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Der ganz normale Wahnsinn des Gerichtsalltags

Lassen Sie uns gemeinsam einen Blick hinter die Kulissen eines Amtsgerichts und auf den Arbeitsalltag eines Strafrichters werfen.

Gerichtsruinen, Verhandlungssäle und Zellen – der Arbeitsplatz Gericht

Vielleicht hat man Sie als Angeklagten oder Zeugen vorgeladen. Oder Sie sind einfach nur neugierig und wollen sich als Zuschauer eine Gerichtsverhandlung ansehen. Wenn Sie Glück haben, ist das Gericht ein Altbau und leicht zu finden, denn es ist durch Säulen und eine Justitia auf den ersten Blick als solches zu erkennen. Viele der älteren Gerichtsgebäude stammen aus dem 19. Jahrhundert. Damals wurde die Justiz als dritte Gewalt im Staate noch wertgeschätzt, und man baute Gerichte bewusst repräsentativ. Sie zeichneten sich neben den typischen an griechische Tempel erinnernden Säulen durch eine Kuppel, dekorative Fassaden und imposante Eingangshallen aus. Wenn man davorstand, wusste man sofort: Dies ist ein Gericht.

Im Dachgeschoss liegt das Gebälk frei, nachdem die Zwischendecke entfernt wurde. Ebenfalls beseitigt wurden Trockenbauwände, mit denen früher das Dachgeschoss in einzelne Räume unterteilt worden war. Nachdem der Fußbodenbelag ebenfalls heruntergenommen wurde, stehe ich auf nacktem Beton. In den Stockwerken darunter wurden die Tapeten und der Putz von den Wänden gekratzt, bis verwitterte rote Ziegel zum Vorschein kamen. Die Zimmertüren wurden ausgehängt. Ein orangefarbener Baustromverteiler steht verloren neben Haufen von Bauschutt. Wo früher Elektroleitungen verliefen, wurden Wände aufgestemmt. Tiefe Krater und Gräben wie nach einem Beschuss sind dadurch entstanden. Es riecht nach Schimmel, es ist kalt und feucht. Was ich hier beschreibe, ist kein Lost Place, sondern der Südflügel des Amtsgerichts Dessau-Roßlau. Am 31. Juli 2019 war es nachts zu einem Wasserrohrbruch im Dachgeschoss gekommen. Millionen Liter Wasser hatten den Südflügel des Gerichts geflutet und unbenutzbar gemacht. Der Ruinenflügel liegt direkt neben meinem Gerichtssaal. Obwohl seitdem schon vier Jahre vergangen sind, wurde mit der Sanierung noch nicht einmal begonnen; außerdem hat das Gebäude Statikprobleme. Für die Gerichtssäle hat die Hausleitung Höchstpersonenzahlen festgelegt, um Einstürze zu verhindern. Wenn eine Schulklasse in meinen Saal im zweiten Stock käme, würden wir uns vielleicht alle im Kellergeschoss wiederfinden. Die Decke im Grundbuchamt wurde mit dicken Balken provisorisch abgestützt. Im Beratungsraum hängen Dutzende Kabel lose aus einem Plastikkabelkanal. Auch die Elektroverkabelung müsste dringend erneuert werden. Es gibt nur noch jeweils eine funktionierende Herren- und Damentoilette im ganzen Haus für 70 Bedienstete und die Besucher.

Wann das Amtsgericht saniert wird, steht in den Sternen. Für eine Sanierung bräuchte man Sachverstand und Geld. Der Justiz fehlt beides. Also verhandele ich seit 2019 – und auf unabsehbare Zeit – in einer Gerichtsruine. An schwachen Tagen kommt mir manchmal der Gedanke, dieses administrative Versagen zum Vorbild für meine Sachbearbeitung zu nehmen. Einfach mal ein paar Jahre gar nicht mehr zu arbeiten und abzuwarten, ob das überhaupt jemandem auffällt. Aber das mache ich natürlich nicht.

Die mangelnde Wertschätzung der Justiz durch die Politik führt dazu, dass erforderliche und bei historischen Bauten teure Sanierungen nicht durchgeführt werden. Ältere Gerichte haben fast immer einen jahrelangen Sanierungsrückstau. Die alten Fenster schließen nicht mehr richtig, Putz fällt von den Wänden, und der Fußboden ist verschlissen.

Die heutigen Gerichtsbauten sind dagegen schmucklose Zweckbauten. Lieblos aus Betonfertigteilen zusammengestückelt, erinnert nichts mehr an ein Gericht. Das Gebäude könnte auch eine Versicherung oder ein Straßenverkehrsamt beherbergen. Nur ein kleines Aluminiumschild kennzeichnet es als Gericht.

Im Eingangsbereich eines Gerichts können Sie auf alles Mögliche stoßen. Auf einen Pförtner, den Sie nach dem Weg fragen können, über Eingangskontrollen durch einen Wachtmeister bis hin zu einer modernen Sicherheitsschleuse. Oder einfach gar nichts – und Sie gehen ungehindert hinein. Das ist bei meinem Gericht zum Beispiel so. Es gibt Direktoren, denen die Sicherheit der Bürger, Richter, Anwälte und Bediensteten am Herzen liegt, und solche, denen das gleichgültig ist.

