«

Rex ließ sich zwischen Chris und Lexi aufs Sofa plumpsen und die beiden anderen Jungs setzten sich neben Daisy, die sich inzwischen ausgeweint hatte und aufrecht dasaß.

Sir Bentley drückte auf den Knopf neben der Lampe und der Bildschirm verschwand wieder hinter dem Gemälde. Alle bis auf Chris und Daisy, die es bereits gesehen hatten, blickten beeindruckt. Sir Bentley stellte sich direkt vor das Gemälde und richtete das Wort an die Kinder.

»Willkommen in Myers Holt. Ich hoffe, das Jahr bei uns wird euch gefallen. Wir haben euch wegen eurer ungewöhnlichen Talente ausgewählt, die ihr sehr bald näher kennenlernen werdet. Schon im Vorhinein möchte ich euch daran erinnern, dass ihr euch zur Geheimhaltung verpflichtet habt und über das, was ihr hier lernt, außerhalb dieser Einrichtung nicht sprechen dürft. Das ist sehr wichtig. Habt ihr verstanden?«

Alle nickten gleichzeitig.

»Gut. Ihr werdet später mehr erfahren, jetzt nur so viel: Während eures Aufenthalts hier werdet ihr viel lernen und ihr werdet Myers Holt mit einer wissenschaftlichen Grundlage wieder verlassen, die euch ein Leben lang erhalten bleiben wird. Das kann ich euch versichern. Doch ihr seid auch aus einem anderen Grund hier. Um es einfach auszudrücken: Von euch, den Schülern von Myers Holt, wird nicht nur erwartet, dass ihr lernt, sondern auch, dass ihr für die Regierung arbeitet. Dem einen oder anderen von euch mag dieser Gedanke unangenehm sein, und am Ende des heutigen Tages, wenn ihr noch mehr Informationen erhalten habt, wird man euch vor die Entscheidung stellen, ob ihr hierbleiben oder lieber gehen wollt. Dies ist eine ganz persönliche Entscheidung, die jeder für sich selbst treffen muss, und ich möchte ausdrücklich betonen, dass sich niemand zum Bleiben genötigt fühlen muss.«

Die Kinder sagten nichts, saßen aber alle nach vorn gebeugt da und lauschten gespannt, als abermals die Tür ging und Miss Sonata lächelnd hereinkam. Sie ging nach vorn zu Sir Bentley, und obwohl sie ein nüchternes, graues Nadelstreifenkostüm trug, fand Chris, dass sie sehr jung aussah, wie sie so neben ihm stand.

»Miss Sonata habt ihr ja, glaube ich, alle bereits kennengelernt«, sagte Sir Bentley.

»Guten Morgen zusammen«, grüßte Miss Sonata fröhlich.

»Miss Sonata ist meine rechte Hand, wenn man so will. Bei ihr werdet ihr auch die ersten Unterrichtsstunden haben. Und morgen werdet ihr Ms Lamb kennenlernen – sie kann heute leider noch nicht bei uns sein. Sie ist die Konrektorin von Myers Holt und wird den größten Teil des anderen Unterrichts übernehmen.«

»Was für einen anderen Unterricht?«, fragte Lexi.

»Das werdet ihr zu gegebener Zeit erfahren«, antwortete Sir Bentley geheimnisvoll. »Miss Sonata, ich überlasse jetzt Ihnen das Feld. Nochmals herzlich willkommen in Myers Holt«, sagte er und ging hinaus.

Miss Sonata wartete, bis er die Tür geschlossen hatte, dann wandte sie sich wieder den Kindern zu.

»So, dann will ich euch mal herumführen«, sagte sie.

Die Kinder standen auf und folgten ihr aus dem Raum hinaus auf den Flur.

»Hier ist der Speiseraum«, sagte Miss Sonata und öffnete die gegenüberliegende Tür. Die Kinder drängelten, um einen Blick hineinzuwerfen. Der Raum war rechteckig und lichtdurchflutet. Drei Seiten wurden von großen Glastüren eingenommen, die einen Ausblick auf Felder und Wiesen boten. Chris fühlte sich an die Landschaft erinnert, die von seinem Zimmer aus zu sehen war. An den kahlen Backsteinwänden zwischen den Glastüren hingen Blumenampeln, aus denen Efeu und andere Pflanzen rankten. Philip ging zu einer der Türen und drückte die Nase an die Scheibe.

»Die Glastüren sind Bildschirme«, erklärte Miss Sonata. »Sie sollen euch vergessen lassen, dass ihr unter der Erde lebt. Das Licht spenden eigens entwickelte, Sonnenlicht imitierende Glühlampen, die euch mit reichlich Vitamin D versorgen und das Gedeihen der Pflanzen ermöglichen. Und im Unterschied zu oben ist das Wetter hier immer schön«, setzt sie lächelnd hinzu. »Frühstück gibt es um acht, Mittagessen um zwölf, Abendessen um sieben. Außerdem findet ihr hier immer frisches Obst und Snacks.« Sie deutete auf einen Tisch in der Ecke mit einem rotweiß karierten Tischtuch, auf dem eine riesige Schüssel stand, gefüllt mit Früchten, Käseecken, Joghurts und anderen Leckereien, die Chris von seinem Platz aus nicht genau erkennen konnten. »Ihr könnt euch jederzeit bedienen.«

Rex ging zu dem Tisch, nahm drei Orangen und stopfte sie sich in die Taschen.

»Daran könnte ich mich gewöhnen«, sagte er, griff sich noch einen Apfel und biss herzhaft hinein.

»Freut mich, dass das deinen Beifall findet«, sagte Miss Sonata schmunzelnd und wechselte das Thema. »Und jetzt zeige ich euch eure Zimmer.«

Das erste Zimmer, in das sie kamen, war das von Chris.

Miss Sonata wandte sich an Philip. »Du wirst es dir mit Christopher teilen«, sagte sie.

»Sieht so aus, als wären wir zusammen, Pedro«, sagte Rex zu Sebastian. Sebastian schnitt eine Grimasse, während Chris und Philip einander erleichtert ansahen.

Miss Sonata ging kommentarlos weiter zum nächsten Zimmer.

»Hier werden Rex und Sebastian wohnen und im nächsten Lexi und Daisy. Ihr könnt euch die Zimmer später genauer ansehen. Ich möchte euch jetzt den Schulbereich zeigen. Ich glaube, er wird euch gefallen«, sagte sie und führte sie durch den Gang zurück in die Eingangshalle.

Vor der Tür gegenüber dem Aufzug blieb sie stehen und wartete, bis alle zu ihr aufgeschlossen hatten, dann öffnete sie sie und ließ die Kinder eintreten. Chris fiel vor Erstaunen die Kinnlade herunter. Er schielte zu den anderen. Sie waren ebenso verblüfft wie er.

Über ihnen wölbte sich eine riesige Glaskuppel, die bis zum Boden herabreichte und aus den gleichen Bildschirmen bestand, die sie in den anderen Räumen gesehen hatten. Sie zeigten eine weite Wiesenlandschaft unter einem strahlenden Sommerhimmel, über den dünne Wolkenschleier zogen. Vor ihnen erhob sich ein großer, sanft ansteigender Hügel, auf dessen Kuppe ein mächtiger, in voller Blüte stehender Baum thronte. Chris kniete sich auf den Steinweg, der um den großen Raum herumführte, und strich mit der Hand über das zitternde grüne Gras vor ihm. Mit Schrecken stellte er fest, dass es echt war.

»Oh, wie schön«, sagte Daisy und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag.

»Das hier ist die Glashalle. Hinter dem Hügel befinden sich der Swimmingpool und die Umkleidekabinen. Der Trakt mit den Klassenzimmern ist dort drüben«, erklärte Miss Sonata und führte sie nach rechts. Vor einem der Glasschirme blieb sie stehen, drehte an einem Türknauf und trat in einen weiteren Flur mit denselben gelb und cremefarben gestreiften Wänden und grünen Teppichen wie im Rest des Gebäudes. Die Kinder folgten ihr bis zu einer Holztür, an der eine goldene Tafel prangte: KLASSENZIMMER.

Die Tür führte in einen großen, weißen Raum mit Schiebefenstern und Blick auf einen Fluss. An der Stirnseite hing ein Whiteboard mit einem langen Tisch davor, dem zwei Reihen von Glaspulten gegenüberstanden. Die Stühle hinter den Pulten waren große, bequeme Bürosessel mit hohen Rückenlehnen und bunten Bezügen.

»Oh, ich möchte den in Rosa«, rief Daisy.

»Er gehört dir«, sagte Lexi.

»Was ist das denn?«, fragte Sebastian und deutete hinter sich. Chris drehte sich um und blickte auf eine Art Schaubild, das die gesamte Rückwand bedeckte. Es sah aus wie ein Stadtplan, doch statt Gebäuden waren regenbogenfarbene Kästen eingezeichnet. Auf jedem der Kästen standen in einer schnörkeligen schwarzen Schrift Begriffe wie LÜGEN, ÄNGSTE & PHOBIEN, MENSCHEN oder FLÜCHTIGE BEGEGNUNGEN, und auf einem sogar PEINLICHES.

»Ah ja, das sind eure Mindmaps – eure Gedankenkarten«, erklärte Miss Sonata. »Ihr werdet später mehr darüber erfahren.« Sie blickte zu der Uhr an der Wand. »Bald gibt es Mittagessen. Vorher zeige ich euch noch rasch die Thinktanks.«

Sie führte sie wieder hinaus auf den Flur und von dort in einen dunklen Raum. Soweit Chris erkennen konnte, enthielt der Raum nichts weiter als sechs große Kabinen, die in einer Reihe nebeneinanderstanden und in unterschiedlichen Farben schimmerten.

»Die Thinktanks sind sozusagen eure Denkkammern. Auch dazu später mehr«, sagte Miss Sonata und schloss die Tür wieder. »Maura wartet sicher schon auf uns.«

Sie führte sie in die Glashalle zurück und dann den Hügel hinauf, wo Maura auf Picknickdecken das Essen anrichtete.

»Essen ist fertig«, rief sie und reichte jedem einen Teller.

