Donnerstag, 29. November

Um elf Uhr am nächsten Morgen, während Chris in seinem Thinktank saß und von Cassandra bei einer verzwickten, in mittelalterlicher Umgebung spielenden Schatzsuche durch eine Burg geleitet wurde, betrat Mortimer im Südwesten Londons einen Friseursalon namens Astell’s of Knightbridge. Der makellos weiße Raum war erfüllt vom Geplapper der Frauen, die in zwei langen Reihen weißer Ledersessel saßen und sich über die bevorstehenden Feiertage unterhielten oder den neuesten Prominentenklatsch austauschten. Mortimer steuerte auf die glänzende, geschwungene Ladentheke zu und fischte sich ein Bonbon aus der Glasschale.

»Ja?«, fragte die Empfangsdame und sah ihn missbilligend an.

»Ich möchte mir die Haare schneiden lassen«, antwortete Mortimer.

»Wir sind kein Friseurladen für Kinder«, entgegnete die Frau herablassend und griff zum Telefon, das in diesem Augenblick klingelte. »Astell’s of Knightsbridge, womit kann ich Ihnen …«

Mortimer beugte sich über die Theke und unterbrach die Verbindung. »Was fällt dir ein …«

Mortimer blätterte vier Fünfzigpfundscheine auf die Theke.

»Das dürfte genügen«, sagte er. »Und? Wo soll ich mich hinsetzen?«

Die Frau wollte etwas sagen, aber ihr blieben die Worte weg.

»Da drüben?«, fragte Mortimer und deutete auf einen leeren Stuhl im hinteren Teil des Salons.

Die Frau überlegte kurz, dann nickte sie und nahm das Geld von der Theke.

»Gut, ich hätte dann gern eine Limonade«, sagte Mortimer, nahm hinten Platz und griff nach einer vor ihm liegenden Zeitschrift.

Nach einem kurzen Getuschel unter den Mitarbeitern, das Mortimer aus dem Augenwinkel beobachtete, nahte eine junge Frau in einem gestärkten weißen Kittel.

»Hi, willkommen im Astell’s of Knightbridge«, sagte sie etwas ängstlich. »Was kann ich für dich tun?«

»Ich möchte mir die Haare schneiden lassen«, sagte Mortimer zum Spiegelbild der Frau vor sich.

»Hast du einen bestimmten Wunsch?«, plapperte die Frau, offensichtlich bemüht, sich an ihren einstudierten Text zu halten.

Mortimer zuckte mit den Schultern. »Nein, das überlasse ich Ihnen«, sagte er und schielte zu der Uhr an der Wand. »Und lassen Sie sich ruhig Zeit.«

»Nun ja … äh … viel zu schneiden gibt es ja nicht«, befand die Frau und fuhr ihm mit den Händen durch die Haare. »Wie wär’s mit Spitzenkappen, ein paar Strähnchen und Seitenscheitel?«, fragte sie.

»Ja, gut, mir ist alles recht«, antwortete Mortimer zerstreut und wandte den Kopf, als die Ladentür aufging und Lady Arabella Magenta mit ihrer gewaltigen roten Hochfrisur den Salon betrat.

»Lady Magenta, wie geht es Ihnen?«, fragte die Empfangsdame laut und mit einer Begeisterung, die sie bei Mortimers Begrüßung gänzlich hatte vermissen lassen.

»Danke, bestens«, antwortete Lady Magenta, während mehrere Mitarbeiterinnen alles stehen und liegen ließen und herbeieilten, um ihre beste Kundin zu bedienen. Eine nahm Lady Magenta den riesigen Pelzmantel ab, eine andere holte den Fencheltee, den sie eigens für sie im Hinterzimmer aufbewahrten, und setzte den Wasserkessel auf.

»Ihr Lieblingsplatz ist für Sie vorbereitet«, sagte eine Friseurin, während eine andere eilends eine Kundin aus dem Stuhl hinter Mortimer scheuchte. Die verdutzte Kundin wurde mit nassen Haaren und halb fertiger Frisur in eine Ecke verfrachtet und auf einen Plastikstuhl gesetzt, wo sie warten musste.

Lady Magenta nahm Platz und bellte kurze Befehle an die Adresse der Friseur-Meisterin, die alles, was von ihr verlangt wurde, mit einem verkrampften Lächeln und Nicken quittierte.

»… und dass mir auch jede Strähne richtig sitzt. Verstanden?«

»Aber selbstverständlich«, antwortete die Friseurin und entfernte vorsichtig die erste der einhundert Klammern, die Lady Magentas Haare in Form hielten.

Mortimer sah aufmerksam zu und schenkte seiner eigenen Friseurin nicht die geringste Beachtung, bis sie schließlich den Versuch aufgab, mit ihm zu plaudern, und ihn schweigend bediente. Er ließ Lady Magenta nicht aus den Augen, während ihre gewaltige Hochfrisur abgetragen und jede Haarsträhne sorgfältig rot gefärbt und dann mit Alufolie umwickelt wurde. Schließlich war die letzte Strähne eingedreht und in Folie verpackt und die große Trockenhaube wurde herbeigerollt und über Lady Magentas Kopf gestülpt. Mortimer beobachtete, wie die Frau, die sie bediente, den Schalter umlegte, und gleich darauf konnte er das Rauschen des Geräts aus der Geräuschkulisse im Salon heraushören. Seine Augen wurden ausdruckslos, und ohne darauf zu achten, was um ihn herum vorging, fixierte er sie mit seinem Blick.

Lady Magenta spürte die zunehmende Wärme der Trockenhaube und lehnte sich in ihrem Stuhl gemütlich zurück, soweit das sperrige Gerät über ihrem Kopf dies zuließ. Die Geräusche um sie herum wurden vom lauten Rauschen der Haube vollkommen übertönt, und sie nutzte die verhältnismäßige Ruhe, um noch einmal die Checkliste für das Dinner am Abend durchzugehen.

