Freitag, 21. Dezember

Obwohl sie über eine Autostunde voneinander getrennt waren und ihre Motive nicht unterschiedlicher hätten sein können, absolvierten die Schüler in Myers Holt und die Brüder Genever auf Darkwhisper Manor in der Woche vor dem Antarktis-Ball nahezu dasselbe Vorbereitungsprogramm. Hier wie dort trafen die goldenen Einladungskarten ein, hier wie dort wurde Maß genommen für die weißen Smokings (beziehungsweise die glitzernden weißen Ballkleider der Mädchen) und hier wie dort wurde intensiv die GABE trainiert, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf das bessere Verständnis von INFERNO gelegt wurde. Doch während sich Mortimer und Ernest Genever konzentriert und in düsterer Stimmung vorbereiteten, konnten Chris und die anderen Schüler von Myers Holt ihre Vorfreude kaum zügeln und zählten ungeduldig die Tage bis zu dem großen Ereignis, sehr zum Missfallen Ms Lambs.

»Hört sofort auf mit dem Zirkus und geht auf eure Plätze!«, brüllte sie, als sie hereinkam und feststellte, dass alle Philips Bank umlagerten und sich lautstark darüber unterhielten, wie der Eispalast bei dem Ball wohl aussehen würde.

Die Kinder liefen zu ihren Plätzen und setzten sich.

»Ihr scheint zu glauben, dass uns morgen ein vergnüglicher Tag erwartet. Aber da irrt ihr euch gewaltig. Vergesst den Palast, das Essen, die Eiscreme …«

»Eiscreme?«, rief Rex erfreut. Alle grinsten.

»Du meine Güte, ihr benehmt euch wie Kinder. Werdet endlich erwachsen! Ihr Nichtsnutze seid nur aus einem einzigen Grund zu dem Ball eingeladen: Ihr sollt dort arbeiten und das Leben der Prominenten schützen, die da sein werden. Ich habe hier den Sicherheitseinsatzplan für morgen, und ich möchte, dass ihr aufmerksam zuhört. Du«, sie deutete auf Chris, »bist nicht vertrauenswürdig, wie wir alle wissen, deshalb wirst du den ganzen Abend bei Sir Bentley bleiben. Lass ihn keine Sekunde aus den Augen.«

Ms Lamb ging zur Wand und zog die Leinwand herunter. Dann nahm sie eine Fernbedienung von ihrem Tisch und der Projektor an der Decke erwachte surrend zum Leben. Das Foto einer Frau erschien.

»Das ist die Schriftstellerin Clarissa Teller. Der eine oder andere von euch dürfte sie kennen. Jedes Jahr werden einige großzügige Förderer von Kinderhilfswerken zu dem Ball eingeladen. Miss Teller spendet die gesamten Erlöse aus dem Verkauf ihrer Bücher verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen. Deshalb ist sie das prominenteste Mitglied dieser Gruppe und wird am Kopfende des Tisches sitzen. Du«, sie zeigte auf Lexi, »wirst sie den ganzen Abend im Auge behalten.« Ms Lamb drückte auf eine Taste und ein Foto des Premierministers erschien.

»Das ist, wie ihr alle wisst, Premierminister Edward Banks. Wir halten ihn für das Hauptangriffsziel bei der morgigen Veranstaltung. Du und du«, sie deutete auf Philip und Daisy, »ihr habt die Aufgabe, ihn und jeden anderen in seiner Nähe zu beobachten. Er wird wahrscheinlich von Menschen umringt sein, deshalb müsst ihr eure fünf Sinne zusammenhalten – sofern ihr dazu überhaupt in der Lage seid.«

Sie blickte zu Sebastian und Rex. »Ihr beide werdet am Eingang bei den Sicherheitsleuten Posten beziehen und euch jeden, der hereinkommt, genau ansehen. Wenn dieser Junge auftaucht«, sie drückte wieder auf eine Taste und das vergrößerte Foto von Mortimer Genever erschien, wie er im Schneidersitz vor der Bühne saß, auf der Cecil Humphries seine Ansprache gehalten hatte, »müsst ihr ihn unverzüglich mithilfe der Suggestion aufhalten und ihn dazu bringen, sich flach auf den Boden zu legen. Sobald er in Handschellen ist, müsst ihr ihn mithilfe eurer GABE kontrollieren, bis er im Polizeitransporter sitzt, und ihr begleitet ihn auf der Fahrt ins Gefängnis. Dort hat man eigens für ihn eine Zelle mit Blei ausgekleidet, in der er mit seiner GABE keinen Schaden anrichten kann. Danach wird man eure Dienste nicht mehr benötigen und euch zu den anderen zurückbringen. Aber solange er sich in eurem Gewahrsam befindet, müsst ihr seine Rezeption mit einer Sperre belegen, so wie ihr es gelernt habt. Auf welche Sperre haben wir uns geeinigt?«

»Morgen kommt der Weihnachtsmann«, antwortete Rex.

»Richtig. So kann er von seiner GABE unterwegs keinen Gebrauch machen. Prägt euch das Foto also gut ein. Der Junge könnte auf einem anderen Weg hineingelangen, deshalb müsst ihr imstande sein, ihn sofort zu erkennen, wenn er auftaucht.«

Chris betrachtete das Foto des blassen Jungen mit dem geschniegelten schwarzen Haar. Er war überrascht, wie jung er aussah, obwohl er wusste, dass sie beide gleichaltrig waren. Es war schwer zu glauben, dass dieser Junge innerhalb von drei Monaten vorsätzlich drei Menschenleben zerstört hatte.

Das Bild erlosch und Ms Lamb schob die Leinwand wieder hoch.

»Euer Erfolg oder Misserfolg morgen wird auf mich als eure Lehrerin zurückfallen, deshalb erwarte ich von euch, dass ihr die Sache ernst nehmt und alles, was ihr hier an der Schule gelernt habt, heute Abend noch einmal durchgeht. Ihr dürft keine Fehler machen. Das wäre alles. Jetzt raus mit euch.«

Endlich war der Tag des Antarktis-Balls gekommen. Um drei Uhr nachmittags wurden die Kinder, nachdem sie lustlos ein wenig gelernt und anschließend in der Glashalle gepicknickt hatten, von Maura nach oben in die beiden großen oberirdischen Zimmer geführt. Diese hatte man für den heutigen Tag in Umkleideräume – einen für die Mädchen und einen für die Jungen – umfunktioniert, in dem Chris und die anderen Jungen von einem vielköpfigen Team erwartet wurden. Chris musste sich auf einen von vier großen Stühlen setzen, die nebeneinander vor einer Reihe von Ganzkörperspiegeln standen. Kaum hatte er Platz genommen, begann ein Mann ihm die Haare zu schneiden. Ein Radio dudelte, und während ihre Smokings gebügelt wurden, unterhielten die Jungen sich aufgeregt.

»Daran könnte ich mich gewöhnen«, sagte Rex, als ihm eine Frau eine Fliege band. Nur Philip, der jeden Tag eine Krawatte trug, konnte seine selbst binden.

»Dürfen wir die Smokings behalten?«, fragte Philip.

»Ja, sie wurden ja für euch maßgeschneidert«, antwortete der Mann und zog ein Paar glänzende weiße Lederschuhe hervor.

»Fantastisch!«, rief Philip. »Ich wollte schon immer etwas Eleganteres für festliche Dinner am Abend.«

»Etwas Eleganteres als einen dreiteiligen Anzug?«, fragte Rex.

»Das ist Alltagskleidung, mein Lieber. Kleider …«

»… machen Leute«, ergänzten Rex, Sebastian und Chris gleichzeitig.

»Ihr lernt dazu«, grinste Philip.

Die Jungen dankten den Helfern, traten auf den Flur hinaus und warteten auf die Mädchen. Nach einer gefühlten halben Ewigkeit kamen Daisy und Lexi in weißen Kleidern heraus, die ähnlich, aber nicht identisch waren: Beide hatten einen Tellerrock aus Satin und lange Ärmel, die mit Hunderten von Kristallen geschmückt waren, die im Flurlicht glitzerten. Daisy trug eine neue Lockenfrisur und dazu ein Diamant-Diadem, das man für heute Abend bei einem Juwelier in Soho ausgeliehen hatte und das verhinderte, dass ihr die blonden Löckchen ins Gesicht fielen. Lexis Haare, normalerweise eine wilde dunkle Mähne, waren geglättet, zurückgekämmt und mit einem Diadem desselben Juweliers hochgesteckt.

»Oh, là, là!«, rief Sebastian.

»Ist es nicht schön?«, fragte Daisy und drehte sich, das Diadem festhaltend, im Kreis.

»Du siehst ja sogar mal wie ein Mädchen aus«, sagte Rex zu Lexi.

»Halt die Klappe, Rex«, erwiderte Lexi errötend.

»Nanu … wen haben wir denn da?«

Sir Bentley kam durch die Vordertür herein. Er trug einen weißen Smoking.

»Sie sehen aus wie James Bond, Sir«, sagte Lexi.

»Vielen Dank. Und ihr beide seht einfach zauberhaft aus«, sagte er zu den Mädchen.

»Und was ist mit uns?«, fragte Rex.

»Ihr seht auch zauberhaft aus, Rex«, antwortete Sir Bentley schmunzelnd.

Alle lachten.

»Wirklich, Jungs, ihr seid sehr chic, wie junge James Bonds. Aber nun kommt, unsere Wagen warten draußen.«

»Ich dachte, wie fahren mit einer Kutsche hin.« Daisy machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Das tun wir auch, aber die Kutschen müssen an verschiedenen Stellen in London Gäste abholen. Unsere erwartet uns um fünf am Marble Arch, wir sollten also einen Zahn zulegen. Vergesst nicht, dass wir vor allen anderen Gästen im Palast sein müssen. Habt ihr eure Einladungen?«

Die Kinder hielten ihre cremeweiß-goldenen Karten hoch.

»Ausgezeichnet. Gehen wir.« Sir Bentley führte sie in den Winterabend hinaus.

Die Gegend um den Marble Arch war für den Verkehr gesperrt und die Gehwege quollen über von aufgeregten Kindern in weißen Smokings und Abendkleidern, die darauf warteten, eingelassen zu werden. John fuhr so nahe wie möglich an die Absperrung heran, setzte die Kinder ab und drehte gleich wieder um, um den Wagen wie besprochen am Eispalast zu parken. Mit Sir Bentley an der Spitze bahnten sie sich einen Weg nach vorn, sehr zum Ärger der wartenden Gäste.

»Verzeihung«, sagte Chris mehrmals.

Auch die anderen entschuldigten sich, als die Menge immer gereizter reagierte. Das heißt, alle bis auf Rex, der den Augenblick in vollen Zügen genoss.

»Platz da für die Prominenz«, rief er und schob sich durchs Gewühl.

Endlich am Eingang angelangt, zückte Sir Bentley eine Marke und flüsterte dem Sicherheitsbeamten etwas zu. Der Mann nickte und öffnete die Tür.

»Die Einladung bitte«, sagte der Beamte. Chris reichte ihm seine Karte und sah zu, wie er mit einem Handgerät den kleinen goldenen Strichcode links unten auf der Karte prüfte. An dem Gerät leuchtete ein grünes Licht auf und der Mann winkte ihn durch.

»Einen schönen Abend«, sagte er und Chris trat auf den Ring, der um den mit Scheinwerfern angeleuchteten Marble Arch herumführte. Staunend sah er sich um. Es war, als wäre er in die Vergangenheit gereist: keine Autos, sondern überall nur Kutschen – eine lange Reihe von mindestens hundert prächtigen Glaskutschen, jede mit einem Schimmel bespannt und von einem Kutscher mit weißem Frack und Zylinder geführt.

»Seht ihr die Kutschen ›Vanguard‹ und ›Albemarle‹?«, fragte Sir Bentley mit einem Blick auf das Ticket, das ihm der Wachmann am Eingang gegeben hatte.

»Sie scheinen sich dort zu befinden!«, antwortete Sebastian, der die goldene Beschriftung an den beiden ersten Kutschen in der Reihe entdeckt hatte. Alle rannten hin.

»Langsam, Kinder!«, sagte Sir Bentley und schloss zu ihnen auf. »Denkt daran, dass ihr bei mir bleiben müsst, bis wir beim Ball sind. Und später müsst ihr unbedingt auf den euch zugeteilten Posten bleiben. Bitte vergesst nicht, dass wir zum Arbeiten hier sind.«

Die Kinder nickten gehorsam und gingen neben ihm her.

»Chris und Rex, ihr könnt mit mir in der ersten Kutsche mitfahren. Die anderen nehmen die zweite.«

Daisy, Lexi, Philip und Sebastian rannten zu ihrer Kutsche.

»Guten Abend«, grüßte der ganz in Weiß gekleidete Kutscher, der eine herrliche weiße Stute am Zügel hielt, die ruhig und majestätisch dastand und auf seine Befehle wartete.

»Auch Ihnen einen guten Abend«, grüßte Sir Bentley zurück. »Wir fahren etwas früher als geplant – ich hoffe, Sie sind unterrichtet.«

»Ja, Sir«, erwiderte der Kutscher. »Wir sind startklar, wenn Sie es sind.«

Sir Bentley dankte ihm, öffnete den gläsernen Kutschenschlag und ließ Chris und Rex einsteigen. Die Jungen kletterten hinein und setzten sich auf den weiß-goldenen hinteren Ledersitz. Sir Bentley nahm ihnen gegenüber Platz und schloss die Tür hinter sich.

»Und los geht’s«, sagte er, als sich das Pferd in Bewegung setzte und die beiden funkelnden Kutschen die Straße entlangrollten. Chris und Rex zappelten so aufgeregt auf ihrem Sitz, dass sie das leichte Zittern in Sir Bentleys Stimme nicht bemerkten.

Die Kutschen fuhren langsam die Park Lane entlang, die für den Verkehr gesperrt war. Hinter den am Straßenrand errichteten Absperrungen drängte sich eine wachsende Menge von Schaulustigen, die staunend auf die beiden Kutschen deuteten, die wie Kristallkugeln im Mondschein dahinglitten. Irgendwo in seinem Hinterkopf wusste Chris, dass er eigentlich nach dem Jungen auf dem Foto Ausschau halten sollte, doch abgesehen von ein paar flüchtigen Blicken in die Menge lachte und plapperte er die ganze Fahrt über mit Rex, der ausnahmsweise einmal nur positive Dinge zu sagen hatte.

»Die halten uns für Berühmtheiten!« Rex winkte genüsslich in die Menge.

»Ich glaube, wir sind da«, bemerkte Chris, als die Kutschen rechts abbogen und am Queen Elizabeth Gate stoppten, das von einer Hundertschaft Polizisten bewacht wurde. Keine drei Meter von der Stelle entfernt, wo sie hielten und auf die Sicherheitskontrolle warteten, drängte die letzte Schar von Schaulustigen nach vorn, um sich die Kutschen näher anzusehen und vielleicht sogar einen Blick auf den Palast zu erhaschen.

Rex lehnte sich zu Chris hinüber und spähte aus dessen Fenster.

»Die platzen gleich vor Neid!« Er hielt seine Einladungskarte hoch, um ein paar Jungs auf dem Gehweg neben ihnen zu ärgern.

»Ich kann den Palast gar nicht sehen«, sagte Chris, als die Kutschen an der Polizeikette vorbeigewinkt wurden.

»Er liegt hinter der Kurve«, erklärte Sir Bentley. »Er kommt gleich in Sicht.«

Und tatsächlich, ein paar Minuten später fuhren die Kutschen um eine dunkle Wand aus Eichen herum, die ihnen bisher den Blick versperrt hatten, und vor ihnen erschien der Serpentine Lake, eine gleißende Decke aus festem Eis, die von unten angestrahlt wurde, als wäre dem Eispalast, der dahinter aufragte, der Mond zu Füßen gelegt worden.

Den beiden Jungen stockte der Atem.

Zwei Wochen lang hatten sie sich ausgemalt und darüber geredet, wie der Palast wohl aussehen würde, aber so groß und so prächtig hatten sie ihn sich nicht vorgestellt. Der imposante, auf kristallklaren Säulen ruhende und ganz aus Eis bestehende Palast glitzerte im kühlen weißen Licht von hundert Scheinwerfern. Ein Weg führte zu ihm hinauf, gesäumt von Bäumen, die aus Eis geschnitzt waren und an deren Ästen weiße Laternen hingen.

»Wahnsinn!«, stieß Chris hervor, lehnte sich in seinem Sitz weit vor und drückte das Gesicht an die Seitenwand der Kutsche.

»Der muss so groß sein wie der Big Ben«, staunte Rex.

»Beinahe«, bestätigte Sir Bentley. »Er ist aus fünftausend Eisblöcken errichtet, von denen jeder größer ist als ich.« Er deutete auf den oberen Teil der Palastmauer. »Wie ihr sehen könnt, ist da oben etwas ins Eis geschnitzt – jeder Abschnitt stellt eine Szene dar, die James Cook auf einer seiner Reisen erlebt hat.«

Die Jungen spähten nach oben und bewunderten die abgebildeten Schiffe, Eisberge und Tiere.

»Und wenn ihr das schon für ›Wahnsinn‹ haltet, dann wartet ab, bis ihr erst das Innere seht«, setzte Sir Bentley hinzu, als die Kutschen anhielten.

»Guten Abend, Sir Bentley.« Ein wartender Diener öffnete ihnen die Tür.

»Guten Abend«, erwiderte Sir Bentley und trat hinaus auf den roten Teppich, der zum Bogeneingang des Palastes hinaufführte.

»Guten Abend, Jungs!«, sagte der Diener, als Chris und Rex ins Freie sprangen. »Willkommen beim Antarktis-Ball.«

»Hi«, erwiderten sie, winkten dem Kutscher zu und eilten an dem Diener vorbei zu Sir Bentley. Hinter ihnen hüpften die anderen aus ihrer Kutsche und kamen zu ihnen gelaufen, aber noch bevor sie ein Wort miteinander wechseln konnten, gebot ihnen Sir Bentley Einhalt.

»Ich weiß, ihr seid alle furchtbar aufgeregt, aber ich habe noch einiges mit euch zu besprechen, bevor die anderen Gäste eintreffen. Allerdings befürchte ich, dass ihr mir keine Sekunde zuhört, solange ihr keine Gelegenheit gehabt habt, euch umzusehen, deshalb gebe ich euch fünf Minuten – und wenn ich fünf sage, dann meine ich auch fünf. Danach kommt ihr wieder hierher, damit wir anfangen können.«

Sir Bentley hatte den Satz kaum beendet, da rannten die Kinder auch schon durch den Bogen in den großen Saal des Palastes.

»Wow!«, rief Lexi.