»Lasst es euch schmecken«, sagte Miss Sonata. »In einer Stunde holt euch Sir Bentley ab und bringt euch zu eurer ersten Unterrichtsstunde.«

Die Kinder nickten mit vollen Mündern.

»Und was glaubt ihr, was diese Denkkammern sind?«, fragte Lexi, nachdem sich alle den Bauch vollgeschlagen hatten. Niemand hatte ein Wort gesagt, seit sie sich hingesetzt hatten.

»Folterkammern«, antwortete Rex. »Eindeutig Folterkammern.«

Daisys Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Warum sollten sie uns foltern wollen?«, fragte sie.

»So bringen sie uns zum Lernen. Durch nichts merkst du dir deinen Stundenplan schneller als durch die Androhung, dir ansonsten langsam die Fingernägel einzeln auszureißen«, antwortete Rex, hielt Daisy seine Hand vors Gesicht und tat so, als würde er sich den Daumennagel ausreißen.

»Das ist äußerst unwahrscheinlich«, bemerkte Philip trocken. »Angst vermindert die Leistungsfähigkeit. Das ist Fakt.«

»Er zieht dich nur auf«, sagte Lexi zu Daisy und stieß Rex’ Hand weg.

»Aber sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt, wenn ihr hört, wie der Bohrer angeworfen wird«, sagte Rex.

»Viel wahrscheinlicher ist ein computerbasiertes Lernprogramm«, fuhr Philip fort, ohne Rex zu beachten. »Ich habe in der neusten Science Review von diesem Monat etwas darüber gelesen.«

»Science Review? Entschuldige, aber wie alt bist du noch mal?«, fragte Rex.

»Alt genug, um mir meine Stundenpläne zu merken«, erwiderte Philip, und die anderen kicherten.

»Du nervst, Einstein«, sagte Rex.

»Ich schätze, wir werden es gleich erfahren«, sagte Chris, denn er hatte gerade Sir Bentley entdeckt, der vom Eingang zum Klassenzimmerflügel zu ihnen heraufschaute. Daisy stand auf und strich ihr Kleid glatt, dann gingen sie alle nach unten und folgten Sir Bentley ins Klassenzimmer.

Chris trat als Letzter ein und nahm den blauen Stuhl vorn neben der Tür. Sir Bentley stellte sich vor das Whiteboard, räusperte sich und begann.

»Wie ihr alle wisst, heiße ich Bentley Jones und bin Direktor von Myers Holt. Doch darüber hinaus bin ich auch Generaldirektor des MI5, von dem der eine oder andere von euch vielleicht schon gehört hat.«

»MI5? Dann sind Sie ein Spion?«, fragte Philip ungläubig.

»Nein, kein Spion, allerdings lasse ich Spione für mich arbeiten. Letztlich besteht meine Aufgabe darin, Großbritannien vor Bedrohungen aus dem In- und Ausland zu schützen. Wie ihr euch vorstellen könnt, ist das eine äußerst schwierige Aufgabe, aber meistens gelingt es uns, unser Land vor größerem Schaden zu bewahren. Nur ergeben sich immer mal wieder Situationen, in denen unsere üblichen Mittel versagen, sodass wir uns etwas Besonderes einfallen lassen müssen. Myers Holt, der Sitz des MI18, ist so etwas Besonderes.«

»Es gibt keinen MI18«, bemerkte Philip trocken.

»Auf dem Papier gibt es keinen MI18, Philip, aber das bedeutet nicht, dass er nicht existiert. Der MI18 ist im Zweiten Weltkrieg als streng geheime Behörde gegründet worden und hat Kinder beschäftigt, die den Geheimdienst bei seiner Arbeit unterstützen sollten.«

Die Kinder tauschten verdutzte Blicke.

»Wir haben euch sechs ausgewählt, weil ihr alle über besondere Talente verfügt, die uns hilfreich sein können. Und mit ›uns‹ meine ich Großbritannien. Myers Holt ist gegründet worden, um diese Talente zu fördern und in einer Weise zu nutzen, die für unser Land von großem Vorteil ist, und im Gegenzug werdet ihr hier mehr lernen, als wenn ihr ein Leben lang zur Schule gingt. Am besten, ich veranschauliche euch das an einem Beispiel. Vorab eine Frage: Spricht einer von euch Suaheli?«

Alle schüttelten den Kopf.

»Gut«, sagte er, nahm einen Stapel Bücher von seinem Tisch und gab jedem Kind ein Exemplar.

Chris sah sich den Umschlag an. Suaheli für Anfänger. Er schlug das Buch irgendwo in der Mitte auf. In der Lektion ging es um Notfälle. Auf der einen Seite standen Sätze in Suaheli, auf der anderen die englische Übersetzung. Bei einem der englischen Sätze hielt er inne und las.

Könnten Sie bitte einen Krankenwagen rufen? Mein Freund braucht dringend ärztliche Behandlung.

»Jetzt schließt die Bücher und hört mir aufmerksam zu«, sagte Sir Bentley. Chris legte das Buch weg und schaute nach vorn.

»Wenn ich euch bitte anzufangen, möchte ich, dass ihr die erste Seite des Buches aufschlagt. Ich möchte nicht, dass ihr lest, was da steht, oder versucht, es zu verstehen oder euch einzuprägen. Ihr sollt euch die Seite nur ansehen – ein kurzer Blick genügt – und dann zur nächsten weiterblättern. Das Buch hat …«, er nahm sein Exemplar vom Tisch und schlug es auf, »… einhundertachtundfünfzig Seiten. Ihr dürftet ungefähr fünf Minuten brauchen, um es durchzusehen. Los, fangt an.«

Chris schlug das Buch auf und befolgte genau die Anweisung. Er warf nur einen kurzen Blick auf jede Seite und wandte sich dann der nächsten zu. Er versuchte, sich zu konzentrieren, aber seine Gedanken schweiften ab und beschäftigten sich mit der Frage, worin wohl der Zweck dieser Übung bestand. Er erreichte den Schluss des Buchs gleichzeitig mit den anderen und klappte es zu.

»Schön«, sagte Sir Bentley. »Lexi. Bitte übersetze jetzt folgenden Satz ins Suaheli.« Er ergriff das Buch und ließ es an einer beliebigen Stelle aufklappen. »Im Garten brennt es.«

»Äh … ich kann kein Suaheli«, erwiderte Lexi verwirrt.

»Doch. Denk nicht darüber nach, sag es einfach.«

»Äh … kuna moto bustani pale.« Die anderen sahen Lexi verblüfft an. Lexi schaute sich um, wie um festzustellen, wer das gesagt hatte – als könnte sie nicht glauben, dass die Worte aus ihrem eigenen Mund gekommen waren.

»Ausgezeichnet und völlig korrekt, wie ihr feststellen werdet, wenn ihr Seite zweiunddreißig aufschlagt.«

»Was?«, rief Rex ärgerlich. »Das ist doch nicht möglich. Das ist ein abgekartetes Spiel.«

»Es ist sehr wohl möglich, Rex. Wie wär’s, wenn du den nächsten Satz übernimmst: Wo ist das nächste Polizeirevier?«

Rex öffnete den Mund, doch statt den Satz in Unsinnswörtern wiederzugeben, wie er es eigentlich beabsichtigt hatte, antwortete er in fehlerfreiem Suaheli.

»Kituo cha polisi kipo wapi?« Seine Augen weiteten sich vor Überraschung.

»Jetzt du, Chris«, sagte Sir Bentley und Chris setzte sich gerade auf. »Ich möchte heute Abend ins Kino gehen.«

Chris zögerte.

»Noch einmal: nicht lange überlegen, einfach sprechen. Euer Gehirn erledigt die Arbeit, ohne dass ihr es merkt.«

Chris nahm einen zweiten Anlauf.

»Nataka kwenda sinema leo usiku

Chris war fassungslos und völlig verwirrt. In seiner alten Schule hatte er drei Jahre lang Französisch gelernt und konnte kaum die Zahlen von eins bis zehn.

Sir Bentley wiederholte die Aufgabe mit Daisy, Sebastian und Philip. Und hinterher schauten alle verwirrt.

Sir Bentley sammelte die Bücher wieder ein und legte sie auf seinen Tisch zurück.

»Weiß zufällig jemand, wie viel Prozent unseres Gehirns wir Menschen durchschnittlich nutzen?«

Philip hob sofort die Hand.

»Zehn Prozent«, antwortete er.

»Stimmt haargenau. Aber im Zweiten Weltkrieg machte ein Mann namens Walter Vander rein zufällig eine erstaunliche Entdeckung. Er stellte fest, dass Kinder vom Tag ihres zwölften Geburtstags an – also an der Schwelle zum Erwachsenwerden – in der Lage sind, ihr Gehirn voll zu nutzen. Dies hält bis zum letzten Tag ihres dreizehnten Lebensjahres an und hört dann so plötzlich wieder auf, wie es begonnen hat. In dieser Zeit kann man die unglaublichsten Fertigkeiten erlernen, die einen zu unvorstellbaren Dingen befähigen – vorausgesetzt, man weiß, wie, und leider auch nur für kurze Dauer. Wir nennen diese Befähigung die GABE, und sie ist der Grund, warum ihr alle heute hier seid.«

Sir Bentley machte eine Pause und ließ seine Worte wirken. Nach einer Weile hob Chris, der so verwirrt dreinschaute wie alle anderen im Raum, die Hand.

»Ja, Christopher?«

»Wollen Sie damit sagen, dass wir diese Gabe besitzen und deshalb hier sind?«

»Genau genommen besitzen sie alle Kinder mit zwölf, nur in unterschiedlichem Maß. Warum wir ausgerechnet euch sechs eingeladen haben, hat einen einfachen Grund. Zum einen seid ihr alle erst kürzlich zwölf geworden. Zum anderen könnte zwar jedes Kind, das wir getestet haben, darin geschult werden, die GABE zu nutzen, aber manche sind eben von Natur aus begabter als andere. Um herauszufinden, wer das ist, haben wir den Test mit euch gemacht.« Sir Bentley ging um seinen Tisch herum, öffnete eine Schublade und zog eine Fernbedienung heraus. Er drückte auf eine Taste und ein Bildschirm schwebte von der Decke herab und schob sich vor das Whiteboard. Ein weiterer Tastendruck und die Bildschirme an den Fenstern erloschen. Es wurde stockdunkel. Dann vernahmen sie ein Klicken und der Bildschirm vor ihnen leuchtete auf und zeigte das Foto eines Jungen, der unter einem Weihnachtsbaum saß. Es war dasselbe Foto, das Miss Sonata Chris bei ihm zu Hause gezeigt hatte.

