Währenddessen im Eispalast

Zur gleichen Zeit beglückwünschte Sir Bentley beim Ball sein Sicherheitsteam.

»Eine absolut fantastische Nachricht! Nach dem Essen fahre ich gleich rüber und vernehme den Jungen. Christopher, ich glaube, es könnte nicht schaden, wenn du mich begleitest.«

»Ja, Sir.«

»Ihr könnt euch jetzt ausruhen und amüsieren. Das Essen beginnt nach den Reden in zwanzig Minuten. Ich werde gleich zum Premierminister gehen und ihm sagen, dass keine Gefahr mehr besteht.«

Chris, Philip, Daisy und Lexi liefen in den Tunnel, schnappten sich Schlittschuhe, glitten hinaus auf den gefrorenen See und mischten sich unter die anderen Kinder, die sich zu Hunderten dort tummelten, bis ein einzelner Trompetenstoß zum Essen rief und sie sich in die Schlange einreihten, um wieder hineinzukommen.

»Woher sollen wir denn wissen, wo wir sitzen?«, fragte Daisy. »Müssen wir etwa an jedem Platz nachsehen?«

»An der Wand neben der Eisbären-Statue ist die Sitzordnung ins Eis gemeißelt«, sagte Philip, als sie in den Hauptsaal zurückkehrten. »Ich habe sie vorhin gesehen.«

Die Platzierung der Gäste richtete sich nach der Nummer ihrer Kutsche, und das machte es ihnen leicht, ihren Namen zu finden, sobald es ihnen gelungen war, sich einen Weg durch das Gedränge zur Wand zu bahnen. Die Fahrgäste der Kutschen zwei und drei saßen auf der rechten Seite, ausgenommen Sir Bentley. Für ihn war ein Platz am Kopfende der Tafel reserviert, neben Clarissa Teller und einer anderen Frau, die sie nicht kannten: eine erstmalige Ballteilnehmerin namens Dulcia Genever, die aus unbekannten Gründen im vergangenen Jahr ebenso viel Geld an verschiedene Kinderhilfswerke im ganzen Land gespendet hatte wie Clarissa Teller. Ihre Großzügigkeit hatte ihr nicht nur einen der begehrten Plätze bei den prominenten Ehrengästen eingebracht, sondern auch das Vertrauen der Ballorganisatoren, die jedoch bald erfahren sollten, wie wenig sie dieses Vertrauen verdiente.

Chris nahm Platz und schenkte sich aus der Kristallkaraffe vor ihm ein Glas Wasser ein, dann sah er sich staunend um und ließ die Umgebung auf sich wirken.

Endlich hatten alle siebenhundert Gäste ihre Plätze eingenommen. Das Orchester hörte auf zu spielen und alle Gespräche verstummten, als ein Mann mit weißem Anzug und prächtigem, weiß befiedertem Hut zum Podium an der Seite schritt und dreimal mit einem goldenen Glöckchen klingelte. Das Bimmeln hallte, durch das Mikrofon verstärkt, von den Wänden wider.

»Verehrte Gäste, meine Damen und Herren, liebe Mädchen und Jungen, willkommen beim Antarktis-Ball. Ich möchte nicht viele Worte machen und gleich den Gastgeber des heutigen Abends aufs Podium bitten, den Premierminister des Vereinigten Königreichs, Edward Banks.«

Unter dem Beifall des ganzen Saals dankte der Premierminister dem Protokollchef und erklomm das Podium.

»Guten Abend allerseits und herzlich willkommen. Vor zweihundertsechzehn Jahren wurde dieser Ball ins Leben gerufen, um Kindern aus allen Schichten der Gesellschaft und allen Teilen des Vereinigten Königreichs Gelegenheit zu geben, die großartigen Leistungen des britischen Entdeckers James Cook kennenzulernen und mehr über die von ihm entdeckten Gegenden der Welt zu erfahren. Heutzutage wissen wir dank Rundfunk, Fernsehen und anderen Medien weit mehr über die Welt, und wenn wir dennoch Jahr für Jahr die Leistungen James Cooks würdigen, so nehmen wir dies zum Anlass, an die Großzügigkeit von Menschen zu erinnern, die durch ihre Spenden …«

Der Premierminister hielte inne und fasste sich an die Ohren. Chris erstarrte, und das Herz schlug ihm bis zum Hals, als der Premierminister zu Sir Bentley blickte und, die Augen vor Entsetzen geweitet, zu singen begann:

»Old King Cole was a merry old soul and a merry old soul was he. Old King Cole was a merry old soul and a merry old soul was he. Old King …«

Die Gäste tauschten verwirrte Blicke. Chris sah, wie die Sanitäter auf der anderen Seite des Saals zu ihren Taschen griffen und in Richtung Premierminister liefen, der inzwischen aus vollem Hals brüllte.

