Chris setzte sich im Klassenzimmer an sein Pult und wartete nervös auf Ms Lambs Eintreffen. Rex hatte ihn den ganzen Morgen aufgezogen und sich ausgemalt, wie ihn Ms Lamb wohl bestrafen würde, und die anderen hatten nichts zu seiner Verteidigung gesagt, wohl weil sie seine Ideen für gar nicht so weit hergeholt hielten. Er senkte schüchtern den Kopf, als die Tür aufging und mit klappernden Absätzen Ms Lamb hereinstürmte.
»Heute«, sagte sie und sah der Reihe nach alle an bis auf Chris, »werden wir uns weiter mit Telepathie beschäftigen. Wir werden lernen, wie man Erinnerungen im Gedächtnis einer Person aufspürt und dann in Berichtsform zu Papier bringt. Wenn ihr anfangt, für uns zu arbeiten, habt ihr die von euch gewonnenen Erkenntnisse an die Behörden weiterzuleiten, deshalb müsst ihr in der Lage sein, möglichst genau und ausführlich zu berichten, was ihr gesehen habt. Du da …«, sie deutete auf Sebastian, »… teile das hier aus.«
Sie drückte Sebastian einen Stapel Formulare und Stifte in die Hand und er verteilte sie an die anderen.
Chris sah auf das bedruckte Blatt.
»Ganz oben müsst ihr die fallbezogenen Daten eintragen. Name, Datum, Uhrzeit«, sagte Ms Lamb und fuhr mit dem Finger über die erste Zeile. »In welcher Straße und welchem Gebäude ihr die Informationen gefunden habt, und in dem großen Kasten darunter beschreibt ihr in allen Einzelheiten, was ihr gesehen habt. Verstanden?«
Alle nickten.
»Jetzt brauchen wir nur noch ein Versuchskaninchen. Nehmen wir … dich«, sagte sie. Chris hob den Kopf. Sie zeigte auf ihn.
»Komm schon, sei nicht schüchtern. Gestern warst du es ja auch nicht. Da du anscheinend keine Übung brauchst, können die anderen ihre GABE an dir erproben.«
»Ich … äh … möchte lieber nicht.«
»Leider hast du keine andere Wahl. Komm her … sofort!«
Chris stand langsam auf und ging nach vorn. Die anderen betrachteten ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Erleichterung, weil es sie nicht getroffen hatte.
»Eure heutige Aufgabe besteht darin, herauszufinden, was die unangenehmste Erinnerung dieses Jungen ist.«
Chris blickte entsetzt zu Ms Lamb.
»Aber ich …«
»Sei still. Damit ihr auf diese Erinnerung zugreifen könnt, müsst ihr in die Straße der Gefühle. Die befindet sich … hier.« Sie deutete auf eine lange Straße links auf dem Schaubild an der Wand. »Sucht das Gebäude mit der Aufschrift PEINLICHES – ein rotes Gebäude, versteht sich – und dann im Erdgeschoss den größten und auffälligsten Aktenschrank. Öffnet ihn, zieht den dicksten Ordner heraus und prägt euch alles ein, was ihr seht. Wenn ihr fertig seid, kehrt ihr zur Rezeption zurück und begebt euch ins Freie. Dann bringt ihr eine ausführliche Beschreibung der Erinnerung zu Papier. Und sollte jemand meinen, er könnte sich drücken, wird der oder die Betreffende die Stelle dieses Jungen einnehmen. Fangt an.«
Chris blickte zu Philip, der entschuldigend mit den Schultern zuckte. Dann schielte er zur Tür und überlegte, ob er nicht weglaufen sollte, aber dann fiel ihm etwas Besseres ein.
Er schloss die Augen und begann, in Gedanken vor sich hin zu singen, immer lauter und lauter.
»Ringel, Ringel, Reihe, wir sind der Kinder dreie, wir sitzen unterm Hollerbusch und machen alle husch, husch, husch! Ringel, Ringel, Reihe, wir sind der Kinder dreie, wir sitzen unterm Hollerbusch und machen alle husch, husch, husch! Ringel, Ringel, Reihe ….«
Ein lautes Klopfen zu seiner Linken riss ihn aus seiner Konzentration. Er öffnete die Augen. Die Tür schwang auf und Sir Bentley kam herein.
»Verzeihen Sie die Störung, Ms Lamb.«
Ms Lamb blickte ungehalten, schwieg aber.
»Ich habe mit den Kindern über eine dringende Angelegenheit zu sprechen. Erlauben Sie?«
»Aber selbstverständlich«, sagte Ms Lamb, und dann flüsternd an Chris gewandt: »Setz dich, Junge, wir machen später damit weiter.« Erleichtert eilte er zu seinem Platz.
»In den letzten vierundzwanzig Stunden«, begann Sir Bentley, »ist eine einschneidende Wendung der Ereignisse eingetreten. Normalerweise bitten wir Schüler nicht vor Neujahr, ihre Arbeit aufzunehmen, doch leider müssen wir das Ganze diesmal beschleunigen. Ms Lamb, ich werde Ihnen jetzt zwei Schüler entführen müssen. Vielleicht können Sie mir sagen, wer am ehesten in der Lage ist, in diesem frühen Stadium der Ausbildung einen Auftrag auszuführen, der besondere Fähigkeiten im Gedankenlesen erfordert.«
Ms Lamb schürzte die Lippen und überlegte.
»Ich schlage vor«, sagte sie nach einer Weile, »Sie nehmen diesen Jungen.« Sie blickte auf Rex.
»Jawohl!«, rief Rex und stand auf.
»Ich brauche zwei, Ms Lamb. Ist noch jemand auf dem Gebiet besonders gut?«
Ms Lamb trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und verzog das Gesicht.
»Ich würde Ihnen den da empfehlen«, sagte sie schließlich und deutete auf Chris.
Chris erhob sich und grinste Rex zu, der beide Daumen reckte.
»Ausgezeichnet. Ich danke Ihnen, Ms Lamb. Christopher, Rex, folgt mir. Den anderen wünsche ich weiterhin viel Spaß im Unterricht. Wir sehen uns später.«
Chris hüpfte förmlich hinter Sir Bentley her, der sie den Flur entlang, dann durch die Glashalle und schließlich in sein Büro im Lehrerquartier führte.
»Nehmt Platz«, sagte er und ließ sich in den Ledersessel hinter dem Schreibtisch sinken.
