An diesem Sonntag, an dem die meisten anderen Kinder ihren schulfreien Tag genossen, paukten die Schüler von Myers Holt bei Ms Lamb, nachdem sie sich eine Stunde lang in der Glashalle über eine von Mr Green aufgebaute Hindernisstrecke gequält hatten. Während Ms Lamb mit einem Lineal auf ihrem Pult den Rhythmus klopfte, leierten alle im Chor die Namen der Gebäude auf der Gedankenkarte herunter, doch obwohl sie das jeden Tag taten, verlor Chris heute ständig den Faden. Es blieb nicht unbemerkt.
»Aufwachen, Junge«, schrie Ms Lamb und schlug mit der flachen Hand auf seinen Tisch.
Chris zuckte zusammen.
»Oh … äh … Entschuldigung«, sagte er und versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, wo sie waren.
»Welcher Raum ist der nächste?«, fragte Ms Lamb und sah ihn scharf an.
»Ich … äh … «, stammelte Chris. Er schaute sich Hilfe suchend um.
Überraschung, formte Philip mit den Lippen.
»Ach ja, das nächste Gebäude ist ÜBERRASCHUNG UND VERWIRRUNG«, sagte Chris, sich wieder Ms Lamb zuwendend.
Sie wirkte unbeeindruckt.
»Und in welcher Straße steht es?«
»ALLEE DER GEFÜHLE«, antwortete Chris. Ms Lamb entfernte sich von seinem Tisch.
»Nach ÜBERRASCHUNG UND VERWIRRUNG kommen wir zu dem Gebäude, das die Erinnerungen woran beherbergt?«
»EIFERSUCHT«, riefen die Schüler im Chor.
»Gut. Fahrt dort fort«, befahl Ms Lamb und klopfte wieder mit dem Lineal auf ihr Pult. »Drei … zwei … eins.«
»PEINLICHKEIT … KUMMER … FRÖHLICHKEIT … BEGEISTERUNG UND FREUDE … ÄNGSTE UND PHOBIEN … «
»Nach links abbiegen.«
»MENSCHENSTRASSE … FAMILIE … FLÜCHTIGE BEKANNTSCHAFTEN … ALTE BEKANNTSCHAFTEN … BERÜHMTHEITEN … FREMDE … «
Während Chris die Namen der Gebäude aufsagte, wanderten seine Gedanken wieder zu Frank, der in der Pfandleihe auf sein Erscheinen wartete, und er fragte sich, wie sehr es Frank wohl wurmen würde, dass er ihm sein Vertrauen geschenkt hatte. Chris hatte sein Versprechen unbedingt halten wollen, doch je näher der Tag gerückt war, desto mehr war seine Entschlossenheit ins Wanken geraten. Der Gedanke, sich davonzuschleichen, verursachte ihm ein unbehagliches Gefühl.
Nach dem Essen vertraute er im Kartenraum Philip seine Bedenken an und Philip gab ihm sofort recht.
»Wenn sie dich erwischen«, flüsterte Philip, »könntest du fliegen. Das ist es nicht wert.«
»Was habt ihr zwei denn zu flüstern?«, fragte Lexi und spähte vom Sofa herüber.
»Nichts«, erwiderte Chris schroff.
»Schon gut, nicht aufregen – interessiert mich sowieso nicht«, sagte Lexi und blickte wieder zum Fernseher.
»Ich habe nur ein schlechtes Gewissen«, flüsterte Chris. »Ich habe ihm versprochen, dass ich komme. Er hat mir Geld geliehen.«
»Wozu hast du dir denn Geld von ihm geliehen?«, fragte Philip.
Chris hatte ganz vergessen, dass ihn alle bis auf Daisy für reich hielten. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er. »Es ist nur so, dass ich niemals ein Versprechen breche …« Plötzlich hörte er ein Klingeln in den Ohren. So schnell er konnte, begann er, in seinem Kopf »London Bridge is Falling Down« aufzusagen. Das Klingeln hörte sofort auf.
»Was für ein Versprechen hast du gebrochen?«, fragte Lexi und grinste verschmitzt zu ihnen herüber. »Wozu hat man denn die GABE, wenn man keinen Gebrauch von ihr macht? Du hättest mich schneller stoppen müssen. Also, was ist das für ein Versprechen?«
»Was für ein Versprechen?«, fragte Sebastian und kam vom Poolbillardtisch herüber.