»An dieses Foto erinnert ihr euch alle bestimmt noch«, sagte Sir Bentley. »Aber jetzt zeige ich euch eines, das ihr noch nie gesehen habt.«

Er drückte auf die Fernbedienung und das Foto wurde durch ein anderes, ähnliches ersetzt. Auf dem zweiten war das Geschenk ausgepackt und der Junge hielt einen Stoffpinguin mit gelber Fliege und Zylinder in der Hand.

»Dieses Foto klebte hinter dem anderen, das ihr betrachtet habt. Ohne euch dessen bewusst zu sein, konntet ihr dank eurer GABE durch das vordere hindurchsehen und erkennen, was der kleine Junge in der Hand hielt.«

Lexi schnappte laut nach Luft und Chris klappte vor Verwunderung die Kinnlade herunter.

Sir Bentley wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Er drückte erneut auf die Fernbedienung und diesmal erschien das Bild einer Straßenszene. Chris erkannte auf Anhieb die Treppe, die zu der Kirche hinaufführte, und am unteren Bildrand war die mit roter Farbe auf den Gehweg gesprühte Zahl zu sehen, die er Miss Sonata vorgelesen hatte.

»Bei dieser Frage wurde getestet, ob ihr von eurer Gabe der Fernwahrnehmung Gebrauch machen könnt. Hat schon mal jemand von Fernwahrnehmung gehört?«

Philip hob die Hand.

»Überraschung«, rief Rex. »Einstein weiß die Antwort.«

Sir Bentley warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Ja, Philip?«

»Das ist, wenn man mithilfe seiner geistigen Kräfte und unter Verwendung von Fotos oder Koordinaten ferne Orte sieht.«

»Stimmt haargenau, ich hätte es selbst nicht besser erklären können. In unserem Fall habt ihr alle den Stadtplan betrachtet, und aufgrund eurer GABE konntet ihr die Örtlichkeit so erkennen, wie sie genau in diesem Augenblick war, und euch vorstellen, wie ihr dort herumspaziert. Je stärker eure Gabe auf diesem Gebiet ist, desto näher seid ihr bei der Zahl auf dem Gehweg gelandet. Wie euch gewiss einleuchten wird, ist sie ein unglaublich nützliches Instrument beim Beschaffen von Informationen. So kann man zum Beispiel einen Blick in vertrauliche Akten werfen, die in einem Schrank eingeschlossen sind.

Schließlich hat euch Miss Sonata gefragt, an was für ein Tier sie dachte – an einen Fuchs. Eine wahnsinnig schwierige Frage, denn um sie beantworten zu können, muss man die Gedanken des anderen lesen. Ein paar von euch haben es auf Anhieb geschafft – eine wirklich beeindruckende Leistung«, sagte Sir Bentley und schaltete die Bildschirme an den Fenstern wieder ein, sodass es wieder hell im Raum wurde. »So, jetzt wisst ihr, was es mit der GABE auf sich hat. Als Schüler dieser Schule seid ihr offiziell minderjährige Agenten des MI18. Irgendwelche Fragen?«

Philip meldete sich.

»Dann arbeiten wir also für Sie?«

»Ihr werdet natürlich auch lernen, aber wie ihr bei der kurzen Einführung ins Suaheli gesehen habt, wird das keinen allzu großen Teil eurer Zeit in Anspruch nehmen. Was eure Rolle als Spione angeht, so werden wir euch bitten, uns bei der Beschaffung von Informationen zu helfen.«

»Und was für Informationen Sie wollen?«, fragte Sebastian.

»Vergesst Suaheli«, lachte Rex. »Pedro braucht erst mal Englisch für Anfänger.«

»Rex!«, donnerte Sir Bentley. »Meine Geduld ist erschöpft. Nimm dich zusammen und halt den Mund, solange du nichts Sinnvolles beizutragen hast.« Rex fuhr bei dem Rüffel überrascht zusammen und senkte den Blick auf den Tisch.

»Aber um auf deine Frage zurückzukommen, Sebastian: Wir suchen nach einigen Antworten. Die GABE verleiht unglaubliche Kräfte, und wenn die falschen Leute von ihr erfahren sollten, könnten sie großes Unheil anrichten. Bedauerlicherweise scheint genau das geschehen zu sein. Ihr erinnert euch vielleicht, dass vor ein paar Wochen ein Mann namens Cecil Humphries vor laufenden Fernsehkameras beim Besuch einer Schule einen Zusammenbruch erlitten hat.«

»Wer ist Cecil Humphries?«, fragte Daisy.

»Der Politiker, der vom Nachttisch eines kranken Mädchens Schokolade gestohlen hat«, antwortete Philip.

»Oh, das ist aber nicht nett.«

»Nein«, sagte Sir Bentley. »Trotzdem war er Minister und früher mal Lehrer hier in Myers Holt.«

»Ich dachte, die Schule sei neu«, unterbrach Rex.

»Nein, nicht direkt«, antwortete Sir Bentley. »Myers Holt wurde im Zweiten Weltkrieg als Schule mit nur einer Klasse für ganz besondere Kinder eröffnet. Hier hat man den Schülern beigebracht – so wie man es euch beibringen wird –, ihre GABE zu nutzen, damit sie der Regierung bei der Beschaffung von Informationen helfen konnten. In diesem Gebäude hier war viele Jahre lang die Zentrale des MI18 untergebracht, bis sie vor dreißig Jahren geschlossen wurde. Zu dieser Zeit war ich, ob ihr es mir glaubt oder nicht, hier Lehrer, genau wie Cecil Humphries.

Es hat nie die Absicht bestanden, die Schule wiederzueröffnen, bevor Cecil … bevor er zum menschlichen Wrack gemacht wurde und uns im letzten Moment noch wissen ließ, dass jemand die GABE gegen ihn eingesetzt und auf diese Weise seinen Zusammenbruch herbeigeführt hatte. Wir glauben den Jungen zu kennen, der es getan hat, aber wir wissen nicht viel über ihn, nur, wie er aussieht und dass er einige unglaublich schwierige, auf der GABE beruhende Techniken beherrscht, die ihm jemand beigebracht haben muss. Wie sich herausgestellt hat, ging er nicht auf die Schule, an der sich der Vorfall ereignet hat, und trotz größter Anstrengungen sind wir mit unseren Nachforschungen keinen Schritt weitergekommen. Wir wissen nur, dass es jemand gibt, der die GABE dazu benutzt, Unheil anzurichten, und das bereitet uns große Sorge. Aus diesem Grund haben wir nach annähernd dreißig Jahren beschlossen, Myers Holt wieder zu eröffnen. Mit eurer Hilfe hoffen wir herauszufinden, wer dieser Junge ist und wie er gelernt hat, die GABE zu nutzen. Irgendwelche Fragen?«

Philip hob die Hand. »Wie kommt es, dass ich nie von der GABE gehört habe? Wenn jedes zwölfjährige Kind sie besitzt, müssten wir doch eigentlich alle davon wissen.«

»Interessante Frage, Philip«, sagte Sir Bentley und Philips Brust blähte sich vor Stolz. »Die Antwort darauf lautet, dass die meisten Leute nicht glauben wollen, was sie nicht verstehen. Kinder, die nicht im Gebrauch der GABE geschult werden, erfahren meist nie, wozu sie in ihrem dreizehnten Lebensjahr fähig sind. Jedes ungewöhnliche Vorkommnis wird normalerweise als Zufall abgetan und nicht weiter beachtet. Weitere Fragen?«

»Warum haben Sie Myers Holt damals geschlossen?«, wollte Chris wissen.

Sir Bentley trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Es fällt mir schwer, darauf zu antworten, aber ich will ganz offen zu euch sein. Unser letzter Auftrag endete mit einem Fehlschlag. Wir waren zu selbstgefällig geworden und experimentierten mit einer neuen Technik namens INFERNO, bei der größtmögliche Nähe zur Zielperson erforderlich ist. Dabei brachten wir unsere minderjährigen Agenten in eine gefährliche Situation. Mit tragischen Folgen.«

»Tragischen Folgen?«, fragte Daisy entsetzt. »Ist denn jemand gestorben?«

»Allerdings. In jener schrecklichen Nacht verloren zwei Kinder ihr Leben. Tags darauf wurde Myers Holt geschlossen.«

Den Kindern stockte der Atem.

»Aber«, fuhr Sir Bentley fort und hob beruhigend die Hand, »wir haben unsere Lehren daraus gezogen. Wir würden euch nie um etwas bitten, was euch in Gefahr bringen könnte. Wenn wir daran irgendwelche Zweifel hätten, wärt ihr heute nicht hier. Die Ereignisse jener Nacht werden mich bis an mein Lebensende verfolgen und erst nach reiflicher Überlegung haben wir beschlossen, die Einrichtung wieder zu eröffnen. Eure Sicherheit wird für uns immer an oberster Stelle stehen. Das verspreche ich euch hoch und heilig.«

»Geschenkt!«, sagte Rex. »Ich habe Besseres zu tun, als mich abmurksen zu lassen.« Und ausnahmsweise einmal nickten die anderen zustimmend, nachdem er etwas gesagt hatte.

»Die Entscheidung liegt bei euch. Wie gesagt, heute Abend werden wir euch fragen, ob ihr hierbleiben wollt. Wenn ihr euch dagegen entscheidet, steht es euch frei, zu gehen und an eure alten Schulen zurückzukehren. Doch wenn ihr euch zum Bleiben entschließt, werdet ihr nicht nur die Gelegenheit haben, Menschenleben zu retten und eurem Land zu dienen, sondern darüber hinaus auch Fähigkeiten erwerben, mit denen ihr es im Leben weit bringen könnt. Es dürfte euch vielleicht interessieren, dass einer meiner früheren Schüler in Myers Holt Edward Banks war.«

»Der Premierminister?«, fragte Chris.