Chris und Rex setzten sich und hörten aufmerksam zu, während Sir Bentley ihnen mit möglichst einfachen Worten die Lage schilderte, wobei er mit den Anschlägen auf Cecil Humphries und Richard Baxter begann. Er schloss mit der Folgerung, dass der oder die Schuldige etwas mit Myers Holt zu tun gehabt haben müsse.
»Deshalb«, so fuhr er fort, »müsst ihr beide heute mit zwei Personen, nämlich Lady Magenta und Clarissa Teller, sprechen und herausfinden, ob sie etwas wissen.« Er schob zwei Fotos über den Tisch.
Chris stutzte. »Clarissa Teller, die Schriftstellerin?«
»Ja, kennst du ihre Bücher?«
»Na klar, die kennt jeder! Du doch auch Rex, oder?«
Rex nickte. »Ja, und ich lese überhaupt nicht gern. Genau genommen waren die einzigen Bücher ohne Bilder, die ich wirklich ganz gelesen habe, von ihr.«
»Na wunderbar. Ein Treffen mit Fans wird ihr bestimmt gefallen. Aber zurück zur Sache. Ihr werdet mithilfe eurer GABE ihre Gedanken lesen. Hört genau zu. Ich möchte, dass ihr in die KALENDERSTRASSE geht, und zwar gleich in das erste Haus an der Straße. Es birgt alle Erinnerungen an dieses Jahr. Dort sucht ihr den Aktenschrank für gestern. Seht nach, was sie gestern Mittag getan haben – um diese Zeit wurde die GABE gegen Richard Baxter eingesetzt. Anschließend geht ihr in die LEUTESTRASSE und sucht das Gebäude ALTE BEKANNTSCHAFTEN. Dort müsste es eine Schublade für Richard Baxter geben. Die Schubladen sind alphabetisch beschriftet, daher dürfte sie nicht allzu schwer zu finden sein. Der Ordner ganz vorn müsste die letzte Begegnung Clarissas und Lady Magentas mit Baxter enthalten. Wenn sie mit dem gestrigen Vorfall nichts zu tun haben, müsstet ihr feststellen, dass ihre letzte Erinnerung an Baxter längere Zeit zurückliegt. Soweit wir wissen, standen weder Clarissa noch Lady Magenta seit ihrer gemeinsamen Zeit in Myers Holt mit ihm in Kontakt. Irgendwelche Fragen?«
»Dann arbeiten wir im Grunde genommen für den Premierminister?«, fragte Rex und beugte sich vor. Sir Bentley nickte.
»Der Premierminister braucht meine, Rex Kings, Hilfe?«, fragte Rex, um ganz sicherzugehen.
»Ja, Rex, das ist richtig.«
Rex grinste. »Wow! Chris, wir werden berühmt! Das bringt uns bestimmt einen Orden oder so ein.«
»Na, na, wir wollen nicht gleich übertreiben«, sagte Sir Bentley. »Noch habt ihr gar nichts geleistet, und zu eurer Erinnerung: Was ihr hier tut, unterliegt strengster Geheimhaltung. Gehen wir.«
Rex stand auf und salutierte. »Gehen wir die Welt retten.«
Chris lachte und Sir Bentley schmunzelte.
»Komm, Superman, wir haben zu arbeiten.«
»Wo geht’s denn hin?«, fragte Chris beim Aufstehen.
»Auf eine kleine Insel der Äußeren Hebriden«, antwortete Sir Bentley auf dem Weg nach draußen. »Dort besuchen wir Clarissa Teller.«
»Liegen die nicht ganz oben bei Schottland?«, fragte Chris verdutzt.
»Ganz recht, Christopher. Wir fliegen mit dem Hubschrauber hin.«
»Mit dem Hubschrauber?«, rief Rex.
»Ja, mit dem Hubschrauber«, bekräftigte Sir Bentley.
»Wow!«, sagte Chris, und Rex klatschte ihn ab.
»Glauben Sie, ich darf ihn mal kurz fliegen?«, fragte Rex.
Sir Bentley wollte gerade antworten, doch da kam ihm ein Gedanke und er hielt inne.
»Stimmt was nicht, Sir?«, fragte Rex.
»Jungs, ich möchte auf dem Flug kein Herumgealbere.«
»Jawohl, Sir«, sagten Chris und Rex, immer noch grinsend.
»Ich meine es ernst. Euch ist noch nicht klar, wie mächtig eure GABE ist, und mit Sicherheit habt ihr noch nicht gelernt, sie zu beherrschen. Wenn ihr anfangt, euch vorzustellen, wie der Hubschrauber Flugkunststücke vollführt oder ins Meer stürzt und dergleichen, könnte es ohne Weiteres tatsächlich passieren.«
Chris und Rex rissen entsetzt die Augen auf, als sie die ganze Tragweite seiner Worte erfassten.
Sir Bentley schmunzelte beim Anblick ihrer verstörten Gesichter. »Keine Sorge«, sagte er und stieg in den Lift. »Ich bin überzeugt, dass alles gut gehen wird.«
»Alles in Ordnung, Rex?«, fragte Chris, als sich der Lift in Bewegung setzte.
Rex, der ein wenig blass wirkte, schüttelte den Kopf. »Mir ist gerade etwas eingefallen, was mein Dad mal zu mir gesagt hat.«
»Was denn?«, fragte Chris.
»Er hat gesagt: Wenn du willst, dass jemand an einen Elefanten denkt, brauchst du ihm nur zu sagen, dass er nicht an einen Elefanten denken soll.«
Chris dachte kurz darüber nach und seine Augen weiteten sich.
»Oh«, machte er, und von da an konnte er nur noch an abstürzende Hubschrauber denken.
Als der Wagen am Hubschrauberlandeplatz Battersea vorfuhr, waren alle Gedanken an abstürzende Hubschrauber vergessen und der Vorfreude auf den bevorstehenden Flug gewichen.
»Bleibt, wo ihr seid«, befahl Ron, als John den Wagen neben den drei anderen Zivilfahrzeugen, die sie eskortiert hatten, parkte. Ron, der sich seit den jüngsten Vorfällen in einem Dauerzustand erhöhter Wachsamkeit befand, sprang hinaus und ging sofort in die Hocke. Chris beobachtete, wie sein Kopf sich langsam um den Wagen schob und dann ganz aus seinem Sichtfeld verschwand. Sekunden später sah er Ron in die Höhe schnellen und über die Startbahn rennen, an einer Flotte wartender Hubschrauber vorbei zur anderen Seite des Flugfeldes, wo er hektische Blicke in alle Richtungen warf und die Umgebung nach lauernden Gefahren absuchte. Chris blickte zu John, der, obwohl er reglos dasaß und stur geradeaus schaute, ebenfalls in höchster Alarmbereitschaft zu sein schien.
