Während Ernest und Mortimer an diesem Abend von ihrer Mutter zu einem üppigen Festessen eingeladen wurden und die Schüler von Myers Holt sich im Kartenraum erholten, fuhr in der Downing Street 10, dem Amtssitz des Premierministers, ein Zivilfahrzeug vor. Ein mit aufgespanntem Regenschirm wartender Polizist öffnete die Wagentür und geleitete Sir Bentley zur Haustür.
»Der Premierminister erwartet Sie«, sagte der Butler, und Sir Bentley folgte ihm durch den Flur in ein dunkles Arbeitszimmer, in dem der Premierminister am offenen Kamin stand.
»Premierminister«, sagte Sir Bentley und gab ihm die Hand.
»Bitte, Bentley, nennen Sie mich Edward. Wir kennen uns nun schon seit über dreißig Jahren. Ich habe Ihre Nachricht erhalten – was gibt es denn so Dringendes?«
Sir Bentley sah den Premierminister an. »Richard Baxter ist ein Opfer von INFERNO geworden.«
»Was?«, rief der Premierminister lauter als beabsichtigt. Er hustete. »Wann?«
»Heute Nachmittag. Er befindet sich jetzt im Krankenhaus, aber sein Zustand ist hoffnungslos – die Ärzte sagen, dass sie nicht viel für ihn tun können.«
»Der arme Kerl«, sagte der Premierminister traurig und stierte ins prasselnde Feuer. Nach einer Weile schaute er wieder auf. »Was geht hier vor?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Sir Bentley, »aber wir werden es herausfinden. Sie erinnern sich ja offensichtlich noch gut an Richard Baxter. Er war zur selben Zeit Schüler in Myers Holt wie Sie.«
»Mein Zimmergenosse«, sagte der Premierminister, ging zu der Bar in der Ecke und goss jedem von ihnen einen Drink ein. Er kam zurück und reichte Sir Bentley ein Glas.
Sir Bentley nahm einen kleinen Schluck, ehe er fortfuhr. »Wie Sie ebenfalls wissen, war Cecil Humphries zur selben Zeit Lehrer. So viele Zufälle gibt es nicht. Die einzigen Schüler, deren Wissen um die GABE nach ihrer Zeit in Myers Holt nicht gelöscht wurde, waren die des letzten Ausbildungsjahrgangs. Gleich danach haben wir den Schulbetrieb eingestellt. In jener Nacht. Und soweit ich weiß, hat nie wieder jemand über die GABE gesprochen … bis heute. In den letzten Stunden habe ich mich gefragt, worauf das alles hinauslaufen könnte, und leider komme ich dabei immer wieder zu dem einen Schluss: Ihr Leben ist in Gefahr.«
Der Premierminister dachte darüber nach. »Ich verstehe. Aber nicht nur mein Leben, habe ich recht? Sie waren auch dort.«
»Ja, ich könnte mir denken, dass auch ich zur Zielscheibe werde, wenn das so weitergeht. Die einzigen anderen, die noch gesund und munter sind und in dem Jahr dort waren, sind Lady Magenta und Clarissa Teller. Alle anderen sind entweder tot oder in einem Krankenzimmer eingesperrt.«
»Glauben Sie, dass eine der beiden Frauen dahintersteckt?«
»Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, aber ich frage mich die ganze Zeit, wer von INFERNO wissen und in der Lage sein könnte, Kindern beizubringen, es gegen Menschen einzusetzen. Danny Lions und Anna Willows sind in jener Nacht ums Leben gekommen. Jenkins und Basil sind vor einigen Jahren an Altersschwäche gestorben. Wo Cecil und Richard sind, wissen wir, somit bleiben nur Sie, ich, Clarissa und Arabella Magenta übrig. Würden Sie, Premierminister, zwölfjährige Kinder im Gebrauch der GABE unterweisen, so wüssten wir das.«
Der Premierminister schmunzelte bei der Vorstellung.
»Und wenn ich selbst der Schuldige wäre«, fuhr Sir Bentley fort, »würde ich es tunlichst für mich behalten. Bleiben also nur die beiden Frauen.«
»Und wo sind sie jetzt?«
»Wie Sie wissen, verlässt Clarissa ihr Haus auf den Äußeren Hebriden nur einmal im Jahr, um den Antarktis-Ball zu besuchen. In der übrigen Zeit schreibt sie an ihren Büchern. Lady Magenta lebt noch in London und gibt jeden Abend Dinnerpartys. Ich lasse beide überwachen. Bisher ist meinen Leuten nichts Verdächtiges aufgefallen.«
»Wie soll es also weitergehen?«
»Meine Schüler stehen noch ganz am Anfang des Trainings, aber einige sind hochtalentiert. Morgen werde ich mit ihnen Lady Magenta und Clarissa einen Besuch abstatten. Mal sehen, ob sie etwas herausfinden.«
»Sehr gut«, sagte der Premierminister und nickte. »Sie wissen, dass Sie meine volle Unterstützung haben und alle Mittel bekommen, die Sie benötigen.«
»Edward, Sie müssen vorsichtig sein. Ich fürchte, die Lage ist weitaus ernster, als wir bislang angenommen haben. Vielleicht sollten Sie in Erwägung ziehen, alle öffentlichen Auftritte abzusagen, bis wir herausgefunden haben, was vor sich geht.«
»Ich weiß Ihre Sorge um mich zu schätzen, Bentley, aber das kann ich nicht. Ich bin Premierminister. Ich habe Verpflichtungen. Ich werde die Sicherheitsvorkehrungen für uns beide verschärfen lassen und vertraue darauf, dass Sie die Sache so schnell wie möglich aufklären.«
»Ich verstehe«, sagte Sir Bentley und gab dem Premierminister die Hand. »Ich danke Ihnen.«