Während London den kältesten Dezember seit Beginn der Wetteraufzeichnungen erlebte und Schneefälle und stürmische Winde über der Erde ein Chaos verursachten, picknickten die Schüler von Myers Holt jeden Tag unter dem strahlend blauen Himmel und in der angenehmen Wärme ihrer künstlichen Umgebung. Die Ausgangssperre machte ihnen nicht viel aus, denn bei jeder sich bietenden Gelegenheit konnten sie frei im Garten herumlaufen oder im warmen Wasser des Swimmingpools schwimmen.
Chris war noch nie so gerne zur Schule gegangen wie in Myers Holt und machte sich keine großen Gedanken darüber, was geschehen würde, wenn das Jahr vorüber war – er war zuversichtlich, dass dann alles anders sein würde als zuvor. Nur gelegentlich dachte er an sein altes Leben zurück, und dabei hatte er ein gutes Gefühl. Obwohl er nur ein paarmal kurz mit seiner Mutter telefoniert hatte, war er davon überzeugt, dass es ihr nun, da die Rechnungen regelmäßig bezahlt wurden, besser ging. Zum ersten Mal in seinem Leben war er guter Dinge, und nicht einmal die Rückkehr Ms Lambs – die ein nagelneues Paar türkisfarbener Stiefel und einen Verband über dem Knöchel trug – trübte seine Freude darüber, dass er endlich einen Platz gefunden hatte, an dem er sorgenfrei leben konnte und von Menschen umgeben war, die er wirklich als Freunde bezeichnen konnte. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er das sagen konnte, und trotz aller Wesensunterschiede hätte er sich keine bessere Gruppe wünschen können.
Daisys anfängliches Heimweh hatte sich gelegt, und obwohl Rex sie mit seinen Bemerkungen immer noch zum Weinen bringen konnte, bewunderte Chris an ihr, dass sie nie ein böses Wort über Rex oder irgendeinen anderen verlor. Sebastians Englisch, das trotz seines gewaltigen Wortschatzes immer noch gestelzt klang, hatte sich enorm verbessert. Er war ein richtiger Shakespeare-Fan geworden und trug den Mädchen Sonette des Dichters vor, was Daisy eins ums andere Mal knallrot werden ließ und Lexi veranlasste, ihm ein Buch um die Ohren zu hauen. Rex amüsierte sich köstlich darüber. Er selbst versuchte die Mädchen dadurch zu beeindrucken, dass er sie mithilfe seiner GABE ins Straucheln brachte, Bücher außerhalb ihrer Reichweite in der Luft schweben ließ und sie in ihrem Zimmer einschloss, wenn sie zum Unterricht mussten und spät dran waren. Doch so nervtötend Rex auch sein mochte, er konnte ihre Lehrer und vor allem John und Ron so verblüffend echt nachmachen, dass sich alle vor Lachen kugelten. Zum Beispiel schnellte er wie Ron immer dann, wenn sie am wenigsten damit rechneten, plötzlich in die Höhe und hüpfte herum wie ein Ninja, oder er sang Countrylieder über die Pudeldame Fifi und tat so, als müsste er vor Rührung weinen wie John. Ja, er konnte sie zum Lachen bringen, und deshalb hatten alle eine Schwäche für ihn entwickelt, auch wenn es keiner zugegeben hätte.
Chris war zum ersten Mal seit jenem Tag, als seine Mutter telefonisch vom Tod seines Vaters erfahren hatte, wirklich glücklich.
In den zwei Wochen nach Sir Bentleys Stunde zum Thema INFERNO spielten sie im Unterricht jede Möglichkeit durch, mit der sie beim Antarktis-Ball konfrontiert werden konnten. Einige Lektionen waren praktischer Art und besser als jedes Computerspiel, das Chris sich hätte vorstellen können. In den Thinktanks streiften sie durch ein merkwürdig menschenleeres London, bekämpften Feinde, die sich in dunklen Gassen versteckten, und brachten Fahrzeuge in ihre Gewalt, die sich mit hoher Geschwindigkeit vom Schauplatz eines Verbrechens entfernten. Die Stunden bei Ms Lamb waren längst nicht so actionreich, aber mit Ausnahme von Ms Lamb selbst ebenso interessant, da sie lernten, wie man sich im Kopf eines anderen zurechtfand. Dass sie aneinander üben mussten, war ihnen am Anfang unangenehm, doch ihr wachsendes Selbstvertrauen im Umgang mit Sperren gab ihnen die Gewissheit, dass niemand etwas herausfinden würde, was er nicht sollte. Bald waren alle so unbeschwert bei der Sache, dass sie ihre Mitschüler bei der Suche nach bestimmten Informationen Wettrennen in ihrem Kopf veranstalten ließen, bei denen ihnen vor lauter Ohrenklingeln fast der Schädel platzte.
In einer dieser Stunden verriet ihnen Ms Lamb endlich, wo ihre besonderen Stärken lagen. Philip und Daisy waren Datensammler und sollten vornehmlich bei Aufgaben eingesetzt werden, bei denen es darauf ankam, die Technik der Fernwahrnehmung anzuwenden. Lexi und Sebastian waren, und das überraschte niemanden, Suggestoren – ihre Stärke bestand in der Beherrschung von Menschen und Gegenständen.
»Und die beiden anderen«, sagte Ms Lamb, ohne Rex oder Chris anzusehen, »sind Gedankenleser. Wenn die Situation es erfordert, werdet ihr beide in die Gedanken von Menschen eindringen, um Informationen zu beschaffen oder einen INFERNO-Angriff abzuwehren.«
Ms Lamb sagte das wie nebenbei, als wäre es nur eine Randbemerkung und kaum der Rede wert, dabei wussten alle, dass diese Aufgabe von allen die schwierigste war. Chris freute sich diebisch darüber, dass es ihr offensichtlich schwerfiel, dies offen einzugestehen. Er und Rex grinsten sich nur an.
»Ihr solltet alle einen Riesenrespekt vor mir haben«, sagte Rex, als sie gemeinsam das Klassenzimmer verließen. »Ich bin Rex, der Gedankenleser, und ab sofort wird jeder genau das tun müssen, was ich will – ha, endlich! Philip, ich schlage vor, du gehst in dein Zimmer und holst mir einen von den Schokoriegeln, die dir deine Mutter geschickt hat.«
»Und ich schlage vor, du hältst die Klappe«, erwiderte Philip lächelnd.
»Du bist doch nur neidisch auf meine erstaunlichen Superkräfte«, sagte Rex. » Was hat Ms Lamb noch mal gesagt, was du bist, Einstein? Ach ja, richtig – ein Streber.«
Philip wollte darauf gerade mit einem Zitat antworten, wonach Streber die Welt regierten, als sie von John unterbrochen wurden, der zusammen mit Ron in der Glashalle auf sie wartete.
»Wir brauchen eure Hilfe«, sagte John. »Könntet ihr alle mal mitkommen? Es wird nicht lange dauern.«
Neugierig folgten sie John und Ron, die sie um den Hügel herum zu dem Sportplatz neben dem Swimmingpool führten.
»Wir brauchen euch für eine Wette«, erklärte John und ging mit ihnen zu einer großen Kiste, die mit kleinen, bunten Plastikbällen gefüllt war.
»Was für eine Wette?«, fragte Chris.
»Willst du es erklären, Ron?«
Ron nickte und verschränkte die Arme. »Folgendes Szenario: Wir befinden uns im Krieg. Wir führen eine Gruppe von Männern durch offenes Gelände, und dann plötzlich – bum!«
Alle zuckten zusammen.
»Wir werden angegriffen! Wir werden von allen Seiten beschossen. Überall um uns herum fallen Männer. Wir müssen uns in Sicherheit bringen, damit wir einen Gegenangriff starten können. In einiger Entfernung steht ein unbewohntes Haus. Das müssen wir erreichen, bevor wir getroffen werden. Die Frage ist nur, wer als Erster hinkommt – John oder ich? Ich natürlich«, behauptete Ron, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Und das bestreite ich, Ron«, entgegnete John.
»Du kannst bestreiten, was du willst, recht hast du trotzdem nicht.«
»Und was sollen wir dabei tun?«, fragte Rex ungeduldig.
»Nun ja, John meint, dass die Verwendung von scharfer Munition hier drin etwas riskant wäre. Wahrscheinlich weil er weiß, dass er verlieren würde.«
»Komm endlich zur Sache, Ron«, sagte John.
»Einer von euch soll die Zeit stoppen. Die anderen sollen mithilfe dieser besonderen Kräfte, die ihr habt …«
»Der GABE?«, fragte Daisy.
»GABE, genau. Die sollt ihr benutzen, um uns mit diesen Plastikbällen hier zu beschießen, während wir das Spielfeld überqueren. Bis zu der Fahne da drüben.« Ron deutete auf eine Stange mit einer roten Fahne am anderen Ende des Rasens. »Gewonnen hat, wer als Erster bei der Fahne ist. Also, wollt ihr uns bei unserer kleinen Wette helfen?«
»Ja!«, antworteten alle sofort.
»Hervorragend«, sagte Ron. »Und bitte, schießt mit so viel Schmackes, wie ihr könnt.«
Daisy, die freiwillig die Rolle der Zeitnehmerin übernahm, postierte sich am einen Ende des Spielfelds, die anderen stellten sich in einer Reihe an der Seitenlinie auf, jeder einen Haufen Plastikkugeln zu seinen Füßen.
Ron und John gingen zu der Torlinie gegenüber der Fahne.
»Ich fang an«, sagte Ron. »Wer schneller bei der Fahne ist, hat gewonnen. Abgemacht?«
»Abgemacht«, sagte John, und die beiden Männer gaben sich die Hand.
»Fertig?«, fragte Ron, an Daisy gewandt. Daisy nickte.
»Drei … zwei … eins … los!«, schrie sie.
Ron rannte nach links und warf sich auf den Boden, wobei er wie eine Katze auf allen vieren landete, dann rollte er sich dreimal herum und duckte sich hinter einen großen Abfalleimer, gegen den die Bälle prasselten, die Sebastian von seiner Position am anderen Endes des Platzes abfeuerte. Ron warf Blicke in alle Richtungen, dann sprang er plötzlich auf und rannte im Zickzack quer übers Feld zur rechten Seite. Er drehte den Kopf und sah, dass ein Ball aus Lexis Haufen auf seine Beine zuflog und nur noch ein paar Meter entfernt war. Aber Ron hatte nicht umsonst jahrelang Kampfsport trainiert. Er sprang in die Höhe, zog die Knie an die Brust und rollte sich dann, ohne von dem Ball getroffen worden zu sein, auf dem Boden ab. Im Nu war er wieder auf den Beinen, rannte ein paar Meter und drehte einen Rückwärtssalto, um einem weiteren Treffer zu entgehen.
Während Ron sich immer weiter vorarbeitete, rüstete sich Chris, der letzte Schütze in der Reihe, zum Angriff. Er sah hinab auf den Haufen Bälle und konzentrierte sich. Sofort stiegen die Bälle vom Boden auf und richteten sich, sanft schwebend, in einer sauberen Linie aus. Ohne sie aus den Augen zu lassen, wartete Chris, bis Ron hinter einem Hindernis in seiner Nähe auftauchte. Philip, der neben ihm stand, feuerte wie wild, aber Ron wich jedem Ball geschickt aus. Dann war der letzte verschossen und Chris kam an die Reihe.
Mit entschlossener Miene eröffnete er den Angriff und feuerte mit der ganzen Wucht, die er sich in seinem Kopf nur vorstellen konnte, einen Ball nach dem anderen ab.
»Los, Chris, zeig’s ihm!«, rief Rex.
Die Bälle hatten viel Schwung und Pfeffer, aber keiner vermochte Ron zu treffen, der sich duckte, eine Hechtrolle machte und von einer Seite des Spielfelds zur anderen sprang. Schließlich hatte Chris nur noch einen Ball. Er wartete, bis Ron auf die Fahne zulief, dann feuerte er. Der Ball flog wie an der Schnur gezogen. Ron drehte gerade noch rechtzeitig den Kopf und hüpfte über ihn hinweg, dann warf er sich zu Boden, reckte die Arme und berührte mit den Fingern die Fahnenstange.
»Achtundvierzig Sekunden!«, rief Daisy.
Ron sprang auf und lächelte. Er lief hinüber zu John, der sich die ganze Geschichte mit verschränkten Armen und unbewegter Miene angesehen hatte.
»Du kannst jetzt gleich aufgeben, wenn du dir die Blamage ersparen willst«, sagte Ron.
»Ich werde meine Chance nutzen«, erwiderte John. »Nur der Sicherheit halber: Gewonnen hat, wer am schnellsten bei der Fahne ist. Ist das richtig, Ron?«
»Das ist richtig, John.«
John wandte sich der Fahne zu und wartete, bis Chris, Rex, Lexi, Philip und Sebastian mithilfe ihrer GABE die Bälle wieder eingesammelt hatten. Sowie alle Bälle in der Luft schwebten, blickte er zu Daisy und nickte.
»Drei … zwei … eins … los!«, rief Daisy.
Chris sah aus dem Augenwinkel, wie John schnurstracks auf die Fahne zumarschierte. Sebastian feuerte den ersten Ball ab, aber John guckte gar nicht, wohin er flog. Er ging einfach mit gleichmäßigen Schritten geradeaus weiter und zuckte nicht einmal zusammen, als der Ball gegen seine Schulter klatschte.
Ron sah von der Seitenlinie aus mit bedröppelter Miene zu, wie ein Ballhagel in Richtung John flog und an ihm abprallte, bis seine hünenhafte Gestalt zu einer Masse aus bunten Punkten verschwamm, die sich langsam und unaufhaltsam weiterbewegte, ohne auch nur einmal zu stocken oder von der eingeschlagenen Richtung abzuweichen. Augenblicke später erreichte John die andere Seite und legte, als ihn der letzte Ball traf, seelenruhig die Hand an die Fahne.
»Sechzehn Sekunden!«, rief Daisy.
John drehte sich um und grinste, während Ron, hochrot im Gesicht vor Zorn, zu ihm hinrannte.
»Du hast geschummelt!«, rief Ron empört.
»Wenn du dich da mal nicht täuschst«, erwiderte John gelassen. »Du hast dich klipp und klar ausgedrückt – gewonnen hat, wer schneller bei der Fahne ist. Von den Bällen war nicht die Rede.«
»Das war auch nicht nötig«, protestierte Ron. »Das versteht sich ja wohl von selbst.«
Ron sah aus, als wollte er vor Enttäuschung gleich explodieren. Er biss die Zähne aufeinander und stürmte ohne ein weiteres Wort davon.
»Danke für eure Hilfe«, sagte John zu den Schülern.
»Keine Ursache!«, erwiderte Rex. »Das war irre! Sagen Sie uns Bescheid, wenn Sie wieder mal eine Wette haben.«
»Wird gemacht«, sagte John und tippte sich grüßend an die Stirn. »He, Ron, was kochst du uns heute Abend denn Schönes? Du weißt, es müssen drei Gänge sein«, rief er, als Ron gerade hinter dem Hügel verschwand.
John winkte und eilte ihm unter dem Gelächter von Chris und den anderen nach.