Die Tür neben Sir Bentley schwang auf und Chris und Rex zuckten zusammen. Draußen stand Ron und gab ihnen ein Zeichen auszusteigen.
»Die Luft ist rein«, sagte er und führte sie eilends zu dem ersten Hubschrauber. John bildete die Nachhut. Er ging langsamer und drehte, die Umgebung beobachtend, den Kopf von links nach rechts und wieder zurück.
Chris erklomm die Stufen zum Hubschrauber. Er grüßte die beiden wartenden Piloten und schnallte sich an.
Ron schloss die Tür und lief zu dem Hubschrauber daneben, als die Rotoren sich zu drehen begannen. Chris blickte nach draußen und sah, wie der Hubschrauber langsam in die Luft stieg, sich dann nach vorn neigte, plötzlich beschleunigte, im Steigflug den Fluss überquerte und über London dahinjagte. Chris spähte nach hinten. Drei Hubschrauber folgten ihnen. Er stieß Rex in die Seite, um ihn darauf aufmerksam zu machen.
»ERHÖHTE SICHERHEITSVORKEHRUNGEN«, schrie Sir Bentley gegen den Motorenlärm an.
»WIE NENNT MAN EIN SCHAF OHNE BEINE?«, rief Rex, der einen verängstigten Eindruck machte.
Chris und Sir Bentley sahen ihn verdutzt an.
»ICH MUSS AUFHÖREN, AN SCHLIMME SACHEN ZU DENKEN!«, erklärte Rex und deutete, sichtlich in Panik geratend, auf die Rotoren über ihnen. Chris und Sir Bentley blickten entsetzt, als sie begriffen, was er meinte.
»WIE NENNT MAN EIN SCHAF OHNE BEINE?«, wiederholte Rex.
»ICH WEISS NICHT«, antwortete Chris. »UND WIE NENNT MAN EIN … «
»WOLKE«, schrie Rex ohne den Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht. »WAS IST EIN KEKS UNTER EINEM BAUM? EIN SCHATTIGES PLÄTZCHEN. WIESO TROMPETEN ELEFANTEN? WEIL SIE SO SCHLECHT KLAVIER SPIELEN KÖNNEN …«
Chris hörte eher fasziniert als besorgt zu, wie Rex den gesamten Inhalt von Die ultimative Witzesammlung herunterleierte, den er am Abend zuvor auswendig gelernt hatte.
»WAS SAGT DIE NULL ZU DER ACHT? HÜBSCHEN GÜRTEL HAST DU DA AN. WAS IST NIEDLICH, HOPPELT ÜBER DIE WIESE UND QUALMT? EIN KAMINCHEN. DOKTOR, DOKTOR …«
Chris wollte ihn schon gegen den Arm boxen, damit er aufhörte, begriff aber im nächsten Moment, dass sie dann womöglich auf die Felder unter ihnen stürzen würden, und beschloss, so gut es ging, wegzuhören. Sir Bentley dachte offensichtlich dasselbe, denn er nahm eine Zeitung heraus und begann zu lesen. Chris drückte das Gesicht gegen die Scheibe, blendete Rex’ Stimme aus und beobachtete fasziniert, wie sie mit dem Hubschrauber eine ländliche Gegend mit kleinen Dörfern und größeren Ortschaften überflogen.
Nachdem Rex sie über eine Stunde lang ununterbrochen mit Witzen bombardiert hatte, verloren sie schließlich an Höhe und flogen eine kleine Insel an, auf der nur ein einziges kleines weißes Haus stand.
»Endlich«, seufzte Rex erleichtert, als der Hubschrauber in der Nähe des Hauses aufsetzte. Augenblicke später landeten auch die drei anderen, die ihnen gefolgt waren, und Ron, John und zehn weitere Leibwächter sprangen heraus, alle mit finsteren, wachsamen Mienen. John gab Sir Bentley ein Zeichen, im Hubschrauber zu warten, bis die anderen das Haus umstellt hatten.
»Alles klar«, rief John.
Sir Bentley blickte zu Chris und Rex, als die Hubschraubertür aufging und kalte Luft hereinströmte. »Mir nach.«
Chris stieg als Letzter aus und folgte den beiden anderen zum Haus, doch bevor sie die Tür erreichten, trat eine Frau in einem cremefarbenen Wollpullover, Jeans und Gummistiefeln heraus.
»Sir!«, rief sie lächelnd und küsste Sir Bentley auf beide Wangen.
»Vielen Dank, dass Sie Ihre Einwilligung gegeben haben«, sagte Sir Bentley.
»Wie könnte ich meinem alten Lehrer etwas abschlagen?«, erwiderte sie. »Ich kann noch immer nicht glauben, was in letzter Zeit geschehen ist – ich werde mein Möglichstes tun, um zu helfen.« Sie sah die beiden Jungen an. »Hallo! Ich bin Clarissa.«
»Das sind Rex und Christopher«, stellte Sir Bentley vor. »Sie gehören zu den neuen Schülern von Myers Holt, von denen ich Ihnen erzählt habe. Sie sind große Fans von Ihnen.«
Chris und Rex sahen sie ehrfürchtig an.
Clarissa lachte. »Es ist immer schön, Fans zu treffen. Und noch dazu Schüler von Myers Holt! Ich habe gar nicht das Gefühl, dass es schon so lange her ist … War ich wirklich mal so jung?« Sie sah Sir Bentley an und er lächelte und nickte.
»Es ist kalt hier draußen«, sagte sie. »Gehen wir rein, ich mache uns eine Tasse heißen Kakao.«
Chris stellte überrascht fest, dass das Cottage innen noch kleiner war, als es von außen aussah, was möglicherweise daran lag, dass sich an allen Wänden und auf jeder freien Fläche Bücher stapelten. Am anderen Ende stand ein Holzofen, der Wärme in den Raum pumpte. Zwei abgewetzte Sofas mit dicken Decken als Überwurf beherrschten den Raum und in der Ecke war eine Kochnische, die lediglich aus einem Kühlschrank, einem alten Herd und einer Spüle bestand.