Sobald Sie das Gericht betreten, steigt Ihnen der penetrante Geruch eines Putzmittels in die Nase. Die Justizverwaltungen glauben, dass der großzügige Einsatz von Putzmitteln der Wahrheitsfindung dient. So nach dem Motto: »Meister Proper putzt so sauber, dass die Wahrheit ans Licht kommt.« Vielleicht soll der Zitrusduft auch einfach nur den Angstschweiß der Angeklagten überdecken.

Wenn Sie mit einem Gericht zu tun haben, wird es meistens das Amtsgericht sein. 98 Prozent aller Strafverfahren beginnen hier. Das Amtsgericht ist das Arbeitspferd der Justiz. Die Amtsgerichte erledigen über 600 000 Strafverfahren pro Jahr. 6 Anders als in den höheren Instanzen ist die Arbeitsbelastung nicht nur eine gefühlte. Ein Strafrichter bearbeitet im Schnitt 600 bis 800 Fälle im Jahr. Er ist der Fließbandarbeiter des Rechts. Das Amtsgericht ist zuständig für Freiheitsstrafen bis zu vier Jahren. Die Kapitalverbrechen, also Mord und Totschlag, gehören dagegen vor das Landgericht. Die sogenannten »nassen Sachen« sind anders als im Fernsehkrimi aber nur statistische Ausnahmen. Den 600 000 Verfahren der Amtsgerichte stehen gerade einmal 10 000 erstinstanzliche Strafverfahren vor dem Landgericht gegenüber. Allerdings beginnen auch diese Fälle im Amtsgericht, denn dessen Ermittlungsrichter ordnet Durchsuchungen an und erlässt Haftbefehle, lange bevor Anklage vom Landgericht erhoben wird.

Im Eingangsbereich des Gerichts und vor den einzelnen Sälen hängen Terminrollen bzw. deren digitales Äquivalent aus. Sie vermitteln Ihnen einen Eindruck von der Arbeitsbelastung eines Richters. Nicht selten stehen auf dem Tagesplan eines Strafrichters acht bis zehn Verhandlungen. Er fällt Urteile im 30-Minuten-Takt. Wenn Sie geladen worden sind, steht Ihr Name auf dem Aushang. Es ist natürlich besser, wenn Sie Zeuge und kein Angeklagter sind.

Es ist schon eine Herausforderung, den richtigen Saal zu finden, denn Gerichtsgebäude bestehen wie in Franz Kafkas »Der Process« aus einem weitverzweigten Gewirr verwinkelter Gänge und unübersichtlicher Räume. In den Fluren eines Gerichts geht es morgens wie auf dem Hauptbahnhof zu. Es ist immer fünf vor zwölf, also fünf Minuten vor Prozessbeginn. Richter eilen mit dicken roten Aktenstapeln unter dem Arm zu ihren Sälen. Vor diesen stehen Rechtsanwälte und norden ihre Mandanten ein. Die Angeklagten hängen nervös an den Lippen ihrer Verteidiger. Auf den Holzbänken vor den Sälen sitzen schlecht gelaunt die Zeugen, darunter meist mehrere Polizisten. Sie ahnen, dass sie möglicherweise den ganzen Vormittag wartend in dem deprimierenden Ambiente ausharren müssen. Es gibt sogar Lautsprecherdurchsagen wie auf dem Bahnhof. Früher war es die Aufgabe der Justizwachtmeister, die Sache aufzurufen; heute muss der Richter das über eine Lautsprecheranlage selbst machen.

Der Gerichtssaal ist der Operationssaal der Gerechtigkeit. Eigentlich verdient er die Bezeichnung »Saal« gar nicht, denn er hat eher die Größe eines Wohnzimmers als die eines Saals. Am Kopfende sitzt das Gericht. In älteren Sälen auf einem erhöhten Richtertresen, in modernen ebenerdig an einem Resopaltisch. Neben den Richtern ist der Platz der Protokollführerin. An der Fensterseite sitzt der Staatsanwalt. Dies soll eine Flucht des Angeklagten durch das Fenster verhindern. Eine andere Begründung lautet, wenn das Licht durch das Fenster auf das Gesicht des Angeklagten fällt, könne man sehen, ob er lügt oder nicht. An der Seite der Eingangstür sitzen der Angeklagte und gegebenenfalls sein Verteidiger. In der Mitte dieses U steht der heiße Stuhl des Zeugen. Gegenüber der Richterbank ist der Zuschauerbereich. In den Gerichtsshows stets auf den letzten Platz besetzt, herrscht dort in der Realität meistens gähnende Leere. In den älteren Sälen sind die Wände holzgetäfelt, in den neueren muss Raufaser weiß reichen. Das harmoniert auch besser mit dem grauen Linoleumboden. Ein moderner Gerichtssaal in einem Amtsgericht unterscheidet sich durch nichts von einem Seminarraum in der Volkshochschule.