»Jawohl, der Premierminister. Er kam aus zerrütteten Familienverhältnissen und tat sich in der Schule schwer. Mit zehn konnte er kaum lesen. Mit zwölf wurde er in Myers Holt aufgenommen und nur ein paar Jahre später schloss er an der Universität Oxford als jüngster Absolvent aller Zeiten das Jurastudium ab und wurde ein sehr erfolgreicher Anwalt, bevor er in die Politik ging. Wie gesagt, Myers Holt wird euch das nötige Rüstzeug mitgeben, um auf jedem Gebiet eurer Wahl Großes zu leisten.«

»Aber eins verstehe ich nicht«, warf Philip ein. »Wenn man mit dreizehn die GABE wieder verliert, welchen Nutzen hat man dann davon?«

»Man verliert die GABE, aber man behält das Wissen, das man sich in dem Jahr angeeignet hat. Stellt euch vor, ihr könntet im Juli nächsten Jahres fließend zehn Sprachen sprechen und mühelos Mathematikaufgaben auf Universitätsniveau lösen. Das würde euer Leben zum Besseren verändern, das kann ich euch garantieren.

Aber für heute habt ihr, glaube ich, genug von mir gehört. Ich würde euch jetzt gern mit jemandem bekannt machen, der euch unser Gedankenleseprogramm, auch Mind Access Program oder kurz MAP genannt, erklären wird. Folgt mir.«

Sie gingen durch den Flur und in den Raum mit den Thinktanks, in dem die sechs Kabinen in der Dunkelheit schimmerten und surrten. Sir Bentley knipste das Licht an. Oben auf der lindgrünen Kabine kniete ein beleibter, alter Mann mit einem Schraubenzieher. Er hob überrascht den Kopf, verlor das Gleichgewicht, kippte nach hinten und entschwand den Blicken der Schüler, ehe ein dumpfer Schlag verriet, dass er auf dem Boden gelandet war.

Sir Bentley eilte um die Kabine herum und half dem alten Mann auf, der ganz rot im Gesicht und etwas durcheinander war.

»Sie haben mich erschreckt«, erklärte der Mann.

»Ist ja kein Wunder«, erwiderte Sir Bentley und blickte besorgt. »Sind Sie verletzt?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich bin gut gepolstert«, sagte er und tätschelte sich den Bauch. Dann rückte er seine Brille zurecht und wandte sich den Kindern zu.

»Sieh an, unsere neuen Rekruten.«

»Kinder, das ist Professor Ingleby. Er ist Chefingenieur beim Amt für Forschung und Entwicklung und hat sich freundlicherweise bereit erklärt, uns bei der Entwicklung eines möglichst effektiven Schulungsprogramms zu helfen, mit dem ihr lernt, eure GABE zu nutzen.«

»Freut mich!«, rief er, ging um die Kabine herum und drückte jedem Kind kräftig die Hand. »Freut mich! Wir haben jede Menge Spaß für euch auf Lager!«

Seine Begeisterung war ansteckend und alle Kinder lächelten, sogar Rex.

»Beim Bau dieser Kabinen hatten wir jeden Einzelnen von euch im Hinterkopf. Unter Verwendung von Informationen aus euren Schulakten und euren Tests haben wir euch Lehrern zugeteilt, die optimal zu eurer Persönlichkeit passen und euch durch das Programm führen werden. Mit diesem Programm lernt ihr, wie ihr eure GABE nutzen könnt. Es ist so realistisch wie möglich und reagiert auf Hirnströme – ihr könnt es also durch euer Denken steuern. Ist das nicht großartig?«

Philip nickte begeistert.

»Bedauerlicherweise«, fuhr der Professor fort, »ist es uns noch nicht gelungen, ein Computerprogramm zu entwickeln, das das menschliche Gehirn wirklich eins zu eins nachbildet, sodass ihr auch außerhalb dieses Raums Unterricht bekommen werdet. Mehr will ich dazu jetzt nicht sagen. Stattdessen will ich euch in die Wunderwelt von MAP eintauchen lassen.« Er nahm ein Klemmbrett zur Hand und spähte über den Rand seiner Brille hinweg.

»Sebastian, du nimmst die grüne Kabine. Philip die violette. Lexi die orangefarbene, Christopher die rote, Rex die blaue und Daisy, ich glaube, dir gefällt Rosa recht gut.«

Daisy nickte begeistert.

»Wunderbar! Dann rein mit euch. Viel Spaß. Und anschnallen nicht vergessen«, sagte der Professor.

»Anschnallen?«, fragte Daisy auf dem Weg zu den Kabinen.

»Damit du dich nicht bewegen kannst, wenn sie mit dem Bohren anfangen«, flüsterte ihr Rex im Vorbeigehen ins Ohr.

Chris eilte zu seiner Kabine, drehte am Türknauf und stieg ein. In die Kabine war ein Sitz eingebaut, der den ganzen Raum einnahm und mit rotem Gurtzeug versehen war. Chris schnallte sich an und zog die Gurte fest, nur für den Fall. Dann lehnte er sich zurück. Im nächsten Moment schloss sich automatisch die Tür und es wurde stockdunkel. Er wartete eine Weile, und als er sich schon zu fragen begann, ob er etwas tun musste, um das Ding in Betrieb zu setzen, begannen die Wände zu leuchten und wurden immer heller, bis er um sich herum und über sich nur noch blauen Himmel sah. Er spähte nach unten, an seinen Füßen vorbei, und erblickte weit unter sich grüne Wiesen und Felder. Er drehte den Kopf zur Seite und der Sessel drehte sich mit, bis er wieder nach vorn blickte. Sofort blieb der Sessel stehen. Chris grinste. Er drehte den Kopf auf die andere Seite und wieder folgte der Sessel seinem Blick im Kreis herum. Dann drehte er den Kopf abrupt in die entgegengesetzte Richtung und sofort machte sein ganzer Körper die Bewegung mit.

Er wollte es gerade noch einmal ausprobieren, da neigte sich der Sitz leicht nach vorn und die weite smaragdgrüne Fläche unter ihm füllte den gesamten Bildschirm aus. Im nächsten Moment kippte der Stuhl noch weiter nach vorn und kam erst wieder zum Stehen, als Chris, der davon völlig überrascht war, beinahe waagerecht über dem Boden hing. Instinktiv griff er in das Gurtzeug und hielt sich daran fest, während er mit seinem ganzen Gewicht nach unten gezogen wurde. Plötzlich spürte er, wie er vom Himmel fiel und auf das Meer aus Grün zuraste. Er wusste nicht genau, ob er selbst sich bewegte oder das Bild, aber alles wirkte so echt, dass er das Gefühl hatte, wirklich zu fliegen und nicht in einem Kasten zu sitzen.

Als der Boden näher kam, richtete sich der Sitz wieder auf und Chris erblickte in der Ferne eine Wiese mit weißen Blumen, und mitten auf der Wiese stand eine Frau in einem roten Kleid. Er glitt direkt auf sie zu, und das Bild wurde immer deutlicher, bis er erkennen konnte, dass die Frau langes, glattes, braunes Haar hatte, in dem auf einer Seite eine gelbe Blume steckte. Das dunkelrote Kleid, das sie trug, reichte bis zum Boden und schwang im Wind sanft um ihre Beine. Sie hob den Kopf, als Chris nahte, und winkte. Sie war ohne Zweifel die schönste Frau, die er je gesehen hatte, und als sie ihm zulächelte, spürte er, wie ihn eine tiefe Ruhe überkam. Der Flug endete und er bemerkte, dass er wieder aufrecht dasaß.

»Guten Morgen, Christopher«, sagte sie mit sanfter Stimme.

Chris erwiderte nichts, sondern sah ihr nur wie gebannt in die Augen.

»Ich heiße Cassandra«, fuhr sie fort, »und bin deine Lehrerin. Sitzt du bequem? Hast du einen Wunsch?«

Chris sagte noch immer nichts und fragte sich, was wohl als Nächstes geschehen würde.

»Du brauchst nicht nervös zu sein, Christopher. Ich bin ein Computerprogramm, aber du kannst mit mir reden. Ich kann dir antworten wie ein Mensch. Sitzt du bequem?«

»Äh …ja«, antwortete er mit roboterhafter Stimme und beugte sich zu einem imaginären Mikrofon vor, damit der Computer ihn verstehen konnte.

»Wunderbar. Lehn dich zurück und entspann dich. Ich kann dich klar und deutlich hören.«

Chris lehnte sich steif zurück.

»Vielleicht würde dir ein Schluck Wasser guttun«, sagte Cassandra und Chris spürte ein leichtes Rumpeln unter seinem rechten Arm. »Heb die Armlehne hoch«, wies sie ihn sanft an.

Chris zog den Arm weg und klappte die Armlehne hoch. Darunter kam ein beleuchtetes Fach zum Vorschein, in dem eine Flasche Wasser lag. Er nahm sie heraus, schraubte den Deckel ab, trank einen kräftigen Schluck, legte sie zurück und klappte die Armlehne wieder herunter. Er schaute auf und Cassandra lächelte.

»Besser?«

Er nickte.

»Gut. Wie gesagt, ich heiße Cassandra und habe die Aufgabe, dich im Gebrauch deiner GABE zu unterweisen. Aber ich habe meine Grenzen. Ich kann dir nur die Grundlagen beibringen, danach musst du deine Fähigkeiten an richtigen Menschen und ihren komplizierten Gehirnen schulen. Kannst du mir folgen?«

»Ja«, antwortete Chris, schon etwas entspannter.

»Gut. Dann wollen wir anfangen.«

Die Wiese wurde wieder weggezoomt und Cassandra blieb unter ihm auf dem Boden zurück. Er stieg rückwärts immer höher und höher, bis sie nur noch ein roter Punkt in der grünen Landschaft war, dann machte er plötzlich eine scharfe Wendung und flog vorwärts weiter. Er überquerte weitere Wiesen, geriet in eine Nebelbank, und als er auf der anderen Seite wieder herauskam, erblickte er vor sich eine Hütte mit Strohdach, umgeben von dunklem Wald. Die Tür der Hütte wurde immer größer, und als sie den ganzen Bildschirm einnahm, schwang sie auf und Chris blickte in ein Zimmer mit einem Holztisch und zwei Stühlen. Auf einem der Stühle saß Cassandra und lächelte ihn an. Auf dem Tisch stand eine schlichte weiße Kerze, deren kleine Flamme die einzige Lichtquelle im Raum war. Chris drehte den Kopf und der Sitz drehte sich mit und gab den Blick auf den hinteren Teil der Hütte frei, der fast vollständig im Dunkeln lag. Chris blinzelte, beugte sich vor und konnte die Umrisse einer Art Kommode ausmachen.