Sir Bentley setzte sich auf eines der Sofas und Chris nahm ihm gegenüber Platz. Er versank neben Rex in den weichen Polstern.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Sir Bentley, als Clarissa mit einem Tablett voller dampfender Becher hereinkam.
»Bestens, danke. Ich arbeite viel, halte mich irgendwie warm. Ich bringe gerade meinen neuesten Roman zum Abschluss.«
»Wie heißt er?«, fragte Chris.
»Ah, das ist ein Geheimnis«, sagte sie lächelnd, beugte sich zu ihnen hinüber und flüsterte: »Die Rache des Rattenfängers … aber erzählt es nicht weiter.«
»Wovon handelt er?«, fragte Chris.
»Nun ja … diesbezüglich müsst ihr euch noch gedulden«, antwortete sie, »aber wenn ich bedenke, wozu ihr Jungs fähig seid, könntet ihr es wahrscheinlich selbst herausfinden!«
Chris und Rex dachten einen Moment darüber nach, bevor Sir Bentley ihnen einen strengen Blick zuwarf.
»Untersteht euch!«, sagte er. »Wir sind rein dienstlich hier. Keinen Schabernack, wenn ich bitten darf.«
Die beiden Jungen blickten enttäuscht, nickten aber.
»Ich kann das mit Cecil und Richard einfach nicht glauben«, sagte Clarissa und setzte sich mit ihrem Kakao neben Sir Bentley. »Es ist einfach schrecklich.«
»Ich weiß«, sagte Sir Bentley traurig. »Ich denke, wir hatten alle gehofft, nie wieder davon zu hören … nach dem, was damals passiert ist.«
»Wissen Sie, es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Danny und Anna denke«, sagte Clarissa leise.
»Mir geht es genauso, Clarissa«, stimmte Sir Bentley zu.
Eine Zeit lang sagte niemand etwas. Chris und Rex saßen betreten da und wussten nicht, was sie sagen sollten, bis sich Clarissa plötzlich aufsetzte und die düsteren Gedanken abschüttelte.
»Ihr Jungs braucht nicht zu sehen, wie ich trübsinnig werde. Wie wär’s, wenn wir uns gleich an die Arbeit machen?«
Chris und Rex nickten erleichtert.
»Also, was soll ich tun?«
»Gar nichts«, antwortete Sir Bentley. »Die Jungs werden mithilfe ihrer GABE feststellen, ob da etwas ist, was uns weiterbringen könnte. Ich glaube zwar keine Sekunde daran, dass Sie etwas mit der ganzen Schweinerei zu tun haben, aber wir müssen lückenlos vorgehen. Ich hoffe, Sie verstehen das.«
»Natürlich. Es macht mir überhaupt nichts aus. Ich habe nichts zu verbergen.«
»Jungs? Ihr wisst, was ihr zu tun habt«, sagte Sir Bentley, und Chris und Rex rutschten vor und setzten sich auf die Sofakante. Chris wurde plötzlich sehr nervös.
»Ist schon gut«, sagte Clarissa, um sie zu beruhigen. »Vergesst nicht, dass ich dasselbe getan habe, als ich in eurem Alter war. Ich werde euch nicht blocken, versprochen.«
Chris lächelte verlegen. Er war sich sehr bewusst, dass er gleich in die Gedanken seiner Lieblingsschriftstellerin eindringen würde, und blickte zu Rex, der ihm zunickte.
Clarissa lehnte sich auf dem Sofa zurück und trank einen Schluck aus ihrem Becher. »Gut, fangt an.«
Chris sah ihr ins Gesicht und innerhalb von Sekunden stand er in einem großen Raum. Er hielt inne, um sich zu orientieren. Bilder von sich und Rex schwirrten in seinem Kopf herum. Er ging zu der Flügeltür vor ihm, wobei seine Schritte von allen Seiten widerhallten, und trat hinaus auf eine leere Straße. Er ließ den Blick über die Umgebung schweifen, sah Reihen um Reihen bunter Häuser, die sich bis in die Ferne erstreckten, und zu seiner Rechten einen gewaltigen, türkisfarbenen Wolkenkratzer, der hoch emporragte. Neugierig, was das wohl für ein Gebäude sein mochte, reckte er den Hals und spähte zu seiner Spitze, besann sich dann aber eines Besseren, denn er musste in die andere Richtung.
Er wandte sich nach links und eilte bis zu der Kreuzung, wo die KALENDERSTRASSE abzweigte. Er betrat das erste Gebäude zu seiner Linken und ging geradewegs durch eine offene Tür. Im Unterschied zu dem Raum, den er in Ms Lambs Gehirn betreten hatte, war es hier luftig und hell. Die Aktenschränke sahen nagelneu aus und ihre weißen Flächen glänzten im Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel.
Direkt vor ihm war ein kleiner Aktenschrank mit einer einzigen Schublade, die offen stand. Plötzlich hörte er ein Rauschen und ein grüner Ordner flog von draußen herein, flitzte an seiner Schulter vorbei und landete in der Schublade, die augenblicklich zuschnappte. Er besah sich den Schrank genauer. Vorn pappte ein frischer weißer Aufkleber mit der Aufschrift HEUTE und daneben stand ein etwas größerer Schrank, auf den, wie zu erwarten, GESTERN geschrieben war. Chris ging dorthin, bückte sich und zog die unterste Schublade auf. Ein leuchtend helles Bild glitt zwischen den grünen Akten hervor und schwebte vor ihm in der Luft und gleichzeitig erfüllte Jazzmusik den Raum. Er sah Clarissa an ihrem Herd stehen und eine Scheibe Toast mit Butter bestreichen. Dann beugte sie sich vor, nahm einen Apfel aus einer Obstschale, legte ihn auf einen Teller und setzte sich wieder an den kleinen Schreibtisch, den er eben neben dem Kamin gesehen hatte. Sie biss von dem Apfel ab, ergriff den Stift, der auf dem gelben Briefblock vor ihr lag, und begann zu schreiben. Chris beugte sich über das schwebende Bild, spähte nach unten und sah zu, wie unter ihm Wörter Gestalt annahmen.
Jack blickte zu Aurelia, ohne die Hand von der Brust des Drachen zu nehmen. »Er ist tot«, sagte er sanft.
Chris trat zurück und beobachtete, wie Clarissa den Stift weglegte und zu dem Toast griff.