Hinter dem Richterpult führt eine Tür in das streng geheime Beratungszimmer. Ein kleiner Raum, in dem nur ein Tisch mit ein paar Stühlen steht. Dorthin zieht sich das Gericht zur Urteilsberatung zurück. Dort werden auch die berüchtigten »Deals« gemacht. Der Richter bittet Staatsanwalt und Verteidiger zum »Rechtsgespräch«, was vornehm eine Absprache im Hinterzimmer umschreibt. Die eigentlichen Entscheidungen werden hier unter Ausschluss der Öffentlichkeit und nicht im Gerichtssaal getroffen. Ich komme später auf dieses Thema zurück.

Meist im Keller sind die Gewahrsamszellen. Dort warten die Untersuchungshäftlinge auf ihren Prozess und während Verhandlungspausen. Sie sind oft nur zwei Quadratmeter groß und mit einer Sitzbank ausgestattet. An ihren Wänden finden sich die Kritzeleien von Generationen Angeklagter.

Vielleicht haben Sie sich schon mal gefragt, wie das Allerheiligste, das Richterzimmer, aussieht. Ich hatte es mir immer wie in den Werken von John Grisham vorgestellt. In einem Vorzimmer wacht die persönliche Sekretärin und schützt den Richter vor ungebetenen Besuchern. Zu seinem Dienstzimmer geht es durch eine dicke gepolsterte Tür. Es ist holzvertäfelt, vor alten Büchern in der Regalwand steht ein massiver Schreibtisch auf Teppichen. An den Wänden hängen Ölgemälde, auf dem Schreibtisch steht eine Justitia-Bronze. Die Ausstattung entspricht der Würde des Richteramtes.

In der Realität deutscher Gerichte gibt es kein Vorzimmer. Die Richterzimmer haben die Größe von Kinderzimmern. Ihre Einrichtung ist karg und desillusionierend. Die Wände sind raufaserweiß oder waren es zumindest beim letzten Anstrich vor 25 Jahren. Der Boden ist mit grauem Nadelfilz ausgelegt. Es gibt einen Bürostuhl und wenige Furniermöbel in Vorruhestandsgrau. Eine Handvoll vergilbter Fachbücher drängt sich neben verschlissenen Aktenordnern im Regal. Auf dem Schreibtisch steht ein mindestens zehn Jahre alter Computer. Das einzig Farbige in diesem deprimierenden Grau-in-Grau-Ambiente sind die roten Strafakten, die überall herumliegen, auf dem Schreibtisch, in den Regalen, auf dem Fensterbrett, und manchmal stapeln sie sich sogar auf dem Boden.

Das Sekretariat des Richters nennt sich Geschäftsstelle. Sie ist an den langen und mit Akten vollgestopften Regalen zu erkennen. Die Regale biegen sich unter der Last der Papierstapel. Meist weibliche Justizangestellte versuchen hier, des Aktenchaos Herr zu werden.

Arbeitsalltag eines Strafrichters

Als ich ein reines Strafdezernat hatte, sah ein normaler Arbeitstag so aus: Ich fing regelmäßig frühmorgens, das heißt vor sieben Uhr, an. Ich liebe die Ruhe der frühen Stunde, in der ich mich schwierigen Fällen widmen kann. Später wird die Konzentration häufig durch Besucher und Telefonanrufe gestört.

Heute ist ein Sitzungstag. Meine Geschäftsstelle bringt mir die während der Nacht eingegangenen Faxe bzw. deren elektronische Äquivalente. Ein Anwalt meldet seinen Mandanten krank, ein anderer schickt eine seitenlange Einlassung, und ein dritter beantragt ein Sachverständigengutachten. Ich hebe schnell den Termin des erkrankten Angeklagten auf. Die Schreiben mit der Einlassung und dem Gutachtenantrag sind ärgerlich, weil sie schon vor Monaten hätten geschickt werden können. Vorbringen in letzter Minute führt regelmäßig dazu, dass die Verhandlung vertagt werden muss oder platzt.

Inzwischen hat der Wachtmeister einen neuen Festmeter roter Akten in mein Büro geschleppt. Ich flöhe den Eingang kurz durch. Eilsachen werden durch eine Rothülle gekennzeichnet, was bei ebenfalls roten Strafakten nur begrenzt sinnvoll ist. Ich erledige ein paar eilige Sachen. Dann gehe ich den Stapel mit den heutigen Terminakten noch mal durch.

Ein Rechtsanwalt schaut herein und will nach kurzem Small Talk wissen, ob es heute für seinen Mandanten noch einmal Bewährung geben kann. Das wird die Verhandlung zeigen, antworte ich ihm.

Schließlich ist es so weit. Ich binde mir eine weiße Fliege um, werfe mir die schwarze Robe über, schnappe mir den Aktenstapel und eile zum Saal.