Chris zögerte, doch bevor er dazu kam, sich eine Antwort ausdenken, sprang Philip für ihn ein.
»Er hat seiner Mum versprochen, jeden Tag fünfmal Obst zu essen, aber gestern hat er es vergessen.«
Chris sah Philip an und bedachte ihn mit einem Blick, der signalisierte: Was redest du denn da?
Philip zuckte mit den Schultern. »Was Besseres ist mir nicht eingefallen«, flüsterte er.
»Wir werden dich nicht verraten, Muttersöhnchen«, rief Rex vom anderen Ende des Raums.
»Ah ja, danke«, sagte Chris.
»Nein, nein!«, rief Sebastian und kam zu ihnen herüber. »Ein Mann ist nur so gut wie sein Wort. Und ein Versprechen an deine Mutter du darfst nie brechen – sie dir hat das Leben geschenkt. Ich hole dir jetzt zehn Früchte, dann du kannst dein Versprechen immer noch halten.« Sebastian verließ den Raum.
»Es ist nicht schlimm, wenn du das Versprechen nicht absichtlich gebrochen hast«, sagte Daisy sanft und schaute von dem Buch auf, in dem sie las. »Fang heute einfach noch mal an.«
Chris überlegte kurz. »Nein, Sebastian hat recht. Ich habe mein Wort gegeben. Ich muss es tun.«
»Okay, wenn du dir sicher bist«, sagte Philip.
»Das wird ein Spaß«, sagte Rex, als Sebastian mit zwei Bündeln Bananen zurückkam.
Nach dem Abendessen, das Chris kaum angerührt hatte – er war von den Bananen noch pappsatt –, sagte er zu den anderen, dass er für ihren gemeinsamen Filmabend im Kartenraum zu müde sei und gleich ins Bett gehen werde. Er verschwand in seinem Zimmer, holte einen Armvoll Kleider aus dem Schrank, kletterte damit zum Bett hinauf, stopfte sie unter die Decke und richtete alles so her, dass es aussah, als liege er darunter und schlafe. Dann schlich er auf Zehenspitzen durch den Flur – unnötigerweise, denn die Tür zum Kartenraum war zu und der Lärm von Explosionen und quietschenden Autoreifen aus dem Film, den Rex ausgesucht hatte, war überdeutlich laut zu hören. Chris öffnete die Tür zur Eingangshalle und ging am Aufzug vorbei in einen weiteren Flur. Vor der ersten Tür blieb er stehen und klopfte laut an.
»Herein!«, rief Johns Stimme.
Chris drehte den Türknauf, und da wurde er mit einem Mal sehr nervös. Es war eine Sache, sich davonzustehlen, dachte er, aber eine ganz andere, Ron und John deswegen anlügen zu müssen. Beinahe hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht, aber dann sagte er sich, dass es ja nur eine kleine Lüge war und dass sie einem guten Zweck diente, und betrat zum ersten Mal überhaupt das Quartier der beiden Sicherheitsleute.
John und Ron spielten gerade Karten. Das Zimmer war klein und spärlich möbliert. In der einen Ecke stand neben einer geschlossenen Tür ein Aktenschrank mit einem Fernseher darauf, in dem ein alter Kriegsfilm in Schwarz-Weiß lief. Daneben ragten zwei Spinde empor. Der eine war mit Urkunden, der andere mit Hunderten von Fotos einer weißen Pudeldame geschmückt. Chris war sich ziemlich sicher, welcher Spind wem gehörte. Dann stachen ihm die Bildschirme ins Auge, die mit den Überwachungskameras verbunden waren. Rasch glitt sein Blick über sie hinweg, und er entdeckte die beiden, die ihm am meisten Kopfzerbrechen bereiteten: Der eine zeigte die Eingangshalle, der andere ein dunkles Bild von der Straße draußen.
»Alles in Ordnung, Chris?«, fragte John und legte sein Kartenblatt auf einen kleinen Holztisch.
»Ich glaube schon«, sagte Chris. Er spürte, dass er rot wurde, und konnte nur hoffen, dass sie es nicht bemerkten. »Es ist nur …«
»Was?«, fragte Ron.