Fingernägel, dachte sie bei sich und blickte auf ihre Hände, fantastisch. Kleid … himmlisch – Dior sei Dank. Schuhe – passen perfekt dazu. Ein Diamantcollier von De Beers im Wert von zwei Millionen Pfund unterwegs. Herrlich. Ich sehe aus wie fünfundzwanzig, dachte sie recht optimistisch. Sie schaute auf, betrachtete ihr Gesicht im Spiegel und staunte über seine seidige Glätte – Anfang der Woche hatte sie mit schmerzhafter Säure die obere Hautschicht abgelöst und jede Sekunde hatte sich gelohnt. Sie lächelte breit in den Spiegel und bewunderte die glänzenden Veneers, die auf ihre Zähne aufgesetzt waren und ihnen ein so blendendes Weiß verliehen, dass sie wahrscheinlich noch im Dunkeln strahlten.

Während Lady Magenta sich so in Augenschein nahm und sich darüber wunderte, wie gut sie es verstand, ihr wahres Alter zu verbergen, erstarrte sie plötzlich. Direkt unter dem linken Auge bemerkte sie einen dunklen Fleck, und sie hätte schwören können, dass er am Morgen noch nicht da gewesen war. Sie beugte sich so weit wie möglich vor, zog die Trockenhaube näher zum Spiegel, und stellte mit Entsetzen fest, dass es sich bei dem Fleck tatsächlich um einen großen, braunen Leberfleck handelte. Sie rang nach Luft. In der verzweifelten Hoffnung, es könnte doch nur etwas Schmutz sein, versuchte sie, den Fleck wegzuwischen, doch er haftete fest an ihrem Gesicht. Und was noch schlimmer war: Es sprossen Haare daraus hervor, die mit jeder Sekunde länger zu werden schienen. In einem Anfall von Panik begann sie, die Haare auszureißen, doch je mehr sie an ihnen zupfte, desto schneller schienen sie zu wachsen, und dann, so plötzlich, wie der erste Leberfleck aufgetaucht war, erschien ein zweiter dunkler Fleck oberhalb ihrer Oberlippe … und dann ein dritter.

Lady Magenta starrte auf ihr Spiegelbild und sperrte entsetzt den Mund auf. Dabei spürte sie etwas auf ihrer Zunge. Angeekelt spuckte sie es sich in die Hand und betrachtete es. Es war weiß und glänzte. Sie blickte wieder in den Spiegel, machte den Mund weit auf, und dabei fielen die übrigen Veneers von den Zähnen und entblößten eine Reihe dunkelgelber, verrotteter Stümpfe, die wackelig an ihren Wurzeln hingen. Lady Magenta klappte den Mund zu und spitzte fest die Lippen, damit sie nicht herausfielen. Sie presste die Hände auf den Mund und sah sich Hilfe suchend um, doch anscheinend hatte niemand bemerkt, was mit ihr geschah. Sie wollte schreien, spürte aber im selben Moment ein Ziehen, als zerre jemand an ihrem Gesicht. Sie beobachtete, wie die straffe Haut sich ablöste und ihre schlaffen Runzeln darunter zum Vorschein kamen, wie ihre Augen einsanken und sich dunkle Ringe darunter bildeten. Von Panik ergriffen, stieß sie die Trockenhaube weg.

»Hilfe!«, schrie sie, als ihr ein Lockenwickler nach dem anderen mitsamt den Haaren vom Kopf fiel.

»Lady Magenta! Was haben Sie denn?«

»Meine Haare! Mein Gesicht! WAS GESCHIEHT MIT MIR?«, schrie sie.

»Aber … ich kann nichts sehen …«, sagte die Friseurin verwirrt und legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen.

Das Letzte, was Lady Magenta sah, bevor sie das Bewusstsein verlor, war das Bild, das für den Rest ihres Lebens ihr Bewusstsein beherrschen sollte – das runzelige, schrumpelige Gesicht einer hässlichen, kahlköpfigen alten Frau.

Mortimer beobachtete, wie die Mitarbeiter die am Boden liegende Lady Magenta, die noch genauso aussah wie beim Betreten des Salons – nur blasser – umringten. Rasch stand er auf, die Haare noch nass, riss sich die schwarze Schürze vom Hals und rannte zur Tür. Da stürmten zwei große Männer von draußen herein. Er erkannte sie sofort. Sie gehörten zu den Leibwächtern, die Sir Bentley gestern Abend begleitet hatten. Als sie ihn erblickten, blieben sie wie angewurzelt stehen und verglichen sein Gesicht sofort mit dem Foto des Jungen, nach dem sie auf Befehl Sir Bentleys Ausschau halten sollten.

»Du da!«, rief einer der Männer und wollte Mortimer packen, aber ein plötzliches Klingeln in seinen Ohren schüttelte ihn und er erstarrte. Mortimer sah die beiden Männer abwechselnd an und blendete alles andere um ihn herum aus.

»Ihr wollt schlafen«, sagte er langsam. »Ihr seid sehr müde.«

Die Männer hielten inne und sahen Mortimer wie abwesend an, mit einem Mal taub für das Geschrei der Mitarbeiter und das Heulen des nahenden Krankenwagens.

Eine Minute später schlüpfte Mortimer aus dem Salon und rannte, so schnell er konnte, die Straße entlang. Zurück blieben eine ohnmächtige alte Dame, um die sich das bestürzte Personal eines Friseursalons drängte, und zwei große Männer, die zusammengerollt auf dem Fußboden lagen und leise schnarchten.