Ich habe am Vormittag sechs Strafrichtersachen im Halbstundentakt terminiert. Eine ist wegen des kranken Angeklagten schon weggefallen. Eine halbe Stunde pro Fall ist eigentlich zu knapp kalkuliert, aber es fallen immer wieder Verhandlungen aus, weil der Angeklagte nicht erscheint. Oder die Verhandlung ist wegen eines Geständnisses schon nach ein paar Minuten zu Ende. Es sind ein Diebstahl, eine Trunkenheitsfahrt, eine Körperverletzung, eine Unfallflucht und ein Leistungsbetrug zu verhandeln. So arbeite ich mich den Vormittag über querbeet durch das Strafgesetzbuch. Ein Angeklagter kommt nicht, ein anderer gesteht, sodass ich die fünf Fälle bis zur Mittagspause erledigen kann.

Dann kehre ich in mein Büro zurück. Der Gedanke an ein Mittagessen hat sich erledigt, als ich Ermittlungsrichterakten auf meinem Schreibtisch liegen sehe. Die Staatsanwaltschaft will gegen eine Drogendealerbande vorgehen und wünscht richterliche Genehmigungen für Durchsuchungen, Observationen und Telefonabhörungen. Am liebsten gestern natürlich. Damit verbringe ich meine Mittagspause.

Nachmittags steht eine Schöffenverhandlung an. Ich hoffe, niemand der Anwesenden hört mein Magenknurren. Die Buchhalterin eines Autohauses hatte Firmengelder veruntreut. Sie hatte Scheinrechnungen über Fahrzeugaufbereitungen und Zulassungsdienste erstellt und die Beträge an sich selbst ausgezahlt. Die Schadenshöhe betrug insgesamt 25 000 Euro. Die Beweise für jede einzelne ihrer über 350 Taten schlummern in einem Umzugskarton. Zunächst bestritt die Angeklagte alles. Es lief auf einen längeren Prozess hinaus, in dem wir über jeden einzelnen der 350 Fälle Beweis erheben müssten. Nach längerem Hin und Her und mehreren Beratungspausen mit ihrem Verteidiger räumte sie die Taten schließlich doch ein. Sie wurde zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.

Am späten Nachmittag hänge ich die Robe wieder in den Kleiderschrank. Der Festmeter roter Akten vom Morgen harrt im Eingangsfach immer noch der Bearbeitung. Es ist schon dunkel, bis ich fertig bin und gehen kann.

Gerechtigkeit minutengenau getaktet

Eine Geschäftsstellenkraft bringt mir zwei Akten mit einem Haftantrag der Staatsanwaltschaft. Sobald ich sie aufschlage, beginnt die mentale Stoppuhr zu laufen. Die dickere der beiden Akten berichtete von den Ermittlungen gegen einen bekannten Drogenhändler. Sie führten zu einem Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts gegen ihn. Während die Polizei die Wohnung durchsuchte, klopfte jemand an die Tür. Ein Polizist öffnete sie und ließ Nasir K. herein. Er hielt eine Plastiktüte in der Hand. In ihr befanden sich 500 Gramm Cannabis und 100 Gramm Kokain. Damit hatte die Polizei durch Zufall auch herausgefunden, wer der Lieferant des Drogenhändlers war. Mit dieser Erkenntnis wurde der Besucher zum Beschuldigten, wovon die zweite, dünnere Akte handelte. Sie enthielt einen Bericht über die Durchsuchung mit dem überraschenden Erscheinen von Nasir K. Zusätzlich war noch der Pkw von Nasir K. vor der Tür durchsucht worden, ohne weitere Drogen zu finden. Im Polizeirevier waren die Betäubungsmittel gewogen und getestet worden. Es war eine Beschuldigtenvernehmung versucht worden, doch Nasir K. hatte die Aussage verweigert. Eine Rückfrage beim Ausländeramt hatte ergeben, dass Nasir K. seit längerer Zeit abgängig war. An dem ihm zugewiesenen Platz in der Asylunterkunft hielt er sich nicht auf, also bestand Fluchtgefahr. Anschließend waren die Akten der Staatsanwaltschaft vorgelegt worden, die Untersuchungshaft beantragte. Ich überlegte kurz, was ich für die Anhörung benötigte, also einen Pflichtverteidiger und sicherheitshalber einen Dolmetscher. Telefonisch teilte ich der Geschäftsstelle das sowie die Uhrzeit mit.

Die Haftsache hatte mich bis hierher 40 Minuten beschäftigt, ich hatte die mir zugebilligte Zeit damit bereits um fünf Minuten überschritten. Eine Ermittlungssache soll maximal 35 Minuten dauern.

Eine Stunde später fand die Anhörung des Beschuldigten statt. Er ließ sich ein, er sei nur der Bote gewesen. Ein Mann am Hauptbahnhof habe ihm 50 Euro dafür gegeben, dass er den Beutel zu der Wohnung bringt. Er kenne weder den Namen des Mannes, noch könne er ihn beschreiben. Er habe auch nicht gewusst, dass sich in der Tüte Drogen befunden haben, denn er habe nicht hineingeschaut. Diese Märchenstunde hat auch wegen der Übersetzung weitere 40 Minuten gedauert.