»Ich habe ein komisches Geräusch aus der Glashalle gehört. Ich habe das Gefühl, da ist jemand drin.«
Chris war froh, dass er nicht mehr zu sagen brauchte, denn Ron sprang augenblicklich vom Tisch auf und zog einen Schlagstock aus seinem Gürtel. »Wahrscheinlich ein Einbrecher. Gehen wir, John.«
»Reg dich ab, Ron, das ist bestimmt nur ein Leitungsrohr«, sagte John, stand aber trotzdem auf. »Und du, Chris, gehst wieder zu den anderen in den Kartenraum. Sei unbesorgt. Wir werden nachsehen. Es ist bestimmt nichts.«
»Danke«, sagte Chris, der sich schrecklich fühlte. Aber wenigstens, dachte er, werden sie es wahrscheinlich nie erfahren.
Er verließ mit Ron und John den Raum und sah ihnen nach, wie sie in Richtung Glashalle davoneilten. Kaum waren sie seinen Blicken entschwunden, rannte er zum Aufzug und betätigte den Knopf. Die Tür ging auf und er trat in die Küche. Er drückte den Daumen auf den Griff des Kochers und die Tür fuhr hinter ihm wieder zu.
Da ihm wahrscheinlich nicht viel Zeit blieb, bis Ron und John in ihr Zimmer zurückkehrten, stürzte er aus dem Lift, sobald die Tür im Erdgeschoss aufging, und rannte zur Haustür, öffnete sie und trat ins Freie. Eisige Winterkälte schlug ihm entgegen, und er sog scharf die Luft ein. Er blickte auf seine nackten Arme und begriff, wie unpassend er angezogen war, aber jetzt war es zu spät, um eine Jacke zu holen. Unsicher, ob es funktionieren würde, schloss er die Augen und stellte sich vor, wie ihm wärmer wurde, und tatsächlich: Fast sofort hörte er auf zu frieren, als hätte sich der schneidende Wind in eine laue Brise verwandelt, die wohltuend über seine Haut strich. Er vergewisserte sich, dass die Luft rein war, dann rannte er die Treppe hinunter und den Gehweg entlang in Richtung Oxford Street.
»Willst du an den Strand?«, fragte der Taxifahrer und beäugte Chris im Rückspiegel.
»Äh … nein … ich habe nur meine Jacke vergessen.«
»Und Schal und Mütze … Heute Abend ist es eisig kalt. Du wirst dir einen Schnupfen holen. Also, wo soll es hingehen?«
»King Street, Hammersmith«, antwortete Chris.
»King Street also», sagte der Taxifahrer und fuhr los.
Zehn Minuten später kam das Taxi hinter einer scheinbar endlosen Schlange von Autos, deren Bremslichter rot in der Dunkelheit leuchteten, zum Stehen.
»Der Verkehr ist eine Katastrophe, seit sie den Hyde Park abgeriegelt haben«, erklärte der Fahrer. »Es ist jedes Jahr dasselbe – dagegen sollte man mal etwas unternehmen.«
»Warum ist er denn abgeriegelt?«, fragte Chris.
»Wegen des Antarktis-Balls. Sie sperren alle Straßen rund um den Park, damit niemand sieht, was sie dort treiben. Gestern wollte ich ganz frech eine Abkürzung nehmen, aber die Polizei hatte etwas dagegen. Trotzdem habe ich eine Schlange LKWs gesehen, die Eisblöcke abgeladen haben, so groß wie mein Taxi. Unglaublich.«
»Wow«, sagte Chris und versuchte, sich einen so großen Eisblock vorzustellen.
»Es war immer mein Traum, da mal hinzugehen«, seufzte der Fahrer wehmütig.
»Ich gehe dieses Jahr hin«, erwiderte Chris.
»Was?«, rief der Fahrer, drehte sich um und sah ihn an. »Du Glückspilz! Als ich noch ein Junge war, hätte ich mir die rechte Hand abgehackt, um eine Einladung zu bekommen – und ich würde es noch heute tun. Selbst die Chance auf einen Haupttreffer in der Lotterie ist größer – ich wette, das hast du nicht gewusst.«
»Nein«, sagte Chris erstaunt. »Das wird bestimmt ganz toll.«
»Der beste Abend deines Lebens, wette ich.«
Der Fahrer drehte sich wieder nach vorn, als sich die Autoschlange langsam in Bewegung setzte, und Chris lehnte sich ans Fenster und sah zu, wie sein Atem die Scheibe beschlug. Er hatte sich nie für einen Glückspilz oder einen Pechvogel gehalten, denn er war immer der Meinung gewesen, dass es an ihm selbst lag, ob er etwas aus seinem Leben machte. Doch die Worte des Fahrers gingen ihm nach, und die restliche Fahrt über dachte er an die vielen glücklichen Ereignisse der letzten Zeit, die ganz ohne sein Zutun eingetreten waren. Es stimmte, dachte er, er musste wirklich ein Glückspilz sein.