»Komm, setz dich zu mir«, ertönte Cassandras Stimme hinter ihm. Chris drehte sich wieder um, und das Bild führte ihn tiefer in den Raum hinein, bis er ihr gegenüber am Tisch saß.

»Die leichteste Fähigkeit, mit der wir anfangen, ist die Telekinese. Weißt du, was das ist?«

»Nein.«

»Das ist die Fähigkeit, Gegenstände nur mithilfe deiner Geisteskräfte zu bewegen oder zu beeinflussen. Wir beginnen mit einer sehr einfachen Aufgabe. Ich möchte, dass du dich auf die Flamme der Kerze konzentrierst. Ich möchte, dass du dir vorstellst, wie sie größer und dann wieder kleiner wird. Du darfst an nichts anderes denken, nur an die Kerze, und du musst in deinen Gedanken sehen, wie die Kerze genau das tut, was du willst. Hast du verstanden?«

»Ja«, sagte Chris.

»Okay, dann fang an.«

Die Kerze kam ins Bild und Chris betrachtete sie konzentriert. Er stellte sich vor, wie sie größer wurde, und die Flamme flackerte leicht.

»Gut«, sagte Cassandra. »Ausgezeichnet, weiter so. Stell dir vor, wie sie größer und dann wieder kleiner wird.«

Chris stellte sich die Flamme größer vor, und die Flamme flackerte noch etwas heftiger, dann vernahm er einen leisen Knall, und sie erlosch. Tiefe Dunkelheit umgab ihn.

Er hörte, wie ein Streichholz angerieben wurde, und die Flamme erschien wieder.

»Das Problem war, dass du der Kerze nicht deine ganze Aufmerksamkeit gewidmet hast. Du musst vergessen, dass ich hier bin und dass die Kerze nicht echt ist. Du darfst nur den einen Gedanken im Kopf haben: Ich muss diese Flamme kontrollieren. Wenn es dir hilft, übertreibe. Stelle dir vor, wie eine riesige Flamme daraus wird und dann eine winzig kleine.«

Chris wollte Cassandra unbedingt beeindrucken. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Kerze und konzentrierte sich darauf, wie die Flamme größer wurde. Wieder flackerte sie wie bei erstem Mal, aber Chris ließ sich davon nicht beirren und langsam begann die Flamme zu wachsen.

»Gut, Chris, wunderbar! Mach weiter.«

Die Flamme wuchs weiter, bis sie ungefähr dreißig Zentimeter hoch war, und dann stellte er sich vor, wie sie kleiner wurde, und die Flamme begann zu schrumpfen, bis sie wieder ihre Ausgangsgröße erreicht hatte.

»Gut so, Chris. Und jetzt mach sie wieder größer.«

Chris legte seine ganze Kraft in den Gedanken und zwang die Flamme, größer zu werden, und sie begann wieder zu wachsen, immer schneller und schneller, bis ein Blitz aufflammte und den Bildschirm um ihn herum in grelles Weiß tauchte.

Chris zuckte zusammen und riss die Hände hoch, um seine Augen vor dem blendenden Licht zu schützen.

Das Licht verblasste, Cassandra erschien wieder vor ihm und die Kerze brannte hell.

»Ich glaube, wir können von einem gelungenen ersten Versuch sprechen, Chris. Ich bin sehr stolz auf dich.«

Chris errötete. »Was ist passiert?«, fragte er.

»Es ist dir gelungen, die komplette Hütte in die Luft zu sprengen. Das ist nicht ganz das, was mir vorgeschwebt hat, aber es zeigt mir das unglaubliche Potenzial, das in dir steckt, Chris. Das Problem ist nur: Je mehr Kraft du von Natur aus hast, desto mehr Schaden kannst du damit anrichten. Du wirst lernen müssen, sie zu beherrschen. Aber dafür bin ich ja da. Und jetzt zum zweiten Teil der Lektion. Komm mit.«

Cassandra erhob sich, und Chris’ Blickwinkel änderte sich, als wäre er ebenfalls aufgestanden. Sie drehte sich um und sein Blick folgte ihr aus der Hütte und einen Steinpfad entlang, der in einen dichten Wald führte. Er blieb stehen und schaute ihr nach, wie sie in den Wald ging, bis er nur noch das schwache rote Leuchten ihres Kleides und schließlich gar nichts mehr sah. Er lehnte sich in seinem Sitz vor, und plötzlich umschloss ihn der Wald, als laufe er hinter ihr her, um sie einzuholen. Dann war er bei ihr. Sie stand auf einer dunklen Lichtung, über die sich hohe Bäume lehnten. Das Sonnenlicht schimmerte durch die Blätter und tauchte alles in ein grünes Licht.

»Sieh nach unten, Christopher«, sagte Cassandra. Seine Augen folgten ihren zu dem Bildschirm unter seinen Füßen, und er stellte fest, dass er mitten in einem Kreis aus Steinen stand.

»Das ist deine Schutzzone. Wenn du irgendetwas auftauchen siehst, musst du deine GABE anwenden und es mithilfe deiner GABE in den Wald zurückdrängen, bevor es in den Kreis eindringt. Lass es uns üben«, sagte sie, und er sah, dass sie einen kleinen roten Ball in der Hand hielt. »Bist du bereit?«

Chris nickte und Cassandra verschwand, nur um im nächsten Moment am Rand der Lichtung wieder aufzutauchen. Sie kniete sich hin, holte langsam mit dem Arm aus und warf den Ball in seine Richtung.

»Sieh ihn an und stell dir vor, wie er in den Wald zurückfliegt.«

Kaum hatte Chris den Blick auf den Ball geheftet, wurde der Ball langsamer, kam in der Luft zum Stehen und flog dann langsam zurück, direkt in Cassandras Hand.

»Gut gemacht, lass es uns gleich noch mal versuchen«, hörte er sie sagen, aber sie war verschwunden und ihre Stimme kam jetzt von hinten. Er drehte den Kopf, und der Sitz drehte sich mit, bis er sie direkt vor sich sah. Der Ball hatte ihre Hand bereits verlassen und die Hälfte der Strecke zu ihm zurückgelegt. Er fixierte ihn rasch und zwang ihn zur Umkehr, aber diesmal wurde der Ball nicht langsamer, sondern schnellte mit voller Wucht zurück, traf Cassandra im Gesicht und warf sie zu Boden. Chris blickte entsetzt.

»Das tut mir leid … Das wollte ich nicht …«

Cassandra kicherte und rappelte sich auf. »Nichts passiert. Aber ich glaube, du brauchst keine Übung mehr. Lass uns anfangen. Gleich werden verschiedene Tiere auf die Lichtung treten. Deine Aufgabe ist es, mithilfe deiner GABE zu verhindern, dass sie von dem Futter fressen«, sagte sie und verschwand.

»Futter?«, fragte er und sah sich um. Da bemerkte er, dass statt der Steine jetzt Käsestücke zu seinen Füßen lagen.

Er blickte nervös und gespannt in die Runde, aber nichts geschah. Überzeugt, dass sich hinter ihm etwas bewegte, drehte er sich schnell um, aber da war nichts, und er drehte sich wieder nach vorn, doch die Lichtung lag immer noch verlassen da. Ruckartig drehte er sich wieder in die andere Richtung, und mit einem Mal stellte er fest, dass er immer schneller im Kreis wirbelte, bis die Bäume um ihn herum zu einer dunklen Masse verschwammen. Er klammerte sich an die Lehnen des Sitzes und versuchte, den Kopf gerade zu halten. Langsam wurde ihm schlecht.

»Stell dir einfach vor dass du anhältst«, flüsterte ihm Cassandras Stimme sanft ins Ohr, als stünde sie direkt neben ihm.

Chris stellte es sich vor und sofort blieb der Stuhl stehen. Er seufzte erleichtert auf, aber noch bevor er sich erholen konnte, ließ ihn ein Rascheln aufhorchen. Es kam von dem Baum vor ihm. Er setzte sich aufrecht hin, spähte ins Laub und wartete mit pochendem Herzen darauf, dass ein Tier erschien.

Quiek!

Er blickte sich um.

Quiek!

Er spähte wieder ins Laub und da sah er ein spitzes Näschen und Schnurrhaare auftauchen.

Ach so, deshalb der Käse, dachte er und beobachtete, wie eine kleine braune Maus nervös auf die Lichtung trippelte. Er fragte sich, ob er jetzt anfangen sollte, da sah er, wie die Maus mit der Nase zuckte und dann auf einmal losschnellte. Mit ihren Pfoten wirbelte sie die Erde zu einer kleinen Staubwolke auf, die förmlich auf Chris zuflog.

Chris richtete den Blick fest auf die Wolke und wünschte sich, dass sie umkehrte.

Kaum hatte er diesen Gedanken gefasst, blieb die Maus wie erstarrt stehen und der Staub legte sich.

Chris konnte nicht glauben, wie leicht es war.

»Tut mir leid, kleine Maus, heute bekommst du keinen Käse«, sagte er und drängte die Maus in seinen Gedanken zurück. Die Maus quiekte, machte kehrt und flüchtete in das Dunkel unter den Bäumen.

Bevor Chris noch dazu kam, sich selbst zu gratulieren, sah er, dass der Käse am Boden durch Karotten ersetzt war. Zu seiner Linken knackte ein Zweig und ein Kaninchen erschien. Es schaffte nur zwei kleine Hopser in seine Richtung, ehe er es zum Stehen brachte. Das Kaninchen guckte verdutzt, fuhr herum und hoppelte schleunigst den Weg zurück, den es gekommen war.