Ich schicke den Beschuldigten, seinen Anwalt, den Dolmetscher und die beiden Wachtmeister hinaus. Sodann diktiere ich der neben mir sitzenden Protokollantin den Haftbefehl und das Aufnahmeersuchen für die Justizvollzugsanstalt. Das dauert weitere 20 Minuten. Nachdem das erledigt ist, werden alle wieder in den Saal gebeten. Ich verkünde den Haftbefehl und erteile die Rechtsmittelbelehrung. Als Letztes verteile ich Abschriften des Protokolls, des Haftbefehls und des Aufnahmeersuchens. Dieser letzte Teil der Haftsache dauert 15 Minuten.

Obwohl ich zügig gearbeitet habe, hat mich die Haftsache insgesamt 115 Minuten gekostet. Ich habe das mir zugebilligte Zeitbudget um 80 Minuten überschritten.

Die Justizverwaltung gibt den Richtern minutengenaue Bearbeitungszeiten für die Erledigung der Fälle vor. Das Instrument dafür heißt PEBB§Y (Personalbedarfsberechnungssystem). Fälle werden darin als Produkte bezeichnet. Ausgedacht hat es sich eine Wirtschaftsberatungsgesellschaft. Mit ihm sollen die Richter auf Effizienz getrimmt werden. So sehen etwa die Zeitvorgaben für Strafsachen am Amtsgericht aus: 7

Die Zeitvorgaben umfassen alles, vom ersten Aufschlagen der Akte über die Vorbereitung und Durchführung einer Hauptverhandlung bis hin zum Absetzen und Unterschreiben des Urteils. Die Richter sind sich darin einig, dass die Minutenwerte unrealistisch und unseriös sind. Aus den Minutenwerten errechnet die Verwaltung das Erledigungspensum, das heißt, wie viele Fälle ein Richter im Monat schaffen muss. Für einen Strafrichter am Amtsgericht wären das etwa 60 Fälle im Monat. Richter, die ihr Erledigungspensum nicht schaffen, drohen Disziplinarverfahren, Geldbußen und Gehaltskürzungen. Die Gefahr, dass bei der Fließbandarbeit die Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben kann, liegt auf der Hand. Denn wer die Minutenwerte einhält, kann nicht gründlich und sorgfältig arbeiten.

Image Regel Nr. 2: Richter sollen schnell und oberflächlich und nicht langsam und gründlich arbeiten.

Wandernde Aktenberge

Wenn Sie sich die Arbeitsabläufe eines Gerichts anschauen, werden Sie sich wie ein Zeitreisender fühlen, der zurück ins 19. Jahrhundert katapultiert wurde. Akten und Schriftstücke bekommen in der Wachtmeisterei zunächst einen Eingangsstempel. Dann werden sie in die Fächer für die verschiedenen Abteilungen sortiert. Wachtmeister laden sie anschließend auf Karren und bringen sie zu den Geschäftsstellen. Wenn es ein Symbol für die Rückständigkeit der Justiz gibt, dann den Wachtmeister, der einen voll beladenen Aktenkarren mit quietschenden Rädern langsam über den Gerichtsflur schiebt. Das Bild macht deutlich, die Justiz gleicht einer rheumatischen Schnecke und nicht einem modernen Dienstleistungsbetrieb. In der Geschäftsstelle werden die Eingänge nach Postbeamtenart weiter bearbeitet. Neue Akten werden mit einem Aktenzeichen versehen und dem dadurch zuständig gewordenen Richter ins Fach gelegt. Schriftstücke zu bereits bestehenden Akten werden einsortiert und die Seiten handschriftlich nummeriert. Von der Geschäftsstelle wird die Akte wieder mit dem Karren zum Richter transportiert. Wenn der Richter in der Akte etwas verfügt hat, wird die Akte später wieder zur Geschäftsstelle gebracht. Von dort aus zur Kanzlei, die beispielsweise ein Urteil oder einen Beschluss schreibt. Von der Kanzlei geht es mit dem Karren wieder zur Geschäftsstelle, die sie zur Unterschrift an den Richter weiterleitet. Einen Großteil ihres Lebens wird eine Akte auf Karren hin- und hergeschoben. Eine Anwaltskanzlei wäre bei dieser musealen Ausstattung und verstaubten Arbeitsweise längst in Insolvenz gegangen.

Wie schwierig in der Justiz alles sein kann, will ich Ihnen an einem Beispiel erläutern. Wegen des Wasserrohrbruchs wurde mein Dienstzimmer ins benachbarte Landgericht verlegt. Die beiden Gebäude liegen 20 Meter auseinander, nur durch eine kleine Seitenstraße getrennt. Die Wachtmeister des Amtsgerichts stehen sämtlich unter Artenschutz und können die Akten nicht hinübertragen. Für einen Bewegungsallergiker ist das in etwa so, als verlange man von ihm die Reise zu Fuß in ein anderes Bundesland. Also wurde der Transport den Wachtmeistern des Landgerichts übertragen. Sie benutzen für die Distanz von 20 Metern einen Audi A6. Regelmäßig bekomme ich E-Mails, dass heute keine Akten transportiert werden können, weil der Dienstwagen nicht zur Verfügung, etwa weil er anderweitig benötigt wird, oder er in der Werkstatt ist. Dann gibt es an diesem Tag eben keine Akten, außer ich hole sie mir selbst. Und ein Richter kann, was für einen jungen, kräftigen Wachtmeister unmöglich ist: Akten über große Distanzen, sogar über 20 Meter, tragen. Der Leiter der Abteilung für Behinderung der Justiz kommentiert das dann so: »Aktentragen erspart das Fitnessstudio«.