Wow, dachte er. Anscheinend war er der Erste, der etwas aus Clarissas neuestem Buch gelesen hatte. Er wäre gern geblieben und hätte mehr gelesen, aber er war zum Arbeiten hier. Er schloss den Ordner und das Bild von Clarissa am Schreibtisch verschwand. Er legte den Ordner behutsam zurück, schloss die Schublade und trat wieder hinaus auf die KALENDERSTRASSE. Er bog ab und eilte in Richtung MENSCHENSTRASSE, direkt auf eine Ansammlung von Häusern zu, die alle in unterschiedlichen Lilatönen gestrichen waren. Er drosselte seine Schritte, als er sich dem Vordereingang des ersten näherte, und hob den Kopf zu dem Schild.
FAMILIE.
Er ging weiter, am nächsten vorbei, auf dem FLÜCHTIGE BEKANNTSCHAFTEN stand, und blieb vor der Tür des violetten Hauses daneben stehen: ALTE BEKANNTSCHAFTEN. Die Tür schwang auf, und er trat in einen dunklen, muffigen Raum, in dem sich alte Aktenschränke aneinanderreihten, auf denen eine dicke Staubschicht lag. Er ging zum ersten, wischte den Staub und die Spinnweben vorn weg und las die Beschriftung:
AA–AD.
Da dämmerte ihm, dass er gar nicht wusste, ob er unter dem Vor- oder dem Nachnamen suchen sollte. Er zog die Schublade auf. Auf dem ersten Ordner stand AARON BLESSING.
Dann also unter dem Vornamen, sagte er sich und ging, die Beschriftungen entziffernd, an den Schränken entlang, bis er zu dem kam, auf dem RI–RO stand. Er öffnete ihn. Da lag der Ordner, den er suchte. RICHARD BAXTER. Er nahm ihn heraus und schlug ihn auf, doch statt eines einzelnen Bildes schwebten gleich mehrere Szenen vor ihm in der Luft und bildeten, eine hinter der anderen, eine Reihe, die tief in den Gang zwischen den Schränken hineinführte. Verwirrt ging er durch den Tunnel aus wabernden Farben, die durcheinanderwirbelten und verschwammen. Er hob die Hand, um sie zu berühren, da zerbrach der Tunnel in zwei Teile. Er trat in die Lücke dazwischen und spähte zum einen Ende, wo ein vollkommen klares Bild eines Jungen zu sehen war, der sich kaputtlachte, während er einem lächelnden Mädchen beim Aufstehen half, in dem Chris eine junge Clarissa erkannte. Er trat zurück und die beiden Tunnel fügten sich wieder zusammen. Er ging bis zum Ende des Tunnels und sah sich das letzte Bild in der Reihe an. Diesmal war Clarissa eine junge Erwachsene und lief durch eine belebte Einkaufsstraße. Verkehrslärm und die Geräusche hin und her hastender Menschen erfüllten den Raum. Chris erkannte den erwachsenen Richard Baxter sofort von dem Foto, das ihnen Sir Bentley gezeigt hatte. Mit zielstrebigen Schritten eilte er durch eine Menschenmenge, kam direkt auf Clarissa zu und stieß mit ihr zusammen.
»Passen Sie doch auf!«, hörte Chris Clarissa sagen. »Richard?«
Der junge Mann drehte den Kopf und ein Ausdruck des Erkennens huschte über sein Gesicht.
»Clarissa! Wow! Wie geht es dir?«
»Gut. Du liebe Zeit, wie lange ist das jetzt her? Zehn Jahre? Und wie geht es dir?«
»Ich bin Grundstücksmakler – was mir aber, offen gestanden, ein bisschen langweilig wird. Ich schätze, ich werde mich bald selbstständig machen. Und du?«
»Ich arbeite als Kellnerin zu Hause in Bournemouth.«
»Und was führt dich nach London?«
»Ich treffe mich mit einem Agenten«, antwortete Clarissa. »Er hat Interesse an meinem Buch.« Sie hielt eine Mappe in die Höhe.
»Toll – dann werde ich deinen Namen bald gedruckt sehen?«
Clarissa errötete. »Vielleicht … drück mir die Daumen. Aber ich muss weiter. Ich möchte nicht zu spät kommen. Es war schön, dich wiederzusehen.«
»Viel Glück bei deinem Treffen«, sagte Richard. »Sag dir einfach immer wieder: ›Ich bin ein Siegertyp. Ich bin ein Siegertyp.‹«
Clarissa lachte. »Ich werde es versuchen. Mach’s gut, Richard«, sagte sie, und damit erstarrte das Bild.
Das also war ihre letzte Begegnung, dachte Chris, schloss den Ordner und legte ihn wieder in die Schublade. Er kehrte zum Eingang zurück und wollte gerade auf die Straße hinaustreten, als er in der Ferne einen kleinen schwarzen Punkt auftauchen sah. Er schlüpfte ins Haus zurück und spähte um die Ecke. Der schwarze Punkt kam rasch näher, wurde größer und entpuppte sich schließlich als eine menschliche Gestalt, die direkt auf ihn zurannte. Chris erstarrte, unschlüssig, was er als Nächstes tun sollte. Die Gestalt kam immer näher. Erst als sie die Kreuzung von MENSCHENSTRASSE und KUNSTALLEE überquerte, erkannte er, dass es Rex war. Nur dass dieser Rex im Unterschied zu dem Rex im richtigen Leben nicht außer Atem war.
»He, wow!«, sagte Rex, als Chris aus der Tür trat. »Mir war gar nicht klar, dass wir uns hier drin begegnen können. Bist du auf dem Weg hinein?«
»Nein«, antwortete Chris, »ich habe schon nachgesehen. Sie hat Richard Baxter seit Jahren nicht getroffen. Und wo bist du gewesen?«
Rex sah ihn genervt an. »Schon gut, du Wunderknabe, die Angeberei kannst du dir sparen. Trotzdem sollte ich wohl selber einen Blick reinwerfen. Wir sehen uns dann draußen.«
Chris nickte. »Ja, Sir Bentley will bestimmt, dass wir beide nachsehen. Dann bis gleich im Cottage.«
Rex eilte an ihm vorbei zu den Aktenschränken und Chris trat wieder hinaus, bog in die Straße ab und rannte los. An der Kreuzung der KUNSTALLEE angekommen, beschloss er, einen kleinen Umweg zu machen, denn er wollte wissen, was es mit dem Wolkenkratzer auf sich hatte. Ihm fiel auf, dass die Häuser in dieser Straße viel höher waren als alle anderen. Vor der Flügeltür, die in den Wolkenkratzer hineinführte, blieb er stehen. Über der Tür prangte in goldenen Lettern LITERATUR.