Chris fand nun seinen Rhythmus, und als er erneut herumwirbelte, erspähte er eine Katze, die sich gerade niederkauerte, um nach dem Fisch zu springen, der nun zu seinen Füßen lag. Doch bevor sie dazu kam, heftete er seinen Blick auf sie und sie wich ängstlich zurück und trollte sich mit einem traurigen Miauen. Sekunden später drehte er sich zur Seite und entdeckte die auffallend blauen Augen eines weißen Wolfs im Gebüsch. Er sah nach unten. Um ihn herum lagen, säuberlich verteilt, große frische Fleischstücke. Der Wolf trat aus dem Schutz des Unterholzes und knurrte. Dann preschte er vor, aber Chris war darauf gefasst. Er sah ihm in die Augen und nach wenigen Sätzen blieb der Wolf stehen, warf sich vor ihm auf den Boden, wälzte sich auf den Rücken, streckte die Pfoten in die Luft und sah ihn mitleidheischend an. Chris zuckte nicht mit der Wimper. Schließlich sprang der Wolf wieder auf und lief davon.

Chris schaute sich um und wartete auf das Erscheinen des nächsten Tieres, als ihn das Brechen von Ästen hochschrecken ließ, gefolgt von einem lauten, tiefen Brummen, das ihm durch und durch ging. Das Brummen kam langsam näher und ihm wurde ganz mulmig zumute. Er blickte zu Boden. Diesmal lag nichts da. Um ihn herum war nur trockene Erde

»Wo ist das Futter?«, fragte Chris und sah sich verzweifelt um. »Ich kann das Futter nicht sehen!« Das Brummen wurde immer lauter. Panische Angst befiel ihn. Er holte ein paarmal tief Luft und sagte sich, dass er ja nur ein harmloses Computerspiel spielte, aber es half nichts – alles wirkte so echt. Das Brummen wurde noch lauter und Chris erstarrte. Vielleicht, so dachte er, kann mir diese Maschine doch etwas tun, und je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war er davon.

Ein Krachen ganz in der Nähe riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte den Kopf und sah hin. Zwei große Pranken fassten hinter einem Baum hervor und zerrten an einem Ast. Der Ast knickte ab und fiel zu Boden und im nächsten Moment trat ein riesiger brauner Bär auf die Lichtung. Chris stockte der Atem. Der Bär blickte genau in seine Richtung, und da begriff Chris, warum kein Futter am Boden lag. Er selbst war das Futter.

Der Bär stellte sich auf die Hinterbeine und stieß ein lautes, tiefes Brüllen aus, das die Bäume ringsum erzittern ließ. Chris zuckte zusammen und lehnte sich so weit wie möglich im Sitz zurück. Er vergaß völlig, dass er von seiner GABE Gebrauch machen sollte und dass der Bär nicht echt war. Alles, woran er denken konnte, war, dass der ihn gleich in Stücke reißen würde, und voller Entsetzen sah er, wie der Bär zum Angriff überging und auf ihn zustürzte.

Instinktiv hob er die Arme, um sich zu schützen.

»Deine GABE, Christopher, benutze deine GABE«, hörte er Cassandras Stimme.

Er schloss panisch die Augen und versuchte verzweifelt, sich auf seine GABE zu besinnen, aber sein Herz klopfte so heftig, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Er machte die Augen wieder auf – und blickte in den weit aufgerissenen Rachen des Bären. Im selben Moment wurde der Bildschirm um ihn herum schwarz.

Chris bemerkte, dass er schwitzte, wischte sich mit dem Handrücken die Stirn ab und holte tief Luft.

Der Bildschirm erwachte zum Leben und Chris war wieder von Wald umgeben. Cassandra stand vor ihm und lächelte.

»Das hast du sehr gut gemacht.«

»Also ich weiß nicht. Den Bären habe ich nicht bezwungen. Ich dachte … ich dachte, er würde mich zerreißen.« Noch während er die Worte aussprach, begriff er, wie lächerlich sie waren.

Cassandra lachte. »Hier drin bist du sicher, Christopher, das versichere ich dir. Du hast deine Sache sehr gut gemacht – allein dass du dieses Niveau erreicht hast, zeigt, dass du ein hochtalentierter Junge bist. Sei also nicht so streng mit dir. Schließlich war es deine erste Lektion. Du wirst da noch viel Übung bekommen – bald wirst du Bären nur so durch die Gegend fliegen lassen!«

Chris spürte, wie sein Puls ruhiger wurde. Er lächelte.

»So ist es schon besser«, sagte Cassandra. »Wie fühlst du dich?«

»Gut. Müde.«

»Kein Wunder, du hast ja auch schwer gearbeitet. Komm erst einmal wieder zu dir. Trink einen Schluck und iss ein Stück Schokolade, das gibt dir frische Energie.«

Chris klappte die Armlehne hoch, nahm die Flasche und einen Schokoriegel aus dem Fach, der zuvor noch nicht dagelegen hatte.

»Danke«, sagte er und biss ein Stück von dem Riegel ab.

»Gern geschehen. Wir sehen uns morgen zu deiner nächsten Lektion. Und, Christopher …«

»Ja?«

»Ich bin stolz auf dich«, sagte sie mit einem Lächeln. Das Bild Cassandras verblasste und dann wurden die Bildschirme um ihn herum heller, bis auf allen nur noch sanft wirbelndes Wasser zu sehen war. Klassische Musik erklang und Chris lehnte sich im Sitz zurück und atmete tief durch. Nach ein paar Minuten schob er den restlichen Riegel in den Mund, spülte ihn mit einem Schluck Wasser hinunter und schnallte sich los. Die Tür vor ihm ging auf und er erhob sich und trat hinaus in das Klassenzimmer, das wieder dunkel war und nur vom Schimmern der Kabinen ein wenig erhellt wurde. Im selben Moment öffneten sich auch die anderen Türen und die übrigen Kinder stießen zu ihm.

Professor Ingleby stand an der Tür, erwartungsvoll die Augenbrauen erhoben und die Hände verschränkt.

»Willkommen zurück! Hat euch das Abenteuer gefallen?«

»Fantastisch!«, rief Sebastian.

»Verblüffend!«, sagte Lexi.

Chris nickte begeistert. »Ja, es war der Wahnsinn.«

Philip ging zu Professor Ingleby hin und schüttelte ihm die Hand. »Unvergleichlich«, sagte er und der Professor lächelte erfreut.

»Zuerst hatte ich Angst«, berichtete Daisy lächelnd, »aber ich habe mir immer wieder gesagt, dass das alles nicht echt ist, und nach einer Weile habe ich es richtig genossen!«

»Angst?«, sagte Rex und trat nach vorn. »Du hast vor Seifenblasen Angst gehabt?«

»Seifenblasen?«, fragten alle im Chor.

Rex blickte verwirrt in die Runde.

»Ja, Seifenblasen. Eine Kerze und ein paar bescheuerte Seifenblasen, die da durch die Luft geschwebt sind.«

»Eine Kerze schon, aber Seifenblasen habe ich nicht gesehen«, sagte Sebastian.

»Ich auch nicht«, bekräftigte Philip.

Rex trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und sagte: »Dann habt ihr nicht mit so einem bescheuerten Armeetypen auf einer Wiese gestanden, der ständig gebrüllt hat, dass ihr die Seifenblasen nach links bewegen sollt?«

Lexi kicherte. »Nein, du etwa?«

Der Professor trat zu Rex und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Na, na, wir wollen doch nett zueinander bleiben, Kinder«, sagte er. »Vielleicht ist Telekinese nichts für dich, Rex. Aber ich bin sicher, du hast andere Stärken.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Lexi und bedachte Rex mit einem spöttischen Grinsen.

Rex funkelte sie an, drehte sich dann plötzlich um und stürmte aus dem Raum.

»Der arme Kerl«, sagte der Professor, »das hat ihn wohl getroffen. Vielleicht solltet ihr ihm nach und ihn trösten. Für heute ist der Unterricht beendet.«

Die Kinder bedankten sich bei ihm, kehrten eilends in den Garten zurück, rannten den Hügel hinauf und sanken am Fuß des Baumes zu Boden.

»Glaubt ihr, dass das alles wahr ist?«, fragte Chris.

»Was?«, fragte Lexi.

»Das mit der GABE. Ich meine, es war ein gutes Computerprogramm, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass wir wirklich tun können, was Sir Bentley gesagt hat. Glaubt ihr, wir haben tatsächlich diese Gabe?«

»Natürlich ist es wahr!«, rief Daisy. »Sie würden uns doch nicht anlügen.«

Philip zuckte mit den Schultern. »Chris hat nicht so ganz unrecht. Wir wissen eigentlich gar nichts über den Laden.«

»Nun, es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden«, sagte Lexi und stand auf.

»Was hast du vor?«, fragte Daisy mit besorgter Miene.

Lexi fasste nach einem Ast über ihrem Kopf und riss ein Blatt ab, legte es auf den Boden, stellte sich mit verschränkten Armen davor und heftete ihren Blick darauf.

Ein paar Sekunden lang geschah nichts. Dann begann das Blatt zu zittern und richtete sich langsam auf, bis es auf seinem Stängel stand.

Gespannt sahen die Kinder zu, wie es sich langsam in die Luft erhob und schließlich vor Lexis Gesicht schwebte. Lexi blinzelte nicht, sie konzentrierte sich ganz auf das Blatt, das noch ein Stück höher stieg und dann in der Luft zu kreiseln begann.

»Es funktioniert!«, rief Lexi, während das Blatt an Höhe verlor, einmal um Daisys Kopf kreiste und dann plötzlich zu Boden fiel, ehe es von Neuem in die Luft stieg.

»Ich habe es übernommen«, rief Philip aufgeregt. »Aufgepasst, ich werde es jetzt in den Swimmingpool befördern.« Kaum hatte er das gesagt, begann das Blatt zu wirbeln und zum hinteren Teil der Glashalle zu segeln, wo es einen Augenblick lang über dem ruhigen Wasser des Swimmingpools schwebte und dann sanft auf seiner Oberfläche niederging.

Die Kinder beobachteten eine Weile, wie das Blatt auf dem blauen Wasser trieb, ehe Sebastian das Schweigen brach.

»Unglaublich!«, stieß er hervor.