Am Amtsgericht Dessau-Roßlau türmen sich die Akten einschließlich der archivierten bis zur Decke. Es sind bereits Bedenken um die Statik des Gebäudes aufgetreten. Neidvoll höre ich manchmal von Rechtsanwälten, die ihre Kanzlei voll digitalisiert haben. Sie schildern eine erhebliche Arbeitserleichterung nicht nur für sich, sondern auch für ihre Mitarbeiter. Und der Mandant bekommt die neuesten Schriftsätze binnen Sekunden per E-Mail.

Auch in der antiken Justiz soll die elektronische Akte spätestens zum 1. Januar 2026 eingeführt werden. An meinem Gericht ist davon noch nichts zu spüren. Ich bezweifle, ob die e-Akte wirklich zu diesem Termin kommen wird. Denn bevor die e-Akte die erhofften Einsparungen bringt, muss erst einmal kräftig in sie investiert werden. Es müssen Hard- und Software, Breitbandanschlüsse und Videotechnik für Online-Verhandlungen angeschafft, IT-Spezialisten angestellt und die Mitarbeiter in der neuen Technik geschult werden. Da kommen schnell Millionenbeträge zusammen, die der Justiz nicht zur Verfügung stehen. Eine Digitalisierung zum Nulltarif wird aber nicht funktionieren. Im Übrigen dauert in der Justiz ohnehin alles etwas länger als anderswo. Bis die elektronische Akte kommt, bin ich längst im Ruhestand.

Fehlende oder mäßig fleißige Mitarbeiter

Die richterliche Freiheit findet ihre Grenzen in den Mitarbeitern. Der Richter arbeitet nicht im luftleeren Raum, er ist angewiesen auf Geschäftsstellen- und Kanzleikräfte, Protokollführer und Rechtspfleger. Die Personaldecke in den Gerichten ist ultradünn. Selbst absehbare Ausfälle, wie Urlaube, Fortbildungen und Krankheiten, können nicht kompensiert werden. Die Arbeit bleibt dann einfach liegen. Es ist ärgerlich, wenn ich als Richter dem Anwalt vier Wochen vor einem Termin einen Brief schreibe, den dieser erst zwei Wochen nach dem Termin erhält.

Manche Mitarbeiter scheinen auch innerlich gekündigt zu haben. Sie arbeiten auffällig langsam oder auch gar nicht mehr. Als Richter habe ich ihnen gegenüber kein Weisungsrecht, die Verwaltung kümmern solche Probleme nicht. So bleiben Akten manchmal wochenlang unbearbeitet liegen.

Die Arbeitszeiten der Mitarbeiter sind zu beachten. Man macht sich mit Anliegen vor 9.00 Uhr unbeliebt, denn da ist Frühstückszeit. Ein Richter sollte auch nicht über 12.00 Uhr hinaus verhandeln, denn von 12.00 Uhr bis 13.00 Uhr ist Mittagspause. Nach dem Mittagessen sind viele Mitarbeiter schläfrig. Ab 15.30 Uhr ist dann Feierabend. Es könnte sogar einen Revisionsgrund darstellen, wenn man weiter verhandelt, obwohl die Wachtmeister das Gericht bereits abgeschlossen haben, denn dann wäre die Öffentlichkeit nicht gewahrt.

Gerichtsbürokratie

Die Justizverwaltung teilt das Schicksal aller Verwaltungen überall auf der Welt. Sie ist im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt und vollkommen nutzlos. Die Verwaltung widmet sich im Kern drei Dingen:

Es werden umfangreiche Statistiken geführt, zum Beispiel über den Aktenbestand, die Erledigungszahlen und die Kosten. Als ob sich die Herstellung von Gerechtigkeit in Excel-Tabellen ausdrücken ließe.

Einen weiteren Teil der Arbeit machen Berichte »nach oben« aus. Seitenlang wird den übergeordneten Gerichten bis hin zum Ministerium berichtet, dass die Welt an dem Amts- oder Landgericht in Ordnung ist. Stets hat der Direktor oder Präsident die Lage voll im Griff. Gerade auch dann, wenn dies tatsächlich nicht der Fall ist.

Den größten Teil der Arbeit nimmt schließlich das Abwimmeln der eigenen Belegschaft ein. Ständig kommen Mitarbeiter mit irgendeinem Anliegen. Ein Richter wünscht sich neue Fachbücher, seine vorhandenen sind veraltet. Eine Geschäftsstellenkraft beklagt, dass sie seit Monaten neben ihrer normalen Arbeit zusätzlich eine dauerkranke Kollegin vertritt und sie langsam nicht mehr doppelt arbeiten kann. Ein Rechtspfleger hat Rückenprobleme und legt ein Attest für einen höhenverstellbaren Schreibtisch vor. Sie werden alle mit Schlagworten wie »Justiz ist Mangelverwaltung«, »Da kann ich nichts machen« oder »Kümmern Sie sich selbst« wieder weggeschickt. Ein beliebter Spruch meiner Hausleitung ist »Das kann die Verwaltung nicht auch noch leisten«. Gemessen an ihren Arbeitsergebnissen leistet sie eigentlich gar nichts, scheint damit aber zufrieden zu sein.