Alle blieben wie angewurzelt stehen und schauten ehrfürchtig nach oben. Einen Moment lang sagte keiner ein Wort. Direkt vor ihnen, mitten im Saal, befand sich ein kreisrundes Becken aus Eis, aus dem sich ein lebensgroßer Eiswal erhob, der Wasser an die hohe gewölbte Palastdecke spie, von der es wieder in das dunkle, sich kräuselnde Wasser im Becken zurückfiel.

»Komisch, dass er nicht umkippt.« Philip ging zu dem Brunnen und suchte nach Befestigungsseilen. »Das verstehe ich nicht.«

»Das ist Zauberei«, sagte Daisy.

»Zauberei gibt es nicht«, sagte Philip und spähte ins Wasser.

»Aber sehr wohl«, entgegnete Daisy, und obwohl Philip mit dieser Antwort sichtlich unglücklich war, ließ er sich von ihr zu den anderen ziehen. Sie standen an einer festlich gedeckten Tafel aus Eis, die sich bis in den hinteren Teil des Saals erstreckte, dann an der Rückwand entlang und auf der anderen Seite wieder nach vorn lief. Jeder Platz an der Tafel war mit Kristalltellern, Gläsern, Silberbesteck und einer sorgfältig gefalteten weißen Stoffserviette gedeckt, auf der eine Platzkarte lag, auf die von Hand mit goldener Tinte der Name des Gastes geschrieben war.

»Wo wir wohl sitzen?«, fragte Lexi, schritt am Tisch entlang und las die Namen.

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, sagte Chris. »In drei Minuten müssen wir zurück sein. Das dauert ewig, bis wir hier unsere Namen gefunden haben. Schauen wir uns lieber noch ein bisschen um.«

Die anderen nickten und in den folgenden Minuten liefen sie umher und sahen sich so viel wie möglich an – die Eisstatuen von Tieren der Antarktis, die geschnitzte Nachbildung von James Cooks Schiff, der Endeavour, das am Kopfende des Tischs auf einem Eissockel stand, den Tunnel, der auf den gefrorenen See hinausführte und in dem Schlittschuhe hingen, die man sich nehmen durfte, und – das Beste von allem – den Eiscremeraum im hinteren Teil des Palastes, in dem Kühlbehälter mit allen erdenklichen Eissorten standen, und dazu unzählige Glasschüsseln mit Soßen und Garnierungen.

Nachdem sie kaum die Hälfte des Palastes erkundet hatten, wurde die Zeit knapp und sie eilten zu Sir Bentley zurück. Er war von Wachleuten in weißen Uniformen und Polizisten umringt.

»Ah, da seid ihr ja«, sagte er und winkte sie zu sich. Direkt neben ihm standen Ron und John und mehrere Sicherheitsbeamte, die Chris nicht kannte.

»Das sind Christopher, Rex, Lexi, Philip, Sebastian und Daisy«, stellte Sir Bentley vor. »Sie postieren sich am Eingang, bis die Gäste, die sie begleiten sollen, eintreffen. Nur Christopher wird sich mir anschließen. Und Sebastian und Rex werden zusammen mit Ron und John den ganzen Abend bei den Wachleuten am Eingang bleiben.«

Ron und John nickten.

»Ich möchte jetzt nicht ins Detail gehen, aber diese sechs Kinder haben die Aufgabe, nach dem Jungen, dessen Foto an Sie alle verteilt wurde, Ausschau zu halten. Sie haben die volle Sicherheitsermächtigung, und wenn sie Ihnen etwas Verdächtiges melden, erwarte ich von Ihnen allen, dass Sie unverzüglich entsprechende Maßnahmen ergreifen, ohne Fragen zu stellen. Ist das klar?«

Alle Wachleute bis auf Ron und John nickten. An der Art, wie ihn einige ansahen, merkte Chris jedoch, dass sie sich mit dem Gedanken nicht anfreunden konnten, die Weisungen einer Horde Zwölfjähriger zu befolgen.

»Gut«, sagte Sir Bentley. »In fünf Minuten fahren die ersten Kutschen vor. Die Ehrengäste, darunter der Premierminister und andere Regierungschefs, treffen zur selben Zeit ein wie die eingeladenen Kinder, daher müssen Sie zu jeder Zeit hellwach sein. So – und jetzt alle auf Ihre Posten, und lassen Sie uns alles dafür tun, dass der heutige Abend glatt über die Bühne geht.«

»Jawohl, Sir«, sagten die Wachleute und zerstreuten sich in alle Richtungen.

Chris und die anderen Schüler folgten Ron und John zur Sicherheitsschleuse am Eingang und warteten. Während die Minuten verstrichen, verspürten sie ein wachsendes Unbehagen, denn allmählich wurde ihnen bewusst, dass sie jeden Augenblick gezwungen sein könnten, das, was sie gelernt hatten, praktisch anzuwenden.

Irgendwo hinter ihnen begann ein Orchester zu spielen und klassische Musik erfüllte die Luft. Und vor ihnen, hinter dem See, kam die Prozession der gläsernen Kutschen in Sicht.

»Ich habe Angst«, flüsterte Daisy.

»Keine Sorge«, erwiderte Chris, obwohl auch er zunehmend nervöser wurde. »Es wird bestimmt nichts passieren.«

Ihre Nerven beruhigten sich etwas, als die ersten Gäste eintrafen und aufgeregtes Geschnatter sich in die Musik des Orchesters mischte. Diener gingen mit Silbertabletts herum und boten Getränke und bunte Häppchen an. Kinder rannten aufgeregt durch den Palast, ließen sich Waffel um Waffel mit Eiscremekugeln füllen und blieben nur hier und da stehen, um die fantastischen Eisstatuen zu bestaunen, während die Schüler von Myers Holt neidisch zusehen mussten.

Clarissa Teller war das erste vertraute Gesicht, das im Eingang auftauchte. Sie begrüßte Chris und Rex mit einer freundlichen Umarmung und wurde Lexi vorgestellt, die mit ihr zu einem Rundgang durch den Palast aufbrach. Wenig später erschien zur großen Aufregung der bereits eingetroffenen Gäste der Premierminister mit seiner Frau. Lächelnd ging er an den Sicherheitsbeamten vorbei und steuerte auf Sir Bentley zu.

»Wie geht es Ihnen, Sir?«, fragte der Premierminister.

»Bestens, Edward, bestens.«

»Irgendwelche Vorkommnisse?«

»Nein. Wir haben alles im Griff. Machen Sie sich einen schönen Abend – wir erledigen den Rest.«

»Ausgezeichnet. Und wo sind meine beiden Aufpasser, Philip und Daisy?«, fragte der Premierminister.

Philip und Daisy traten vor. Sie blickten beeindruckt und ein wenig nervös.

»Ah, wunderbar! Ich habe gehört, dass ich bei euch in guten Händen bin. Stimmt das?«

»Ja, Sir«, antwortete Philip.

»Gut, dann kommt mit. Wir müssen viele Leute begrüßen.«

Philip und Daisy winkten Chris, Rex und Sebastian zu und eilten dem Premierminister nach, der bereits am Brunnen stand und dem Premierminister von Kanada die Hand drückte.

Einige Zeit später verließ Sir Bentley, nachdem er Rex und Sebastian noch einmal kurz zu Wachsamkeit ermahnt hatte, den Eingangsbereich und gab Chris ein Zeichen, ihm zu folgen. Chris kam der Aufforderung wortlos nach und blieb brav an Sir Bentleys Seite, während dieser unter den Gästen die Runde machte. Von Zeit zu Zeit spähte er zu Rex und Sebastian hinüber, die jedes Kind, das am Eingang stand, ganz genau musterten. Er musste jeden Moment damit rechnen, dass sie Hilfe brauchten.