»Hilfe, was ist denn jetzt los?«, rief Daisy in diesem Moment.

Die anderen drehten sich nach ihr um. Daisy schwebte im Schneidersitz einen halben Meter über dem Boden.

»Es funktioniert auch bei Menschen!«, lachte Lexi und ließ Daisy noch ein Stück steigen, bis sie über ihnen mit den Beinen in der Luft strampelte.

»Hilfe!«, schrie Daisy.

Lexi lachte und Daisy stieg noch höher.

»Lass mich runter!«

Da kamen wie aus dem Nichts Ron und John den Hügel heraufgestürmt. Ron packte Lexi, warf sie zu Boden und drückte ihr die Arme an die Seite. Daisy fiel nach unten und landete mit einem Plumps im Gras.

Ron, der Lexi noch an den Armen festhielt, blickte zu John, der Daisy auf die Beine half. Chris und die anderen saßen vor Schreck regungslos da.

»Was nun?«, fragte Ron keuchend und blickte ratlos zu John.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete der.

»Lass das Mädchen los, Ron«, rief eine Stimme. Chris drehte sich um. Sir Bentley kam mit energischen Schritten den Hügel herauf.

Ron blickte wieder zu John, als wüsste er nicht, was er tun sollte, und John nickte. Ron erhob sich langsam, und Lexi setzte sich auf, unverletzt, aber noch ganz verstört.

»Das Mädchen hat … na ja … ich weiß auch nicht genau, was sie getan hat, aber es hat nicht gut ausgesehen«, erklärte Ron und klopfte sich das Gras von der Hose, ohne Lexi aus den Augen zu lassen.

Sir Bentley nickte. »Verstehe. Ich hätte euch früher instruieren sollen. Kommt in zehn Minuten in mein Büro, dann erkläre ich es euch. Zuerst muss ich mit den Kindern reden.«

»Jawohl, Sir«, sagten Ron und John wie mit einer Stimme.

Sir Bentley sah ihnen nach, wie sie aus der Glashalle gingen. Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, wandte er sich den Kindern zu. Beim Blick in sein erzürntes Gesicht bekam Chris ein mulmiges Gefühl.

»Ihr dürft die GABE niemals, hört ihr, niemals an einem Mitschüler ausprobieren. Oder an irgendeiner anderen Person, außer es ist ein Lehrer dabei. Wisst ihr eigentlich, wie mächtig die GABE ist?«

Die Kinder schauten verlegen nach unten und schwiegen.

»Mit dem, was ihr hier lernt, könntet ihr einen Menschen töten, wenn ihr nicht aufpasst – und das ist keine Übertreibung. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass ihr euch an die Regeln haltet. Wenn ihr das nicht könnt, dann seid ihr in Myers Holt fehl am Platz. Habt ihr verstanden?«

Sir Bentley blickte von einem Kind zum anderen, und als er ihre reumütigen Gesichter sah, legte sich sein Zorn.

»Vermutlich konntet ihr das nicht wissen. Aber tut es nie wieder. Ich möchte nicht, dass einer von euch zu Schaden kommt. Verstanden?«

Alle nickten.

»Gut.« Er schaute sich um. »Wo ist eigentlich Rex?«

»Das wissen wir nicht«, antwortete Chris. »Er hat den Unterrichtsraum vor uns verlassen.«

»Ja, ich weiß von Professor Ingleby, was vorgefallen ist. Weit kann er nicht sein.«

Und tatsächlich, als sie Sir Bentley in den Kartenraum folgten, stand Rex mit verschränkten Armen am Billardtisch und starrte aus halb zusammengekniffenen Augen auf die Kugeln.

Lexi lachte und ging, während Sir Bentley und die anderen auf die Sofas zusteuerten, zur anderen Seite des Tischs. Sie richtete den Blick auf die grüne Spielfläche, und schon nach wenigen Sekunden gerieten die Kugeln in Bewegung, stoben nach allen Seiten auseinander, prallten von den Banden zurück und gegeneinander. Dann fasste Lexi eine bestimmte Kugel ins Visier und lochte sie mit einem kurzen Blick ein, dann eine zweite und eine dritte. Sekunden später hatte sie alle Kugeln versenkt und sah Rex mit einem spöttischen Grinsen an.

»Du solltest lieber bei deinen Seifenblasen bleiben«, sagte sie.

Rex erwiderte ihren Blick und suchte vergeblich nach einer schlagfertigen Antwort, dann stürmte er, knallrot im Gesicht, in Richtung Tür. Sir Bentley trat ihm in den Weg und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Rex, auch du hast besondere Fähigkeiten, sonst wärst du nicht hier, glaube mir. Nimm dir Zeit … du findest schon noch heraus, welche.«

Rex zuckte mit den Schultern. »Ist mir egal.«

»Nein, ist es nicht«, sagte Sir Bentley, »und das ist auch gut so. Beharrlichkeit ist der Schlüssel zum Erfolg. Du darfst nicht bei der ersten Hürde aufgeben.«

Rex schaute zu Sir Bentley auf, und die anderen konnten sehen, dass er rote Augen hatte.

»Komm, setz dich zu uns«, sagte Sir Bentley sanft. »Ich weiß, es war ein anstrengender Tag, aber es werden auch ruhigere kommen. Wie wär’s, wenn wir alle noch einmal von vorne anfangen, als Freunde?« Er blickte zu Lexi und deutete mit dem Kopf auf Rex.

Lexi seufzte. »Na schön. Aber hör auf, dich wie ein Baby zu benehmen, Rex, und setz dich.«

Rex zögerte einen Moment, dann gab er sich einen Ruck und ging zu dem Sessel am Kamin.

»Na wunderbar«, sagte Sir Bentley, »dann wäre ja alles wieder im Lot. So, und jetzt muss ich euch fragen, ob ihr bleiben wollt.«

Chris, Sebastian, Lexi und Philip nickten begeistert.

»Daisy?«

Daisy spitzte nachdenklich die Lippen, dann lächelte sie. »Ich möchte bleiben.«

»Und du, Rex?«

Rex zuckte mit den Schultern. »Ja, gut, ich bleibe. Selbst dämliche Seifenblasen sind immer noch besser als eine Geschichtsstunde an meiner Schule.«

»Freut mich zu hören«, sagte Sir Bentley. »Ich habe großes Vertrauen in jeden von euch und glaube, dass ihr das erfolgreichste Team aller Zeiten in Myers Holt werdet. Nun muss ich aber gehen und mit Ron und John reden, die wahrscheinlich eine Menge Fragen an mich haben. In einer Stunde gibt es Abendessen, und ich schlage vor, dass ihr heute früh zu Bett geht – morgen erwartet euch ein volles Unterrichtsprogramm.« Er wandte sich zum Gehen, blieb aber noch einmal stehen und drehte sich um.

»Eins noch. Ich möchte noch einmal betonen, wie mächtig die GABE ist. Ich weiß, dass ihr alle darauf brennt, die neuen Fähigkeiten, die ihr hier in Myers Holt erlernt, zu erproben, und wir ermuntern euch auch dazu … aber es muss im Rahmen bleiben. In diesem Zusammenhang dürfte euch interessieren, dass Blei die GABE wirkungslos macht. Das ganze Gebäude ist damit ausgekleidet, um euch zu schützen. Was eure Lehrer angeht, nun ja, es wäre nicht gerade praktikabel für uns, Blei mit uns herumzutragen – vor allem, weil man den ganzen Kopf damit bedecken müsste. Stattdessen sind alle Lehrer darauf geschult, euch daran zu hindern, in ihre Gedanken einzudringen. Vergesst das nicht, falls ihr jemals in Erwägung ziehen solltet, eure GABE an einem Mitglied des Lehrkörpers auszuprobieren. Aber ich denke, ich kann mich darauf verlassen, dass ihr dergleichen gar nicht erst versuchen werdet. Habt ihr das verstanden?«

»Ja, Sir«, antworteten sie.

»Gut. Das wäre dann alles. Gute Nacht. Wir sehen uns morgen.«

Maura servierte das Abendessen im Speiseraum und leise klassische Musik untermalte das Gespräch der Kinder, die sich begeistert über die Ereignisse des Tages unterhielten.

»Er war alt«, erzählte Lexi von ihrem Lehrer aus dem Trainingsprogramm, »ein bisschen wie der Direktor meiner bisherigen Schule, und er sprach ganz langsam und mit tiefer Stimme.«

»Wie heißt er?«, fragte Daisy.

»Prometheus!« Lexi lachte. »Ich musste ihn ungefähr zehnmal fragen und er sagte immer wieder ganz langsam Proooo…meeee…theeeus.« Sie imitierte ihn mit tiefer, dröhnender Stimme.

»Meiner heißt Baltasar«, sagte Sebastian. »Er nur trägt weißes Hemd und Jeans, und er auch spanisch spricht.«

Chris erzählte ihnen von Cassandra.

»Oh, die scheint nett zu sein«, sagte Daisy. »Meine ist auch ein bisschen so – sie heißt Astra.«

»Ich wette, sie war rosa angezogen«, sagte Rex.

Daisy nickte begeistert, ohne den Spott in seiner Stimme zu bemerken. »Genau! Ein schönes, langes hellrosa Kleid, das in der Sonne glitzert.«

»Das klingt ja allerliebst«, bemerkte Rex und verdrehte die Augen.

»Das ist es auch«, sagte Daisy verträumt.

»Und wie ist deiner, Philip?«, fragt Chris.

»Er hat lange, weiße Haare und trägt weiße Gewänder. Sein Name ist Zeno.«

»Und deiner ist bei der Armee?«, fragte Chris, an Rex gewandt.

»Ja. Außerdem ist er gemein und schreit die ganze Zeit herum. Ich weiß auch nicht, warum ich ausgerechnet so einen bekommen habe. Ein Lehrer in einem Kleid wie der von Einstein wäre mir lieber.«

»Kein Kleid«, verbesserte ihn Philip genervt. »Ein Gewand.«

»Kleid, Gewand, ist doch egal – Hauptsache, man wird nicht eine Stunde lang angebrüllt«, erwiderte Rex und legte Messer und Gabel weg. »Ich gehe duschen.«

Er verließ den Raum und bald darauf folgten die anderen seinem Beispiel und sagten Gute Nacht.