Hinter klangvollen Bezeichnungen wie »Direktor des Amtsgerichts« und »Präsident des Landgerichts« verbergen sich blasse Bürokraten, die nicht einmal den Sinn ihrer Tätigkeit verstanden haben. Nach Artikel 92 des Grundgesetzes ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut. Das Gericht mit seinen Mitarbeitern hat den einzigen Zweck, den Richtern ihre Rechtsprechung zu ermöglichen. Aufgabe der Hausleitung wäre es, den Richtern die bestmöglichen Arbeitsbedingungen zu verschaffen und sie nach Kräften bei ihrer Rechtsprechung zu unterstützen. Stattdessen werden Richter als Bittsteller und Störenfriede behandelt. Anliegen aller Art werden regelmäßig abgeschmettert. Richter werden als Arbeitsverursacher möglichst schnell abgewimmelt. Ich habe mir inzwischen abgewöhnt, überhaupt noch zu fragen.

Was im Gericht alles schiefgehen kann

Der Klassiker ist die nicht ausgeführte Verfügung. Ein Anwalt beantragt vor der Verhandlung Akteneinsicht, und ich bewillige sie. Sie wird von der Geschäftsstelle aber nicht ausgeführt. In der Verhandlung beschwert sich der Verteidiger über die nicht gewährte Akteneinsicht. Er sehe sich auch nicht in der Lage, die dicke Akte jetzt zu lesen. Der Prozess ist damit geplatzt.

Eine Unsitte ist die unerledigte Wiedervorlage bei Sachstandsanfragen. Der Verteidiger hat irgendeinen Antrag gestellt, den ich durch Beschluss beschieden habe. Doch der Beschluss wird nicht geschrieben und an ihn herausgeschickt. Meine Verfügung schlummert unerledigt in der Akte. Ein paar Wochen später fragt der Anwalt nach dem Sachstand, und die Akte wird mir vorgelegt. Was soll ich dem Anwalt schreiben? Dass ich den Beschluss bereits vor Wochen abgesetzt habe, er aber nicht geschrieben wurde? Soll ich die Geschäftsstelle auf das Offensichtliche hinweisen, nämlich dass es eine gute Idee wäre, den vor Wochen erlassenen Beschluss wenigstens jetzt schnell zu schreiben und rauszuschicken?

Manchmal bereitet schon die Terminierung Probleme. Es fehlt an einem freien Gerichtssaal oder an Wachtmeistern, um Gefangene vorzuführen. Ich musste bereits terminierte Sitzungen aufheben, weil es an Wachtmeistern fehlte.

Ein weiterer Grund für Justizpannen sind Kommunikationsmängel zwischen den Strafverfolgungsbehörden.

Marcel Nowak ist wegen schweren Raubes angeklagt. Er soll einer jungen Frau unter Einsatz von Pfefferspray ihr hochwertiges Smartphone geraubt haben. Zur Verhandlung erscheint er nicht. Also schicke ich einen Streifenwagen zu seiner Adresse, um ihn vorführen zu lassen. Der Angeklagte wohnt noch bei seiner Mutter. 40 Minuten später kommt die Rückmeldung von der Polizei: Der Gesuchte sei nicht angetroffen worden. Nach Angabe der Mutter würde er seit einem Monat in der Justizvollzugsanstalt Halle einsitzen. Ein Anruf von mir dort bestätigt das.

Die Staatsanwaltschaft ist nicht nur Ermittlungs-, sondern auch Vollstreckungsbehörde. Sie führt auch ein Verfahrensregister für alle Beschuldigten. Irgendjemandem in dieser Behörde hätte auffallen müssen, dass aufgrund ihrer Anklage ein Hauptverhandlungstermin ansteht und dass sie den Angeklagten gleichzeitig in anderer Sache in der Justizvollzugsanstalt weggesperrt hat. Dann hätte sie mir das mitteilen müssen, damit ich rechtzeitig die Vorführung des Angeklagten aus der Justizvollzugsanstalt anordnen kann. So hat der Angeklagte seine Verhandlung verpasst und konnte nicht einmal etwas dafür. Die Hauptverhandlung ist damit geplatzt.

Immer wieder verschwinden Schriftstücke oder werden zu spät vorgelegt. Vom Eingang bei Gericht bis zur Vorlage beim Richter können durchaus mehrere Tage vergehen. Daran ändert sich auch nichts, wenn Anwälte oben fett »Eilt! Richter sofort auf den Tisch legen!« schreiben. In Verhandlungen können unangenehme Situationen entstehen, wenn Anwälte wissen wollen, wie das Gericht über ihren Antrag entschieden hat, ich diesen aber noch nicht kenne.