Kein Wunder, dachte Chris beim Gedanken an die Bücherstapel im Cottage. Die Tür ging auf, und er erwog, einzutreten und mehr über Die Rache des Rattenfängers in Erfahrung zu bringen, konnte sich dann aber doch nicht dazu durchringen, machte kehrt und eilte zur Rezeption zurück.
»Das ging aber schnell«, sagte Clarissa, als das blendende Licht verblasste und er sich im Zimmer wiederfand. Der neben ihm sitzende Rex machte noch ein ausdrucksloses Gesicht und blickte konzentriert auf Clarissa.
Chris schaute zu Sir Bentley hinüber und der zog fragend die Augenbrauen hoch.
Chris schüttelte den Kopf. »Nichts. Sie hat …« Er blickte zu Clarissa. »Sie haben Richard Baxter das letzte Mal vor Jahren auf der Straße getroffen. Sie waren damals Kellnerin.«
»Tatsächlich?«, fragte Clarissa verdutzt.
»Äh … ja, ich glaube schon. Sie waren in London, um sich mit einem Agenten zu treffen.«
Clarissa dachte darüber nach und ihre Augen weiteten sich. »Du meine Güte, ja! Ich erinnere mich. Wir sind uns zufällig in der Oxford Street begegnet.« Sie sah Chris an und lächelte. »Verblüffend.«
Chris lächelte stolz. »Und gestern Mittag haben Sie an Ihrem Schreibtisch gesessen und geschrieben.«
Sir Bentley seufzte erleichtert. »Gott sei Dank. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass Sie etwas damit zu tun haben.«
»Hast du etwa gelesen, was ich geschrieben habe?«, fragte Clarissa neckend.
Chris blickte verlegen. »Ich habe nur einen Satz gesehen, mehr nicht. Und ich werde nichts verraten, das verspreche ich.«
Clarissa schmunzelte. »Schon gut. Ich hätte bestimmt dasselbe getan.«
»Habe ich was verpasst?«, fragte Rex, der plötzlich aus seiner Trance erwachte.
»Willkommen zurück, Rex. Chris hat uns gerade erzählt, was er gesehen hat.«
»Kellnerin, auf dem Weg zu einem Termin, gestern Mittag am Schreibtisch?«, fragte Rex geknickt.
Sir Bentley nickte. »Ja, gut gemacht.«
»Ich schätze, Sie haben mich gar nicht gebraucht. Unser Supermedium hier hat ja alles schon erledigt.«
»Du hast deine Sache sehr gut gemacht«, beruhigte ihn Sir Bentley. »Wir brauchen euch beide, um uns zu vergewissern, dass die Einzelheiten stimmen.«
Rex zuckte missmutig mit den Schultern.
»Clarissa, wir müssen gleich weiter«, sagte Sir Bentley und stellte seinen Becher auf einen Bücherstapel auf dem Couchtisch. »Wollen Sie wirklich nicht mitkommen? Auf dem Festland wären Sie sicherer – wie wissen nicht, mit wem wir es zu tun haben.«
Clarissa schüttelte den Kopf. »Danke, aber Sie wissen ja, dass ich die Insel nur verlasse, um zum Antarktis-Ball zu gehen, und das auch nur, weil ich verschiedene Kinderhilfswerke unterstütze. Wenn es den Ball nicht gäbe, könnte ich ebenso gut auch das ganze Jahr hierbleiben. Ich nehme das Risiko in Kauf.«
»Na schön«, sagte Sir Bentley. »Ich kenne ja Ihren Dickkopf, also werde ich gar nicht erst versuchen, Sie umzustimmen, aber bitte, seien Sie auf der Hut. Wenn Sie etwas Verdächtiges bemerken, und mag es auch noch so unbedeutend erscheinen, rufen Sie mich sofort an, ich stelle umgehend ein paar Leute ab. Außerdem schicke ich ein paar Techniker her, um Überwachungskameras installieren zu lassen.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Clarissa und brachte die Gäste zur Tür. »Es hat mich gefreut, euch beide kennenzulernen«, sagte sie zu Chris und Rex. »Und bitte, passt auf euch auf.«
»Ich werde nicht zulassen, dass ihnen etwas geschieht«, sagte Sir Bentley und schob die Jungs vor sich hinaus. »Ich habe meine Lektion vor langer Zeit gelernt.«
Anderthalb Stunden später landete der Hubschrauber mit den Jungen und Sir Bentley an Bord wieder auf dem Rollfeld des Helikopter-Flughafens Battersea. Sir Bentley kletterte hinaus und stieg die Treppe hinab, die vor die Tür gerollt worden war. Die Jungen folgten ihm in den wartenden Wagen.
»Hunger?«
Die Jungen nickten begierig.
»Gut«, sagte Sir Bentley, »ich auch. Ins Napoli, John.«
»Jawohl, Sir«, sagte John und ließ den Motor an.
Die Wagenkolonne hielt vor einem unscheinbaren Restaurant mit weißer Fassade an einem kleinen, kopfsteingepflasterten Platz. Chris, Rex und Sir Bentley warteten, während Ron hinaussprang und zusammen mit mehreren Leibwächtern aus dem Wagen hinter ihnen in dem Lokal verschwand, um sich umzusehen. Nach ein paar Minuten kam er wieder heraus, spähte kurz die Straße hinauf und hinunter und gab ihnen mit einem Wink zu verstehen, dass die Luft rein war. Chris und Rex stiegen aus und folgten Sir Bentley nach drinnen. Ein kleiner, weißhaariger Mann in Kochmontur begrüßte sie.
»Willkommen, Sir Bentley«, sagte er mit starkem italienischem Akzent. »Wir haben das Nebenzimmer für Sie vorbereitet.«
»Vielen Dank, Giovanni«, erwiderte Sir Bentley und bedeutete den Jungen, ihm in den hinteren Teil des Restaurants zu folgen.
Sie betraten das Zimmer und setzten sich an einen langen Tisch mit rot-weiß karierter Tischdecke. Giovanni reichte jedem eine Speisekarte.