»Jemand setzt die GABE gegen ihn ein«, flüsterte Daisy erschrocken. »Was sollen wir tun?«

Chris sah das Entsetzen in ihrem Gesicht, und gleichzeitig hörte er, wie die Stimme des Premierministers schwächer wurde.

»Seine Sperre funktioniert nicht!«, sagte er.

»Tu etwas, Chris!«

Und mit einem Mal wusste Chris, was er zu tun hatte. Alle Nervosität oder Angst war wie weggeblasen und wich einer vollständigen Ruhe und Konzentration. Er blickte in die Runde. Die anderen Gäste sahen schweigend zu, wie der Premierminister versuchte, die Fassung wiederzuerlangen.

Chris wandte sich an Lexi.

»Du musst im Kopf des Premierministers eine Sperre errichten! Schnell!«, sagte er zu ihr, stieß seinen Stuhl zurück, stand auf und ließ den Blick über die Gesichter der Kinder gleiten, die reihum saßen. Da er niemand Verdächtiges entdeckte, ging er so schnell, wie er konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, um den Tisch herum. Da bemerkte er in einer dunklen Nische hinter dem Orchester eine einsame Gestalt. Sofort blieb er stehen und duckte sich. Er kniff die Augen zusammen und die Gestalt wurde deutlicher. Das war er – der Junge von dem Foto. Er stand völlig regungslos da und blickte zum Premierminister, der sich jetzt mit einer Hand an den Hals fasste und mit der anderen aufs Rednerpult stützte.

Chris hielt sich nicht mit der Frage auf, wie es möglich war, dass der Junge, den sie eben erst festgenommen hatten, plötzlich wieder hier auftauchte. Er richtete sich langsam auf und fixierte ihn mit seinem Blick. Im ersten Moment geschah nichts, doch dann warf der Junge ruckartig den Kopf herum. Chris’ Augen verengten sich, und bevor der andere reagieren konnte, wurde er mit aller Macht in die Luft geschleudert und krachte gegen die Wand hinter ihm. Das entsetzte Schweigen der Gäste, die bisher nur Augen für den Premierminister gehabt hatten, war gebrochen. Sie drehten sich um und sahen, wie der Junge mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden landete. Gläser und Teller zu Boden werfend, sprang Chris über den Tisch und rannte, ohne auf die panischen Schreie um ihn herum zu achten, zu dem Jungen, der sich langsam wieder aufrappelte.

»Pass auf!«, schrie Lexi, als der Junge sich vorbeugte und Chris anstarrte. Doch es war zu spät. Chris wurde emporgehoben, flog rückwärts durch die Luft und schlug schmerzhaft auf dem harten Boden auf. Sofort hob er den Kopf und sah, dass der Junge sich zur Flucht wandte. Chris ließ seine Augen glasig werden und fixierte ihn. Erneut stieg der Junge in die Höhe, flog nach hinten und landete am Fuß des Brunnens.

Sir Bentley war gerade aufgesprungen und wollte zum Premierminister stürzen, als ihn seine Tischnachbarin am Arm packte.

»Verzeihen Sie!«, sagte er und riss sich los.

»Wissen Sie denn nicht, wer ich bin, Sir Bentley?«

Er hielt inne und sah die Frau an, die die ganze Zeit schweigend neben ihm gesessen hatte. Ihr Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor, aber er konnte es nicht einordnen.

»Ich muss fort«, sagte er, irritiert vom ruhigen Tonfall der Frau. Sie sah zu ihm hinauf und fasste sich an die Augen. Und als sie die Hände wieder wegnahm, waren ihre Augen nicht mehr tiefschwarz, sondern leuchtend smaragdgrün. Sir Bentley sog scharf die Luft ein. Solche Augen hatte er in seinem ganzen Leben nur einmal gesehen – bei einem jungen Mädchen, vor über dreißig Jahren. Und mit einem Mal bekam alles, was im Moment geschah und in den letzten Monaten geschehen war, einen Sinn.

»Ganz recht«, sagte Dulcia, die ihm ansah, dass er sie erkannt hatte. »Anna Willows.«

»Anna? Ich … ich verstehe nicht … Ich dachte, du wärst …«

»Tot?«, unterbrach ihn Dulcia. »Ihr hättet mich nicht so schnell abschreiben dürfen, aber mein Leben war euch wohl nicht so viel wert wie euer eigenes.«

Sir Bentley blickte entsetzt. »Aber ganz und gar nicht. Wir sind zurückgekommen und haben dich gesucht. Wir haben deine Jacke gefunden, die ans Ufer gespült worden war. Sie war voller Blut.«

Dulcias Augen verengten sich. Sie stand auf und sah Sir Bentley an.

»Und das war es dann? Eine Jacke mit etwas Blut daran, und ihr habt alle Hoffnung aufgegeben. Ihr habt fröhlich weitergelebt und mich meine restliche Kindheit in einem Keller verschimmeln lassen.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Anna. Wir haben gesehen, wie sie dich von der Klippe geworfen haben – wir hätten nie gedacht, dass das jemand überleben könnte.«

»Aber ich habe es überlebt.«

Sir Bentley legte ihr die Hand auf den Arm. »Es tut mir leid, Anna. Bitte, hör mit alldem auf und lass uns reden. Es ist nicht nötig, dass noch jemand zu Schaden kommt.«

»Zum Reden ist es zu spät«, sagte Dulcia mit so monotoner Stimme, dass sie fast wie ein Roboter klang.

Sir Bentley wollte gerade etwas erwidern, da sah er etwas Silbernes aufblitzen und blickte nach unten. Sie hielt ein Messer in der Hand und wollte gerade damit ausholen.

»Halt!«, schrie er, doch es war zu spät. Sie stieß im selben Moment zu, als er einen Satz nach hinten machte. Er prallte gegen einen Stuhl und stürzte zu Boden. Die Umsitzenden sprangen auf und schrien vor Entsetzen, als Dulcia langsam auf ihn zutrat, um die seit vielen Jahren geplante Rache zu vollziehen.

»NEIIIIN!«, schrie Daisy, als Dulcia mit beiden Händen das Messer erhob. Dulcia warf den Kopf herum und erblickte, das Messer noch zum Stoß bereit, das Mädchen, das nun verstummte und einen leeren Blick bekam.

Dulcia begriff sofort, was das Mädchen vorhatte. Sie wusste, dass ihr nur Sekunden blieben, um zu tun, was getan werden musste. Sie umklammerte das Messer noch fester und wollte zustoßen, doch Daisy war schneller. Dulcia spürte, wie die Kraft der GABE ihre Hände erfasste, und ehe sie sich versah, flog das Messer aus ihrer Hand und fiel hinter ihr zu Boden.

Dulcia wirbelte herum und bückte sich im selben Moment nach dem Messer, in dem John und Ron herbeigerannt kamen. Sie sah die beiden herannahen, ergriff das Messer und stürzte sich mit wild entschlossenem Blick auf Sir Bentley, der gerade im Begriff war aufzustehen. Ron erkannte die Gefahr. Wie ein Ninja sprang er in die Luft, drehte einen Salto, trat mit den Beinen aus und traf Sir Bentley mit solcher Wucht, dass der zur Seite und aus der Gefahrenzone flog. Gleichzeitig warf sich John, der zwar nicht Rons Eleganz, dafür aber umso mehr Kraft besaß, auf Dulcia und rammte sie mit seinem ganzen Gewicht. Dulcia fiel nach hinten und schlug so hart mit dem Kopf auf dem Boden auf, dass sie augenblicklich das Bewusstsein verlor.

Als Ron sah, wie John auf Dulcia zu liegen kam, sprang er über Sir Bentley hinweg und hakte im Sprung Handschellen von seinem Gürtel los.

»Bereit, Zielperson in Gewahrsam zu nehmen, John.«

Er blickte auf Johns Hinterkopf hinab und wartete auf Antwort, aber John rührte sich nicht.

»John?«

Ron vernahm ein leises Stöhnen. Er kniete sich hin und rüttelte John. Keine Reaktion. Schließlich stemmte er die Füße fest gegen den Boden, holte tief Luft und gab ihm einen kräftigen Stoß. Johns Körper rollte zur Seite.

»John?«

Ron stieg über die bewusstlose Dulcia hinweg und sah auf John hinab, der langsam die Augen aufschlug.

»Ron?«

»Alles in Ordnung, John?«

John hob den Kopf und sah an sich hinunter. Ron folgte seinem Blick. Aus Johns Bauch ragte das Heft des Messers.

»Ruft einen Krankenwagen!«, brüllte Ron.

»Schon gut, Ron«, sagte John leise. »Beruhige dich. Es ist nur ein Kratzer.«

John fasste nach unten und zog unter dem entsetzten Aufschrei der Menge, die sich in wachsender Zahl um ihn drängte, das Messer heraus.

Eine Frau hinter ihm fiel in Ohnmacht, als er die blutige Waffe neben sich auf den Boden legte. Die Hände auf die Wunde pressend, um die Blutung zu stoppen, stand er auf und schlurfte, von Ron gestützt, langsam davon.

Zwei Polizisten bahnten sich einen Weg durch die Menge, legten Dulcia Handschellen an und schleppten sie zu einem wartenden Polizeitransporter.

Den Arm tröstend um Daisy gelegt, sah Sir Bentley zu, wie die bewusstlose Frau weggebracht wurde. Dann ließ er den Blick durch den Saal schweifen, um festzustellen, wo die übrigen Schüler waren. Da erst bemerkte er, dass am anderen Ende des Saals ein Kampf im Gang war, und stürmte los.

»STOPPT DEN JUNGEN!«, schrie Sir Bentley, als er den blassen Jungen sah, der jetzt neben dem Brunnen stand und Chris wie eine Stoffpuppe hoch in die Luft warf.

Von weit oben sah Chris, wie der Junge am Boden sich von ihm abwandte und davonrannte, und er spürte, wie die Kraft der GABE, die ihn in der Luft hielt, nachließ. Er war verloren, dachte er und schloss die Augen, als er zu fallen begann, und dann plötzlich erfüllte ein vertrautes Klingeln seine Ohren.

»Ich habe dich, Chris«, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Er öffnete die Augen wieder und spähte in die Tiefe. Philip stand unten und sah mit leerem Blick zu ihm herauf und sofort wurde sein Sturz gebremst. Alle um ihn herum atmeten erleichtert auf, als er sanft auf den Füßen landete.

Doch Chris konnte noch nicht entspannen. Er hatte in diesem Moment nur den einen Gedanken: Der Junge wollte entfliehen, und seine Aufgabe war es, ihn daran zu hindern – er musste Sir Bentley beweisen, dass sein Vertrauen in ihn gerechtfertigt war. Mit Schrecken sah er, dass der Junge schon fast am Haupteingang war. Unter Aufbietung aller Willenskraft befahl er ihm in Gedanken zurückzukommen und stellte sich vor, wie der Junge vor ihm auf dem Boden landete – aber noch während er dies tat, merkte er, dass er in seiner Erregung zu weit gegangen war. Er hatte wieder die Kontrolle über seine GABE verloren, so wie damals, als er den Hund auf Ms Lamb gehetzt hatte, und wieder war es zu spät. Der Junge flog rückwärts durch die Luft. Mit rudernden Armen kämpfte er gegen die gewaltige Kraft an, die an ihm zog, und Chris musste hilflos zusehen, wie er gegen den großen Eiswal in der Mitte des Brunnens prallte und dann ohnmächtig davor zu Boden fiel.

»Pass auf, Chris!«, rief Philip.

Chris hörte Menschen kreischen, schaute nach oben und sah, dass der überlebensgroße Wal in sich zusammenfiel. Er sprang zurück, als die drei Tonnen Eis auf den bewusstlosen Jungen herabstürzten und in tausend Stücke zerbrachen. Im Saal wurde es still.

Chris lief zu dem Jungen und kniete neben ihm nieder. Seine Augen waren geschlossen und er atmete nicht mehr. Chris umfasste sein Handgelenk und fühlte nach seinem Puls, aber er wusste bereits, dass es zu spät war. Der Junge war tot. Er, Christopher Lane, hatte einen Menschen getötet, und er wusste, dass es nicht nötig gewesen wäre. Hätte er nicht die Beherrschung verloren, wäre der Junge noch am Leben, und andere müssten darüber entscheiden, wie er für seine Taten büßen sollte. Einen Augenblick lang hörte Chris nur seinen eigenen Atem und dann vernahm er wie aus dem Nichts eine Stimme. Er hob den Kopf. Vor ihm stand ein Junge, der genauso aussah wie der, der am Boden lag.

»Du hast ihn umgebracht«, zischte Ernest Genever. »Du hast meinen Bruder umgebracht.«

Chris sah die Tränen in Ernests Augen.

»Das … das habe ich nicht gewollt«, sagte er.

»Du hast meinen Zwillingsbruder umgebracht!«, wiederholte Ernest, lauter diesmal. Er musterte Chris, der, starr vor Entsetzen, immer noch die Hand des toten Jungen hielt, und bekam einen glasigen Blick.

Chris hörte das Klingeln in seinen Ohren und sprang auf.

Er wollte wegrennen, wurde aber von mehreren Polizisten wieder zu Boden gestoßen, die sich auf den weinenden Jungen stürzten.

Ernest Genever wischte sich die Tränen aus den Augen, sah die Männer der Reihe nach an und fixierte jeden mit eisigem Blick. Einer nach dem anderen wurde nach hinten geschleudert. Bevor sie sich wieder aufrappeln konnten, hob er den Leichnam seines Bruders hoch und trug ihn durch den Bogeneingang hinaus in die dunkle Nacht.