Die Steigerung ist die verschwundene Akte. Gar nicht so selten gerät eine Akte »außer Kontrolle«, das heißt, sie ist unauffindbar. Fehlende Akten werden insbesondere kurz vor Hauptverhandlungen zum Problem. Ohne Akte lässt sich schlecht verhandeln. Hektische Suchkommandos schwärmen im Gericht aus, um sie zu finden. Im günstigen Fall wurde sie nur »verfächert«, also irgendwo falsch einsortiert. Sie taucht dann irgendwann wieder auf. Im ungünstigen Fall bleibt die Akte dauerhaft verschollen. Dann muss sie mithilfe anderer Stellen rekonstruiert werden. Ein mühsames Unterfangen, das oft nicht wieder zu einer vollständigen Akte führt.

Dennis Eckert hatte zusammen mit einem bisher nicht ermittelten Mittäter einen schlafenden obdachlosen Mann zusammengeschlagen und lebensgefährlich verletzt. Ohne ersichtlichen Grund, einfach nur, um ihre Aggressionen an einem Wehrlosen auszuleben. Auf Eckert war die Polizei nach Sichtung der Videos einer Überwachungskamera am Bahnhof gekommen. Er war wegen Gewaltdelikten vorbestraft und stand unter Bewährung. Einen Tag nach der Tat wurde er festgenommen. Der Bereitschaftsrichter erließ sonntags einen Haftbefehl.

Ein paar Tage später beantragte der Verteidiger von Dennis Eckert eine Haftprüfung sowie Akteneinsicht. Die Haftprüfung hat innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrags stattzufinden. Ich vereinbarte mit der Kanzlei einen Termin am letzten Tag der Frist, vorher hatte der Verteidiger keine Zeit. Ich schickte der Staatsanwaltschaft die Terminnachricht und bat um rechtzeitige Übersendung der Akte.

Zur mündlichen Verhandlung erschien vorgeführt der Beschuldigte in Begleitung seines Verteidigers. Von der Staatsanwaltschaft kam niemand, sie hatte auch die Akte nicht geschickt. Der Verteidiger fing sogleich an sich aufzuregen. Es sei rechtsstaatwidrig und skandalös, dass ihm bis zu der Verhandlung keine Akteneinsicht gewährt worden war.

Ich unterbrach die Verhandlung und rief die Staatsanwältin an. Erst bestritt sie, dass ich die Akte angefordert hätte. Doch, habe ich, sagte ich ihr; ich hatte meine Verfügung vor mir liegen, und die Staatsanwaltschaft hatte die Anforderung ausweislich des Fax-Sendeprotokolls auch erhalten. Außerdem hatte ich der Staatsanwaltschaft zusätzlich den Haftprüfungsantrag des Verteidigers geschickt, in dem er fett gedruckt Akteneinsicht beantragt hat. Sie hätte die Akte jedenfalls nicht, antwortete sie mit genervtem Unterton. Die Staatsanwaltschaft ist nicht nur die Herrin des Ermittlungsverfahrens, sondern auch die aktenführende Stelle aller Strafakten. Die Staatsanwaltschaft sollte doch wissen, wo sich ihre Akte befindet, zumal in einer Haftsache, hielt ich ihr entgegen. Außerdem wäre es Aufgabe der Staatsanwaltschaft gewesen, die Akte rechtzeitig vor dem Haftprüfungstermin vorzulegen. Nun vermutete sie, die Akte müsse sich zu weiteren Ermittlungen bei der Polizei befinden. Genaueres könne sie nicht angeben. Ich könne mich dorthin wenden.

Sodann begab ich mich zurück in den Haftprüfungsraum. Der Beschuldigte hat ein Recht auf Entscheidung über seinen Haftprüfungsantrag innerhalb von zwei Wochen. Sie war unaufschiebbar, und ich konnte auch keine Suche nach der Akte bei der Polizei abwarten. Ich kannte den Fall bisher nicht. Auf welcher Grundlage sollte ich ohne Akte entscheiden? Obwohl ich Eckert für gewalttätig hielt und weitere erhebliche Straftaten von ihm zu erwarten waren, musste ich zähneknirschend den Haftbefehl aufheben. »Na Alter, beim nächsten Mal musst du eine Akte haben und dich besser vorbereiten«, feixte Dennis Eckert beim Rausgehen in die Freiheit.

Wie geht der Richter damit um, wenn es in Justitias Mühlen knirscht? Er versucht zu retten, was zu retten ist. Tatsächlich schreiben viele Richter ihre Urteile und Beschlüsse selbst. Sie sind sich auch nicht zu fein, um ihre Akten selbst aus der Geschäftsstelle zu holen und später wieder dahinzutragen. Klassische Sekretariatsarbeiten wie telefonieren, Fotokopien machen und Faxe verschicken übernehmen Richter ebenfalls selbst. Wenn die Tische und Stühle im Saal nicht richtig stehen, packen sie selbst mit an. Außerdem sind sie Hilfstechniker, die störrische Computer zum Laufen bringen.