»Ich empfehle die Giovanni-Spezial«, sagte er zu den Jungen. »Die beste Pizza außerhalb Italiens.«
Den Jungen lief das Wasser im Mund zusammen. Sie nickten eifrig.
»Hervorragende Arbeit, Jungs«, sagte Sir Bentley, als Giovanni den Raum verlassen hatte. »Ihr habt euch bei Clarissa glänzend geschlagen. Wenn wir gegessen haben, fahren wir zu Lady Magenta. Danach geht es zurück nach Myers Holt und ihr könnt euch ausruhen.«
»Wohnt sie hier in der Nähe?«, fragte Chris.
»Nicht weit, gleich neben der Park Lane. Aber ich muss euch warnen. Sie ist eine – wie soll ich es ausdrücken? – eine ziemlich exzentrische Person. Ganz anders als Clarissa.«
»Exzentrisch?«, fragte Rex.
»Ihr werdet schon sehen, was ich meine. Außerdem ist sie von unserem Besuch weit weniger angetan. Lady Magenta ist berühmt für ihre Dinnerpartys, und allem Anschein nach stören wir sie bei den Vorbereitungen für eine, die sie morgen Abend gibt.«
»War sie auch Schülerin in Myers Holt?«, fragte Chris.
»Nein, Lehrerin. Und eine sehr gute. Allerdings war sie bei den Schülern nicht besonders beliebt, wie ich zugeben muss … Ah, Giovanni!«
»Ich hoffe, ihr habt Hunger mitgebracht«, sagte Giovanni und trug die größten Pizzas herein, die Chris und Rex je gesehen hatten.
Nachdem sie sich mit Pizza und Käsekuchen vollgestopft hatten, fuhren sie zu Lady Magentas Adresse im vornehmen Viertel Mayfair. Auf der Eingangstreppe des noblen Apartmenthauses hielt Sir Bentley die Jungen an und bedachte Rex mit einem warnenden Blick.
»Diesmal bitte keine Faxen, Rex. Ihr müsst euch von eurer besten Seite zeigen.«
»Moi?« Rex tat so, als wäre er beleidigt. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Hmmm«, brummte Sir Bentley und schnalzte missbilligend mit der Zunge. Sie passierten die Drehtür, durchquerten die Halle und stiegen in den Aufzug.
In der Penthouse-Etage glitt die Aufzugstür wieder auf und sie traten hinter der von Ron und John angeführten Gruppe von Leibwächtern in eine mit Marmor ausgekleidete Eingangshalle. Die Männer bezogen links und rechts der Tür Stellung, Sir Bentley schritt mit den Jungen durch die Gasse und drückte auf die Klingel. Sekunden später öffnete ein vornehm aussehender Butler in Livree die Tür und neigte den Kopf zum Gruß.
»Lady Magenta erwartet Sie. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Er führte sie durch einen Korridor in einen riesigen Raum, der allein größer war als das Haus, das Chris mit seiner Mutter bewohnte.
»Hätte ich bloß meine Sonnenbrille mitgebracht«, raunte Rex Chris zu, als sie die goldenen Vorhänge, die goldenen Tapeten und die prächtigen Ölgemälde in verschnörkelten goldenen Rahmen betrachteten. Goldene Blumenvasen und goldene Töpfe, aus denen Efeu rankte, standen zwischen den schweren goldenen Vorhängen, die vor den bodentiefen Fenstern hingen, und passend dazu baumelte in der Mitte ein goldener Kronleuchter von der Decke, der größer war als ein Auto und im Glanz Hunderter Lichter erstrahlte, die über den Marmorboden tanzten. Am anderen Ende des Raums erstreckte sich ein langer Esstisch, auf dem Stoffhaufen lagen, und davor stand, mit der Rückenlehne zu ihnen, ein großer, thronähnlicher Stuhl. Zu beiden Seiten standen zwei Frauen, die den Neuankömmlingen den Rücken zukehrten.
»Das sieht billig aus«, tönte eine schneidende Stimme hinter dem Stuhl hervor, und ein Stück dunkelblauer Stoff wurde auf den Boden geworfen. »Und das ist unerträglich geschmacklos«, fuhr die Stimme fort, und ein zweites Stück Stoff flog zur Seite. »Und das … eine Missgeburt von einem Kleid. Damit würde ich nicht mal den Fußboden aufwischen.« Der Stoff landete in den Armen der kleinlaut aussehenden Frau zur Rechten.
»Ich bin untröstlich, Madam«, sagte die Frau. »Wenn Sie uns fünf Minuten geben, bringe ich Ihnen ein paar andere Muster, die wir haben.«
»Ich habe schon genug Zeit mit Ihnen verplempert«, entgegnete die Stimme. »Hinaus mit Ihnen!«
»Aber … «, sagte die Frau.
»Ich sagte, hinaus!«
Eine Hand tauchte hinter dem Stuhl auf und scheuchte die Frau fort. Die Frau, die so aussah, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, ging in die Knie und las die Kleider vom Boden auf, während ihre Begleiterin die auf dem Tisch liegenden zusammenraffte. Mit gesenkten Köpfen eilten sie hinaus.
Der Butler sah Sir Bentley an und bedeutete ihm mit einer Geste, sich nicht von der Stelle zu rühren. Dann näherte er sich langsam dem Thron.
»Was gibt es, Alfred?«, fragte die Stimme gereizt.
»Sir Bentley und die Gäste sind hier, wie vereinbart.«
»Ich habe es mir anders überlegt«, erwiderte sie. »Ich bin viel zu beschäftigt. Sagen Sie ihnen, ich sei ausgegangen. Lassen Sie sich etwas einfallen – eine Wohltätigkeitsveranstaltung oder dergleichen.«
»Sie stehen hinter Ihnen«, flüsterte Alfred, sich vorbeugend.
»Um Himmels willen, Alfred!«, rief Lady Magenta ohne jede Spur von Verlegenheit. Der Stuhl wurde umgedreht, und zum Vorschein kam eine kleine Frau mit einer kunstvollen Hochfrisur, die ihre kurz geratene Gestalt gut einen halben Meter größer machte. Ihre roten Haare waren so fest gesteckt, dass es aussah, als stehe sie in einem Windkanal. Ihre Haut war gestrafft und der Kajal um ihre Augen so weit nach hinten gezogen, dass sie wie Katzenaugen aussahen.
»Arabella, wie geht es Ihnen?«, fragte Sir Bentley und trat näher.
»Ich bin beschäftigt, Bentley, schrecklich beschäftigt. Ich muss unsere Unterredung heute leider absagen – ich habe für das Dinner morgen noch immer nichts zum Anziehen.«
»Es wird nicht lange dauern«, sagte Sir Bentley bestimmt.
»Ich glaube, Sie verstehen nicht«, erwiderte sie. »Der Herzog von Belfry wird sich die Ehre geben, deshalb muss alles perfekt sein. Wir können das ein andermal nachholen. Alfred, rufen Sie bei Dior an und sagen Sie ihnen, sie sollen umgehend mit ein paar Mustern für mein Abendkleid morgen vorbeikommen.« Lady Magenta schenkte sich aus einer Kanne, die daneben auf einem Tisch stand, eine Tasse Tee ein und trank, ohne den Gästen eine anzubieten, einen Schluck.
»Sehr wohl, Madam«, sagte Alfred und entfernte sich eilends.
»Arabella«, sagte Sir Bentley, »ich glaube, Sie sind sich über den Ernst der Lage nicht im Klaren.«
»Nein, Maxwell, ich glaube, Sie sind sich über den Ernst meiner Lage nicht im Klaren. In weniger als vierundzwanzig Stunden gebe ich einen Empfang, der für Furore sorgen wird wie kaum ein anderer dieses Jahr, und ich habe nichts anzuziehen.«
»Vielleicht habe ich mich bei unserem Telefonat nicht klar genug ausgedrückt«, sagte Sir Bentley in leicht gereiztem Ton. »Ihr Leben könnte in Gefahr sein, von dem des Premierministers, Clarissas und meinem eigenen ganz zu schweigen.«
»Ich bin mir sicher, dass Sie übertreiben«, sagte Lady Magenta gelassen, nahm noch einen Schluck Tee und schaute auf. »Außerdem brauche ich Sie ja wohl nicht daran zu erinnern, dass ich mit allen Techniken der GABE bestens vertraut bin. Ich könnte tausend Gören blocken, die gleichzeitig versuchen, in meine Gedanken einzudringen. Sie würden nicht weit kommen.« Zum ersten Mal blickte sie zu Chris und Rex und hätte wohl die Stirn in Falten gelegt, wenn das mit ihrem gelifteten Gesicht noch möglich gewesen wäre.
Chris reagierte nicht. Er sah die Frau mit ausdrucklosem Gesicht konzentriert an.
Sir Bentley seufzte. »Ich sehe schon, das führt zu nichts. Vielleicht besuchen wir Sie ein andermal, wenn es besser passt.«
»Vielleicht«, sagte Lady Magenta herablassend. »Rufen Sie Clara an. Sie wird nachsehen, ob wir Sie irgendwo dazwischenschieben können.«
»Na schön«, sagte Sir Bentley. »Guten Tag, Arabella. Kommt, Jungs.« Er verließ mit Chris und Rex den Raum. Am Lift angekommen, drückte er den Knopf.
»Also wirklich, diese Frau bringt mich auf die Palme!«, sagte er, hauptsächlich zu sich selbst. »So langsam frage ich mich allen Ernstes, ob sie mit der ganzen Schweinerei vielleicht nicht doch etwas zu tun hat.«
»Sie hat nichts damit zu tun«, sagte Chris.
»Ich kann mir nur keinen Grund vorstellen – was hast du gesagt?«, fragte Sir Bentley überrascht, drehte sich um und sah Chris an.
»Dass sie nichts damit zu tun hat. Ich habe von meiner GABE Gebrauch gemacht, während Sie mit ihr gesprochen haben, und nachgesehen. Sie ist Cecil Humphries und Richard Baxter seit Jahren nicht begegnet. Und gestern Mittag war sie auf einer Pferderennbahn und hat mit ein paar Damen gegessen.«
Sir Bentley musterte ihn mit strenger Miene. Chris befürchtete schon ein Donnerwetter, aber dann fing Sir Bentley zu lachen an.
»Ziemlich ungewöhnliche Methode, Christopher … aber brillant. Gut gemacht.« Er tätschelte ihm den Kopf. Rex blickte ärgerlich, weil er nicht selbst auf die Idee gekommen war.
»Ich frage mich, ob sie es wirklich nicht bemerkt hat«, sagte Sir Bentley. »Deine GABE muss unglaublich stark sein – hätte sie nur das leiseste Klingeln in den Ohren gehört, hätte sie dich sofort geblockt. Sehr beeindruckend, junger Mann.«
Chris lächelte stolz.
»Allerdings«, fuhr Sir Bentley fort, jetzt wieder ernst, »bringt uns das der Lösung des Rätsels, wer hinter diesen Angriffen steckt, keinen Schritt näher. Ich fürchte, wir haben noch viel Arbeit vor uns – nur weiß ich immer noch nicht genau, was wir tun sollen. Ich lasse alle Personen, die wir in Gefahr glauben, beobachten, aber bis wieder etwas passiert, sind wir so schlau wie zuvor.«
Vom Fenster eines Hotelzimmers gegenüber beobachtete Dulcia, wie Sir Bentley mit Chris und Rex das Haus verließ und in den Wagen stieg, der auf sie wartete. Sie schäumte vor Wut.
»Dann glaubt er also«, sagte sie, »die GABE kann ihm helfen.« Sie hatte das ganze Gespräch mitgehört, denn Mortimer und Ernest, die brav neben ihr standen, hatten Sir Bentley unter Einsatz ihrer GABE belauscht. »Wir müssen unsere Pläne schneller vorantreiben. Ich kann nicht riskieren, dass Bentley Jones etwas herausfindet. Wir brechen die Beschattung ab, Jungs. Packt eure Sachen zusammen. Morgen kümmern wir uns um Lady Magenta. Gegen die Übrigen können wir im Moment nichts unternehmen. Wir müssen bis zum Antarktis-Ball warten – soweit wir wissen, werden sie sich erst dann wieder in der Öffentlichkeit zeigen. Hoffentlich ist der Trubel dort so groß, dass wir unser Vorhaben ausführen und verschwinden können, ehe sie uns bemerken. Bis dahin müssen wir behutsam zu Werke gehen. Dass ihr mir die Sache nicht noch verderbt.«
»Nein, Mutter«, sagten Mortimer und Ernest wie mit einer Stimme.