Chris führte den staunenden Philip durch ihr mondbeschienenes Zimmer.

»Was ist in den Holzkabinen unter den Betten?«, fragte Philip.

»Keine Ahnung«, antwortete Chris. »ich hab noch gar nicht richtig nachgesehen.« Er öffnete die Tür seiner Kabine und trat hinein. Da stand ein kleiner Schreibtisch mit einer Lampe darauf. Er setzte sich in den bequemen Drehstuhl, der davorstand, knipste die Lampe an und besah sich die Bücher, die neben ihm in einem Regal standen – hauptsächlich Schulbücher für die Oberstufe. Dann zog er die Schublade des Tisches auf. Sie war voller Schreibutensilien und Hefte.

»Morgen früh haben wir als Erstes Sport … Schwimmen«, rief Philip aus dem Innern seiner Kabine.

»Woher weißt du das?«, fragte Chris.

»Aus dem Myers-Holt-Ordner im Regal.«

Chris schaute nach oben und entdeckte am anderen Ende einen schwarzen Ordner mit unbeschriftetem Rücken. Er zog ihn heraus, legte ihn auf den Tisch und schlug ihn auf. Er war leer bis auf eine neue Registereinlage und einen laminierten Stundenplan ganz vorn. Und tatsächlich, die erste Stunde am Dienstag war Sport, gefolgt von Gedankenlesen bei Ms Lamb um 10.30 Uhr und Thinktank-Training nach dem Mittagessen. Den Abschluss bildete der Allgemeinunterricht bei Miss Sonata.

Chris klappte den Ordner wieder zu und kehrte ins Zimmer zurück. Er spähte in Philips Kabine. Philip blätterte gerade in einem der Bücher aus dem Regal.

»Ich geh duschen oder willst du zuerst?«, fragte er.

»Nein, geh nur«, antwortete Philip, ohne aufzuschauen. »Ich möchte noch das Kapitel über höhere Physik fertig machen, das ich angefangen habe.«

»Okay«, sagte Chris, und im selben Moment ging die Tür auf und Maura trat ein.

»Deine Mutter ist am Telefon, mein Junge«, sagte sie. »Willst du mit ihr sprechen?«

»Meine Mum?«

»Ja. Sie hat gefragt, ob sie dich sprechen kann, aber du musst nicht, mein Junge, wenn du … dich noch nicht dazu in der Lage fühlst.«

Chris errötete, denn ihm war klar, dass Philip jedes Wort hören konnte.

»Nein, ist schon in Ordnung. Wo steht denn das Telefon?«

Chris folgte Maura durch den Gang, vorbei an den Zimmern und in einen kleinen Raum, in dem nur ein Sessel und ein kleiner Tisch mit dem Telefon darauf standen. Er wartete, bis Maura die Tür geschlossen hatte, dann griff er zum Hörer.

»Christopher?«

»Hi, Mum, ist alles in Ordnung?«, fragte Chris, der sich trotz allem, was geschehen war, Sorgen um sie machte.

»Mir geht es gut. Chris … es tut mir so leid. Ich hätte dich nicht wegschicken dürfen.«

Es war das erste Mal, dass sich seine Mutter nach einem Streit bei ihm entschuldigte, und jeder Groll, den er gegen sie gehegt haben mochte, war in diesem Augenblick verschwunden.

»Ist schon in Ordnung, Mum.«

»Nein, das ist es nicht. Deine Lehrerin war hier und hat mir klargemacht, dass ich ungerecht zu dir war. Sie hat mir Hilfe angeboten und ich habe eingewilligt.«

»Was für Hilfe?«

»Sie hat für mich einen Arzttermin vereinbart.«

»Du willst aus dem Haus gehen?«, fragte Chris erstaunt.

»Ja, morgen«, antwortete sie, und Chris hörte die Aufregung in ihrer Stimme.

»Du musst nicht, wenn dir nicht danach ist, Mum.«

»Doch, ich muss. So kann es nicht weitergehen.«

»Willst du, dass ich nach Hause komme?«, fragte er.

»Nein, mein Schatz. Das muss ich allein tun. Hast du eine schöne Zeit?«, wechselte sie abrupt das Thema.

»Mir geht es gut«, sagte er. » Hast du etwas gegessen?«

»Ja, der Supermarkt hat heute ein paar Lebensmittel geliefert. Ich möchte nicht, dass du dir meinetwegen Sorgen machst. Lass es dir gut gehen in deiner neuen Schule.«

»Okay, Mum.«

»Gut. Ich gehe jetzt schlafen. Es war ein langer Tag. Und, Christopher …«

»Ja?«

Es folgte eine Pause.

»Ich habe dich sehr lieb.«

Chris blieb die Sprache weg. Solche Worte hatte er seit Jahren nicht mehr gehört.

»Chris? Bis du noch dran?«

»Ich habe dich auch sehr lieb, Mum«, sagte er endlich und legte auf. Er kehrte gedankenverloren auf den Gang zurück und traf dort auf Ron und John.

»Hi«, grüßte er schüchtern, ohne aufzuschauen. Die beiden blieben vor ihm stehen und traten dann wortlos beiseite, um ihn vorbeizulassen. Chris wusste nicht, was er noch sagen sollte, und so schlüpfte er zwischen ihnen hindurch Richtung Tür. Er wollte gerade nach der Klinke greifen, da hörte er Ron sagen:

»Ist es wahr?«

Er blieb stehen und drehte sich um.

»Wahr? Was denn?«

»Dass du … na ja … dass du übernatürliche Kräfte besitzt?«, sagte Ron, als bereite es ihm körperliche Schmerzen, eine so lächerliche Frage zu stellen.

»Ja, ich glaube schon«, antwortete Chris.

Ron erwiderte nichts und es entstand eine peinliche Pause. Die beiden Wachleute starrten Chris mit verschränkten Armen an und versuchten offensichtlich dahinterzukommen, ob er die Wahrheit sagte. Schließlich gab sich John einen Ruck:

»Beweise es.«

Chris stutzte. »Was?«

Ron sah John an und nickte beifällig.

»Tu etwas, um es zu beweisen – zaubere ein Kaninchen herbei oder so etwas.«

»Ich kann nicht aus dem Nichts ein Kaninchen herbeizaubern«, erwiderte Chris perplex.

»Was kannst du dann?«, fragte John.

Chris zuckte mit den Schultern. »So genau weiß ich das auch nicht. Heute ist der erste Tag. Wir können sehr schnell Dinge lernen und Gegenstände bewegen …«

»Egal was?«, unterbrach ihn Ron.

Chris hob erneut die Schultern. »Keine Ahnung, ich glaube, ja.«

»Dann heb John in die Luft.«

»Was?«, fragte Chris.

»Ich hab mir gleich gedacht, dass das nicht stimmen kann«, sagte Ron zu John, der, noch immer die Arme verschränkt, nickte.

»Nein, nein, ich kann es … glaube ich zumindest. Nur … ich darf nicht. Wenn Sir Bentley …«

»Wir können ein Geheimnis für uns behalten, wenn du es kannst. Außerdem ist Sir Bentley schon nach Hause gefahren.«

Chris überlegte.

»Gut«, sagte er schließlich. »Ich tu’s.«

Ron lächelte, aber John wirkte nicht ganz so begeistert.

»Augenblick noch … äh … aber nicht übertreiben – nur ein paar Zentimeter.«

Chris nickte, wandte John das Gesicht zu und ließ seinen Blick leer werden. Er konzentrierte sich darauf, John hochzuheben, und schon nach wenigen Sekunden durchfuhr ein Zittern Johns Körper und seine Riesenfüße hoben leicht vom Boden ab.

Ron und John sahen verblüfft nach unten.

»Oh, oh, das gefällt mir aber gar nicht«, sagte John, während er höherstieg. »Ganz und gar nicht«, wiederholte er, immer nervöser. Er ruderte mit den Armen, um in der Senkrechten zu bleiben. Chris ließ ihn dreißig Zentimeter über dem Boden schweben, doch dann schoss John plötzlich nach oben und knallte mit dem Kopf an die Decke.

Alle Konzentration war dahin, und Chris sah entsetzt zu, wie John auf den Boden zurückfiel und auf den Füßen landete. John rieb sich den Kopf.

»Das tut mir furchtbar leid«, sagte Chris hilflos. »Ich lerne noch – ich habe noch nicht viel geübt.«

Er zitterte vor Aufregung, während Ron und John an die Decke starrten. Chris folgte ihren Blicken und entdeckte eine große runde Delle im Gips. Einen Moment lang war es ganz still, dann brachen Ron und John gleichzeitig in Gelächter aus.

»Das ist unglaublich!«, rief Ron.

»Geht es Ihnen gut, John?«, fragte Chris, immer noch besorgt.

»Besser als der Decke.« John schüttelte sich vor Lachen. Dann wandten sich beide von Chris ab, ohne noch ein Wort zu sagen und immer noch lachend.

»Das gefällt mir aber gar nicht«, wieherte Ron im Weggehen und ruderte, John nachmachend, wild mit den Armen.

»Halt die Klappe, Ron«, sagte John, als sie um die Ecke bogen und verschwanden.

Chris wusste nicht recht, was er von der ganzen Sache halten sollte, und machte sich grinsend auf den Weg zurück in sein Zimmer.

Während Philip schlief, lag Chris in dieser Nacht in seinem Bett und dachte darüber nach, wie sehr sich sein Leben in so kurzer Zeit verändert hatte. Es fühlte sich eigenartig an, als wäre ihm buchstäblich eine Last von den Schultern genommen, und gleichzeitig machte es ihm irgendwie auch Angst, als könnte er plötzlich aufwachen und alles wäre nur ein Traum gewesen. Er war noch keine vierundzwanzig Stunden in Myers Holt, und doch kam ihm alles, was ihn bedrückt hatte – die überfälligen Rechnungen, seine Verzweiflung, als Frank den Orden seines Vater nicht hatte nehmen wollen, der Streit mit seiner Mutter –, wie verblasste Erinnerungen an ein anderes Leben vor. Als er schließlich einschlief, tat er es mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht.