Auftakt

Warum bin ich Richter geworden?

»Ich war jung und brauchte das Geld«, antworte ich meist, wenn ich gefragt werde, warum ich Richter geworden bin. Sie ahnen es bereits, die wahre Geschichte ist eine andere.

Ich war sechs Jahre alt und sah eine Folge Flipper im Fernsehen. Das war wie Lassie , nur mit einem unbefellten Tier in der Hauptrolle. Mein Vater kam nach Hause und brachte eine bluttriefende Schrotflinte mit. Er wickelte sie aus dem Zeitungspapier aus. Der kupferartige Geruch von Blut und von Schießpulver stiegen mir in die Nase. Blut tropfte auf die weißen Fliesen. Er wusch sie in derselben Badewanne, in der meine Mutter mich kurz zuvor gebadet hatte.

Mein Vater war Kriminalkommissar und erzählte regelmäßig von allerlei blutigen Geschichten. Meistens kamen Verbrecher, Waffen und Leichen darin vor. Erstaunlich viele Leute hatten sich einen Lauf in den Mund gesteckt und abgedrückt. So wie der ehemalige Besitzer der Schrotflinte. Mein Vater erzählte von einem bewaffneten Banküberfall, bei dem ein Polizist und der Räuber selbst erschossen wurden. Oder von der Notlandung eines voll besetzten Passagierjets auf der Autobahn nördlich von Hamburg. Leider war eine Brücke im Weg, an der die Tragflächen abgerissen wurden. Mein Vater half dabei, 22 Leichen abzutransportieren. Er berichtete von Vermissten und verzweifelten Angehörigen. Und von dem schrecklichen Verwesungsgeruch, an den er sich niemals gewöhnen würde. Als Bild aus meiner Kindheit sind mir noch viele blutige Waffen in Erinnerung, die mein Vater in der Badewanne wusch. Heute weiß ich, dass sie eigentlich in die Asservatenkammer gehört hätten. Jedenfalls wurde mein Interesse für das Verbrechen früh geweckt. Gleichzeitig haben mich die Leichen und das viele Blut irgendwie abgeschreckt.

Später als Student las ich mehrere Justizromane von John Grisham. Mir gefielen seine Geschichten, weil sie von Gerechtigkeit handelten und am Ende stets das Gute siegte. Darin ging es nicht allzu brutal zu. Ich erkannte, man kann sich mit dem Verbrechen beschäftigen, ohne nah dran an Gewalt, Blut und Toten zu sein. Aus der späteren Distanz des Gerichtssaals ist das Verbrechen immer noch spannend, ohne dass einem schlecht wird.

Vor allem die Richter in den Grisham-Romanen hatten es mir angetan. Sie waren mächtige Figuren, deren Lieblingswort »Abgelehnt!« lautete. Einfach so, ohne Begründung. Und niemand im Gerichtssaal wagte zu widersprechen. Dieser befand sich meist in einem an einen griechischen Tempel erinnernden weißen Prunkbau mit Marmorsäulen davor. Außerdem wurden die Richter respektiert und waren wohlhabend. Sie lebten oft als Witwer in einer Villa am See mitsamt Haushälterin. Sie wurden mit »Euer Ehren« angesprochen, waren sehr weise und gerecht. So einer wollte ich auch werden.

Damals ahnte ich noch nicht, dass die Wirklichkeit eines Richters an einem deutschen Amtsgericht eine andere ist. Man wird selten respektiert, dafür schlecht bezahlt, und die Arbeitsbedingungen sind mies. Und trotzdem liebe ich meinen Beruf, weil ich durch die Verurteilung von Verbrechern ein wenig für Gerechtigkeit sorgen kann.

Am 1. Oktober 1996 erfüllte sich mein Kindheitstraum, Verbrechen zu verfolgen. Ich wurde erst Staatsanwalt und später Richter in Dessau, Sachsen-Anhalt. Ich habe dabei alle strafrechtlichen Dezernate durchlaufen. Ich war Straf-, Jugend-, Ermittlungs- und Bußgeldrichter. Aktuell bin ich Vorsitzender des Schöffengerichts und damit zuständig für die mittlere Kriminalität mit erwarteten Freiheitsstrafen zwischen zwei und vier Jahren. Ich bin ein Strafrichter mit 27 Jahren Berufserfahrung.

Richter gelten als gottgleiche und mysteriöse Wesen, werden oft missverstanden. Manchmal geht etwas schief, und dennoch verhindern sie das Abrutschen der Gesellschaft in moralischen Verfall und Anarchie. Es ist ihre Aufgabe, dem Strafgesetzbuch Geltung zu verschaffen. Sie sollen den rechtstreuen Bürger vor Straftaten schützen, indem sie die gefährlichen Verbrecher hinter Schloss und Riegel bringen.

Die Welt der Strafjustiz ist eine geheime. Wahrscheinlich wissen Sie nicht, wie es hinter den Kulissen des Gerichts zugeht. Was spielt sich im Kopf eines Richters ab, bevor er das Urteil fällt? Wie überzeugt er sich von der Schuld eines Angeklagten oder wie legt er die konkrete Strafe fest? Ich werde Ihnen die geheimen Regeln des Strafprozesses verraten. War der Strafprozess für Sie bisher eine geheimnisvolle Maschine, in die man als Schwein hineingeht und als Wurst wieder herauskommt, werden Sie ihn nach der Lektüre dieses Buches viel besser verstehen. Dieses Buch verschafft Ihnen einen Insiderblick in die Welt des Strafrichtens. Sollten Sie einmal selbst in die Mühlen der Justiz geraten, kennen Sie alle Tipps und Tricks, um das zu überleben. Außerdem werden Sie neuen Glauben in die Gerechtigkeit schöpfen.

In den Kapiteln flankieren authentische Fälle das eigentliche Thema. Sie stammen aus meiner jahrelangen Berufspraxis und den Medien. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes habe ich überwiegend die Namen geändert.

Dies soll kein juristisches Lehrbuch werden. Deshalb bleibt die Erklärung von rechtlichen Aspekten oberflächlich. Wenn Sie zu der einen oder anderen Rechtsfrage Näheres wissen wollen, empfehle ich Ihnen, zu der zahlreich vorhandenen Fachliteratur zu greifen.

Vorhang auf für den Blick hinter die Kulissen eines Strafgerichts.