»Da wären wir«, sagte der Taxifahrer und riss ihn aus seinen Gedanken. »Das macht dann sechzehn Pfund vierzig.«
Chris erstarrte. Bei den Vorbereitungen für seinen heimlichen Ausflug hatte er kein einziges Mal daran gedacht, Geld mitzunehmen. Und jetzt war er hier, mitten im nächtlichen London, und konnte niemanden anrufen. Er griff in die Tasche seiner Jeans für den Fall, dass dort wie durch ein Wunder plötzlich ein Zwanzigpfundschein steckte, aber natürlich war die Tasche leer. Seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte überhaupt keine Ahnung, was er tun sollte, und ausnahmsweise einmal hielt er Ehrlichkeit nicht für die beste Lösung.
Der Fahrer beobachtete mit wachsendem Argwohn im Rückspiegel, wie Chris in seiner Tasche wühlte. »Du hast das Geld doch, mein Sohn? Ich lasse mich nicht an der Nase herumführen.«
Chris schwieg und suchte verzweifelt nach einem Ausweg.
Der Fahrer drehte sich um und sah ihn scharf an. »Ich gebe dir fünf Sekunden. Wenn du dann nicht zahlst, rufe ich die Polizei. Eins … zwei …«
Chris blieb nur ein einziger Ausweg. Er schob die aufkommenden Schuldgefühle beiseite und sah dem Fahrer in die Augen.
»Ach, hier ist es ja«, sagte er ruhig, ohne den Blick von dem Fahrer zu wenden. Er ließ seine Augen glasig werden und innerhalb von Sekunden stand er in der Rezeption des Fahrers.
»Sie haben fünfundzwanzig Pfund in der Hand«, sagte Chris, und nachdem er den Satz dreimal wiederholt hatte, sah er das Geld vor sich erscheinen. Zuerst war das Bild klein, dann wurde es immer größer, bis es das Gehirn des Mannes ganz ausfüllte.
Der Fahrer blickte auf seine leere Hand und lächelte.
»Ich werd verrückt, besten Dank!«, sagte er. »Schöne Weihnachten und viel Spaß bei dem Ball.«
»Danke«, sagte Chris mit schlechtem Gewissen. Er stieg so schnell wie möglich aus, und während er dem davonfahrenden Taxi nachsah, schwor er sich, nach dieser Nacht so etwas nie wieder zu tun.
Als Chris sich in der vertrauten Umgebung umschaute, kam ihm zu Bewusstsein, wie wenig er in Myers Holt an sein altes Leben gedacht hatte. Bei diesem Gedanken wurde ihm noch unbehaglicher zumute, als es ihm ohnehin schon war, und er überquerte eilends die Straße, denn er wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Obwohl alle Geschäfte geschlossen waren, wimmelte die Straße noch von Menschen, die vornübergebeugt ihrem Ziel entgegenhasteten, um der grimmigen Kälte zu entrinnen. Ein paar schauten auf und sahen ihn merkwürdig an. Im ersten Moment fragte er sich, ob sie ahnten, dass er in das Haus, vor dem er stand, einbrechen wollte, aber dann dämmerte ihm, dass sie ihn wahrscheinlich nur deshalb so anglotzten, weil er erst zwölf war und in einer Winternacht im T-Shirt auf der Straße herumlungerte. Er tat so, als schaue er auf seine Uhr und warte auf jemanden, und hoffte, dass ihn niemand ansprach – was zum Glück auch niemand tat.
Nachdem er gut zehn Minuten ungeduldig dort herumgestanden hatte, leerte sich dieser Teil der Straße und er warf rasch einen Blick auf die Tür und zwang das Schloss kraft seiner Gedanken, sich zu öffnen. Er vernahm ein lautes Klicken, sah ein letztes Mal nach, ob die Luft rein war, stieß die Tür auf und schlüpfte hinein.
Er schaltete das Licht an und ließ den Blick über die Kisten, Fernsehapparate, Radios und anderen Geräte wandern, die sich an allen vier Wänden stapelten. Die Vitrinen quollen über von Schmuck, der glanzlos hinter schmutzigen Scheiben lag. Chris seufzte angesichts der gewaltigen Aufgabe, die vor ihm lag, denn er wusste, dass er schleunigst nach Myers Holt zurückmusste – aber selbst unter Zuhilfenahme seiner GABE würde er eine ganze Weile brauchen. Er trat in die Mitte des Raums, richtete seinen Blick auf die Wand zu seiner Linken und konzentrierte sich auf einen Satz großer Lautsprecherboxen. In nächsten Moment stiegen die Boxen von dem Regalbrett, auf dem sie standen, in die Luft und schwebten zur hinteren Wand.
Zwei Stunden später, nachdem er zugesehen hatte, wie sämtliche Artikel des Ladens um ihn herumgeflogen waren und sich selbsttätig umgeräumt hatten, hielt Chris inne und wischte sich die Stirn ab. Er blickte zur Ladentheke und beobachtete, wie sich das Staubtuch in die Luft erhob und zu der letzten Vitrine hinüberflatterte, in der die Schmuckstücke jetzt, nach Art und Preis geordnet, sauber in Reihen lagen. Das Staubtuch drückte sich gegen die Scheibe und begann, sie wie wild zu reiben, bis der Schmutz fort war und die Vitrine im Glanz der darinliegenden Diamanten erstrahlte.
Chris ging in den hinteren Teil des Ladens und räumte alle Putzutensilien weg. Dann ergriff er den Block, der nun ordentlich neben der Kasse auf der Ladentheke lag, und fischte einen Kuli aus dem auf Hochglanz polierten Stifthalter daneben.
Lieber Frank,
es tut mir leid, dass ich heute nicht früher gekommen bin, aber ich habe mein Versprechen nicht vergessen. Ich hoffe, Sie sind mit meiner Arbeit zufrieden.
Ich wünsche Ihnen fröhliche Weihnachten,
Chris.
PS: Es tut mir leid, dass ich einbrechen musste.
Einen Häuserblock von Myers Holt entfernt sprang Chris aus dem Taxi und winkte dem lächelnden Fahrer hinterher, obwohl er ein schlechtes Gewissen hatte, weil er auch ihn mit seiner GABE hatte täuschen müssen. Er nahm sich einen Augenblick Zeit und inspizierte die Fassade der Schule. Nachdem er die Bildschirme in Rons und Johns Zimmer gesehen hatte, wusste er, dass er einer Entdeckung entgehen konnte, wenn er sich dicht am Geländer hielt und von links an die Tür heranpirschte. Genau das tat er. Er blickte auf das Türschloss, ließ seine Augen verschwimmen und zwang es, sich zu entriegeln. Er hörte ein Klicken und öffnete vorsichtig die Tür. Er rannte zum Lift, der bereits im Erdgeschoss war, und fuhr nach unten. Jetzt konnte er nur hoffen, dass John und Ron zu abgelenkt waren, um ihn zu bemerken, oder – noch besser – dass sie schliefen.
Er trommelte mit den Fingern nervös auf die Küchenanrichte, während der Raum leicht erzitterte und zum Stehen kam. Wenn es doch nur schon überstanden wäre, dachte er. Er ging zur Tür und sah zu, wie sie aufging.
»Wo bist du gewesen?«
Chris erschrak. Vor ihm standen Sir Bentley, Ron und John. Und keiner von ihnen schien erfreut, ihn zu sehen.
»Ich habe dich gefragt, wo du gewesen bist«, wiederholte Sir Bentley, und obwohl er die Stimme nicht anhob, hörte Chris die Wut, die hinter seiner Frage steckte.
Chris zögerte, aber ihm fiel keine glaubhafte Ausrede ein. Er beschloss, die Wahrheit zu sagen.
»Ich habe versprochen, in einem Laden zu arbeiten – der Besitzer hatte mich bereits dafür bezahlt.«
»Du hattest strikte Anweisung, in Myers Holt zu bleiben.«
»Ich weiß … Ich habe es nur getan, weil ich es versprochen hatte«, sagte Chris, obwohl ihm klar war, wie lächerlich das klang. In Sir Bentleys Blick lag ein Ausdruck von Argwohn und Zorn, den er noch nie bei ihm gesehen hatte.
»Komm mit, Christopher«, sagte Sir Bentley und schlug die Richtung zu seinem Büro ein. »Ron, John, Sie wissen, was Sie zu tun haben.«
Die beiden nickten und verschwanden in die entgegengesetzte Richtung.
In Sir Bentleys Büro nahm Chris auf demselben Stuhl Platz, auf dem er gesessen hatte, nachdem Ms Lamb von Hermes angefallen worden war. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch begriff er, dass er wohl zu weit gegangen war, und verfluchte sich dafür, dass er wegen eines kleinen Versprechens einem Mann gegenüber, den er wahrscheinlich nie wiedersehen würde, seinen Platz in Myers Holt aufs Spiel gesetzt hatte. Er merkte, dass er zitterte.
»Leg dir das um«, sagte Sir Bentley, zog die Decke mit Schottenmuster von dem abgenutzten Ledersofa am Kamin, über das sie gebreitet war, und reichte sie ihm. Chris wickelte sie sich um die Schultern und lächelte dankbar. Sir Bentley erwiderte das Lächeln nicht. Stattdessen nahm er einen Block und einen Stift aus der Schreibtischschublade und sah Chris an.
»So … und jetzt wirst du mir haarklein erzählen, was du heute Nacht getrieben hast.«
Chris begann mit seinem Geständnis, wobei er unerwähnt ließ, dass Philip ihm versprochen hatte, ihn nicht zu verraten. Sir Bentley unterbrach ihn nur hier und da, um ein Detail zu klären, und schrieb alles mit, was Chris sagte.
»Und das ist alles?«, fragte Sir Bentley, als Chris fertig war.
Chris nickte.
»Und das ist die ganze Wahrheit?«
»Ja, natürlich«, sagte Chris, erstaunt über die Frage.
»Christopher … wenn du für jemand anderen arbeitest … wenn du in irgendeiner Weise in das verwickelt bist, was mit Cecil Humphries und den anderen passiert ist, dann solltest du mir das jetzt sagen, denn wir werden es ganz sicher herausfinden.«
Chris brauchte einen Moment, ehe er begriff, was Sir Bentley damit andeutete, und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.
»Sie glauben, dass ich …? Nein! Ich weiß nichts darüber, was mit ihnen passiert ist.«
»Ich will es hoffen, Christopher«, sagte Sir Bentley. »Ich will es hoffen.« Er stand auf, ging zur Bürotür, öffnete sie und rief auf den Gang hinaus: »Ihr könnt jetzt reinkommen.«
Chris drehte sich um, nicht ahnend, was ihn erwartete. Übelkeit stieg in ihm hoch und er holte tief Luft.
»Kommt rein«, sagte Sir Bentley und trat zur Seite.
Lexi und Rex, beide im Schlafanzug, kamen herein, gefolgt von Ron und John.
Sie sahen Chris an und er erwiderte verdutzt ihren Blick.
»Das war keine gute Idee!«, flüsterte Rex. »Du steckst tief in der Tinte.«
Chris nickte nur.
»Christopher«, sagte Sir Bentley und kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück, »ich empfehle dir, keinen Widerstand zu leisten. Solltest du eine Sperre einsetzen, werde ich das als Schuldeingeständnis werten. Rex und Lexi – ihr werdet jetzt mithilfe eurer GABE in Erfahrung bringen, was Chris heute Abend zwischen 20.45 Uhr, als er den Lift betätigte, und 23 Uhr getan hat. Ihr dürft dabei nicht sprechen, und wenn ihr fertig seid, werden euch Ron und John in getrennte Räume bringen und ihr werdet einen Bericht darüber schreiben. Ich werde die Berichte prüfen und feststellen, ob alle drei – eure beiden und der von Christopher – übereinstimmen. Ich hoffe in deinem, Christopher, und in unserem Interesse, dass sie es tun. Habt ihr verstanden?«
Chris, Lexi und Rex nickten.
»Gut, ihr könnt anfangen.«
Chris lehnte sich zurück und versuchte, ruhig zu bleiben, als das Klingeln in seinen Ohren einsetzte.
Nach nur zwanzig Minuten, die Chris wie Stunden vorkamen, kehrte Sir Bentley allein in sein Büro zurück und legte den Stapel Papiere, den er bei sich trug, auf den Schreibtisch.
»Die Berichte stimmen überein, Christopher.«
Chris stieß einen erleichterten Seufzer aus.
»Das heißt nicht, dass du aus dem Schneider bist, obwohl ich froh bin, dass sich meine schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheitet haben. Wir haben die Pflicht, auf euch aufzupassen, und was du heute Abend getan hast, war mehr als töricht. Es war gefährlich. Du magst vielleicht glauben, dass du jetzt, wo du von deiner GABE weißt, selbst auf dich aufpassen kannst. Tatsache aber bleibt, dass du erst zwölf Jahre alt bist, und für einen Zwölfjährigen sind die Londoner Straßen zu unsicher, um nachts ohne Begleitung herumzustromern. Versteht du?«
»Ja, Sir«, antwortete Chris. »Es tut mir wirklich sehr leid. Ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen. Ich wollte nur mein Versprechen einhalten.«
»Deine Redlichkeit gehört zu den Eigenschaften, die wir am meisten an dir bewundern, aber heute Nacht hast du den Bogen überspannt und dich in Gefahr gebracht. Kannst du mir sagen, warum es dir so wichtig war, diesem Mann beim Aufräumen seines Ladens zu helfen?«
Chris war klar, dass er nur dann eine Chance hatte, in Myers Holt zu bleiben, wenn er ganz ehrlich war, und so sprach er zum ersten Mal in seinem Leben über alles, was seit dem Tod seines Vaters geschehen war. Sir Bentley hörte zu, während Chris sein Herz ausschüttete und von den vergangenen sieben Jahren berichtete – wie sich seine Mutter verändert hatte, von seinen Problemen in der Schule, seinen häuslichen Pflichten und wie schwer es war, jeden Monat die Rechnungen zu bezahlen.
»Er wollte den Orden nicht nehmen, aber er hat mir Geld angeboten, wenn ich ihm helfe, den Laden für Weihnachten herzurichten. Mir hatte noch nie jemand so vertraut und da wollte ich ihn nicht enttäuschen«, schloss Chris. Er fühlte sich völlig leer und den Tränen nahe.
Es folgte eine lange Pause. Schließlich seufzte Sir Bentley.
»Ich wusste, dass du viel durchgemacht hattest, Christopher, aber ich hatte keine Ahnung, dass deine Situation so schlimm war. Du hättest früher mit jemandem darüber sprechen und um Hilfe bitten sollen.«
»Ich wollte nicht, dass man mich in ein Heim bringt und Mum sich selbst überlässt.«
»Ich verstehe, aber das ist immer der letzte Ausweg, Christopher. Es gibt viele andere Möglichkeiten, wie man euch hätte helfen können – du hättest das alles nicht allein durchmachen müssen. Du musst lernen, Menschen mehr zu vertrauen.«
»Nun … das alles erscheint mir jetzt viel verständlicher, aber es ändert nichts daran, dass du heute Abend eine Riesendummheit begangen hast. Hättest du mit mir gesprochen, hätten wir uns gemeinsam etwas überlegen können. Aber davon einmal abgesehen – hast du wirklich geglaubt, wir würden nichts merken?«
Chris gab darauf lieber keine Antwort – es war offensichtlich, dass er seinen Plan nicht durchdacht hatte.
»Mal abgesehen von den Kameras: Mit deinem Daumenabdruck hast du den Lift in Gang gesetzt und das wird gespeichert. Du wärst nie damit durchgekommen.«
»Ich weiß. Ich habe nicht nachgedacht.«
»In der Tat. Du hast nicht nur Regeln missachtet, du hast es auch versäumt, deinen gesunden Menschenverstand zu gebrauchen, und das stimmt mich sehr bedenklich. In einer Woche werdet ihr alle mit einer sehr verantwortungsvollen Aufgabe betraut und möglicherweise einer beträchtlichen Gefahr ausgesetzt, und das Letzte, was wir dabei gebrauchen können, ist, dass jemand aus der Reihe tanzt, sich seine eigenen Regeln macht und womöglich das Leben vieler Menschen in Gefahr bringt. Also habe ich Folgendes beschlossen: Du wirst zu dem Ball gehen, aber du wirst mir dort nicht von der Seite weichen. Hast du verstanden?«
Chris konnte sein Glück nicht fassen. »Ja, danke.«
»Ich möchte dich jede Sekunde im Auge haben. Sollten wir dich brauchen, werde ich bei dir bleiben, damit du die Befehle auch buchstabengetreu ausführst.«
»Ja, Sir.«
»Gut. Und jetzt kommen wir zu deinem Diebstahl.«
»Ja, das Geld, das du den Taxifahrern schuldig geblieben bist.«
»Oh«, sagte Chris leise.
»Es war eine Straftat, auch wenn sie nicht gemerkt haben, was du getan hast. Ich muss sagen, ich finde es zutiefst empörend, dass du von deiner GABE auf diese Weise Gebrauch machst. Und besonders empörend ist, dass du Menschen bestiehlst, um bei anderen deine Schuld zu begleichen. Ich bin tief enttäuscht.«
Chris ließ beschämt den Kopf hängen. »Ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen und ich habe ein schlechtes Gewissen deswegen. Es ist nur so … na ja, ich hatte kein Geld, und das ist mir erst eingefallen, als ich beim Laden war.« Aber er wusste selbst, dass das keine akzeptable Erklärung war.
»Das ist keine Entschuldigung. Es gibt nie einen guten Grund zum Stehlen, und du bist der Letzte, von dem ich gedacht hätte, dass ich ihm das erklären müsste. Du musst Wiedergutmachung leisten. Ich gehe davon aus, dass du dir die Kennzeichen der beiden Taxis gemerkt hast?«
Chris nickte. Das Bild der beiden Taxis stand plötzlich deutlich vor seinem inneren Auge.
»Gut. Nach Weihnachten, wenn du wiederkommst, wirst du Maura helfen und dir das Geld verdienen. Dann machst du die Fahrer ausfindig, gibst ihnen das Geld und entschuldigst dich. Ist das eine gerechte Strafe?«
»Ja, Sir«, sagte Chris.
»Und schließlich, und es ist mir ernst damit: Wenn du noch einmal so etwas Verrücktes tust, bist du die längste Zeit hier gewesen. Das ist meine letzte Warnung. Hast du verstanden?«
»Ja, Sir«, sagte Chris.
»Gut. Es ist spät geworden. Geh zu Bett.«
Chris verließ den Raum. Ron und John standen auf dem Flur.
»Es tut mir leid«, sagte Chris und sah die beiden an.
»Hast du eine Ahnung«, fragte Ron, »welcher Gefahr du dich ausgesetzt hast?«
»Ich weiß«, sagte Chris mit gesenktem Kopf.
»Nein, das glaube ich nicht«, fuhr Ron sichtlich wütend fort. »Was du heute Nacht getan hast, war ein Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen. Weißt du, was meiner Meinung nach mit jemandem geschehen sollte, der absichtlich gegen die Sicherheitsbestimmungen verstößt? Ich will es dir sagen. Ich finde, so jemand gehört an die Wand gestellt und …«
»Schon gut, Ron, das genügt. Du siehst doch, dass der Junge ganz durcheinander ist.«
Chris kamen die Tränen und er drehte sich weg und wischte sich mit dem Handrücken die Augen.
»Tja, John, daran hätte er vorher denken sollen. Bevor er beschlossen hat, gegen die Vorschriften zu verstoßen.«
»Wir machen alle Fehler, Ron. Oder muss ich dich an eine gewisse Nacht in Hongkong erinnern?«
Ron warf erschrocken den Kopf herum. »Das war kein Fehler, John«, sagte er. »Das war ein Missverständnis.« Dennoch wirkte er plötzlich längst nicht mehr ganz so aufgebracht.
Zufrieden wandte sich John wieder an Chris und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du hast deine Lektion gelernt, und damit ist die Sache für uns erledigt. Ich weiß, dass du nur zu deinem Wort stehen wolltest, mein Sohn, aber ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass du die Sache falsch angepackt hast.«
Chris nickte, dankbar für die tröstenden Worte.
»Geh jetzt in dein Zimmer und schlafe«, sagte John. »Morgen ist ein neuer Tag.«
Philip saß auf seinem Bett und wartete auf Chris, als der in ihr Zimmer zurückkam.
»Alles in Ordnung?«, fragte Philip.
»Ja. Du hast recht gehabt – ich hätte das nicht machen sollen.«
»Aber du darfst bleiben, stimmt’s? Du wirst nicht von der Schule verwiesen?«
»Nein«, sagte Chris und kletterte in sein Bett, »aber es ist meine letzte Chance.«
»Puh! Wir dachten alle schon, du kommst nicht mehr zurück. Die anderen werden sich freuen.«
»Ehrlich?«
»Na klar. Wir sind doch ein Team, oder etwa nicht?«
Chris lächelte. »Doch«, sagte er und legte den Kopf aufs Kissen. Er schloss die Augen und fiel in einen tiefen Schlaf.